Gedanken über Gier, Gemeinschaft und Gedöns
Wembley 2024 war das richtige Spiel mit dem falschen Ausgang. Fußball ist eben doch nicht immer ein doofer Ergebnissport. Es lebe die Meta-Ebene! Auch mit ein paar Tagen Abstand bleiben Gefühle wie Stolz, Hoffnung und Zuversicht. Eine Gedankensammlung.
Ich gebe zu, dass ich nicht damit gerechnet hätte, nach einem verlorenen Finale so positiv gestimmt zu sein. Ich glaube, das gab es seit 2008 nicht mehr, als Mladen Petric‘ Lastminute-Ausgleich im Finale gegen die Bayern ungeahnte Glücksgefühle ausgelöst und den Ausgang des Spiels mehr oder weniger uninteressant gemacht hatte. Die Gemeinsamkeit: Wir waren Außenseiter. Überhaupt in Wembley sein zu dürfen, war am Ende dieser verrückten Saison schon Triumph genug.
In mir löst Wembley 2024 viele positive Dinge aus. So richtig ordnen kann ich die nicht. Ich bin mit dem Finale aber total im Reinen. Das passiert selten. Vielleicht bin ich gerade deswegen so durcheinander. Nach einem Sieg läge ich wahrscheinlich jetzt noch im emotionalen Koma. Aber jetzt? Ich muss mal meine Gedanken ordnen.
Abschlussfahrten
Von Freitagabend bis Sonntagnachmittag von lauter lieben schwatzgelben Menschen umgeben zu sein, noch dazu mit Frau, Kindern, Freundinnen und Freunden den BVB feiern — was will man mehr? Alles daran war gut. So gut, dass ich mir zwischendurch gewünscht habe, der BVB würde einfach am Ende jeder Saison eine Abschlussfahrt in irgendeine europäische Metropole organisieren. Wer braucht dazu ein Finale mit viel zu teuren Tickets und am Ende noch — Gott bewahre! — die Bayern als Gegner, wenn man sich gemütlich mit 50.000 BVB-Fans in Mailand oder sonst wo treffen und sich selbst feiern kann?
Ist natürlich Käse. Was ich wirklich sagen will: Jenseits des sportlichen Werts ist so ein Finale ein wunderbares Familientreffen mit viel Abenteuer, Reise, Strapazen, Feierei und dem, was wohl das altmodische Wort „Ausgelassenheit“ meint. Nach dem Final-Overkill in den 2010er Jahren tat es richtig gut, so etwas nach einer angemessen langen Pause wieder zu erleben.
Stolz
Was habe ich am Ende der letzten Saison auf die Truppe eingeprügelt. Meine allmähliche Wandlung habe ich neulich schon thematisiert. Und jetzt? Stolz bin ich. Stolz auf die Mannschaft, die in Wembley einen Riesenschritt zum Erwachsenwerden gemacht hat.
Stolz auf die Fans, die in Wembley mindestens so stark waren wie die Mannschaft. 25.000 im Stadion, mindestens noch mal so viele in London, zigtausend in Dortmund… Das ist eine perfekte Basis, um in der nächsten Saison das Westfalenstadion wieder in eine echte Hölle zu verwandeln. Allein dieser gigantische „BVB!“-Wechselgesang um die 60. Minute herum hat in so vielen Fans etwas ausgelöst. Selbst als ich mir das Spiel noch einmal aus der Konserve angesehen habe, habe ich wieder Gänsehaut bekommen, als der Ton etwas zerrte, weil die Mikros wohl ganz kurz überfordert waren. Das war so laut, so intensiv. Wembley 2024 hat mir endlich einmal wieder vor Augen geführt, wie dankbar ich sein muss, Fan dieses Vereins zu sein. Und dass meine beiden Kinder dieses Spiel miterleben durften, war das I-Tüpfelchen.
Egal ist nicht gleich Egal
Nach der selbstverschuldet verpassten Meisterschaft habe ich vor fataler „Scheißegalheit“ gewarnt und tue dies immer noch. Nach Wembley ist das Ergebnis zwar auch irgendwie egal, aber auch nur, weil erkennbar war, dass es niemandem scheißegal war, und weil natürlich jeder viel lieber den Henkelpott in Dortmund gesehen hätte als jetzt stolz auf eine Mannschaft zu sein, die ihn nicht hat. Nein, egal — und ganz bestimmt ist „egal“ das falsche Wort — ist die Niederlage insofern, als dass man einfach anerkennen muss, dass hier eine Mannschaft, die über lange, lange Zeit besser war als die Summe ihrer Einzelspieler, gegen eine Mannschaft verloren hat, die so gut ist, dass sie es sich erlauben kann, schlechter zu sein als die Summe ihrer Einzelspieler.
Will sagen: Nach so einer Leistung kann man trotz der Niederlage stolz sein, wie ein Stabhochspringer, der zwar die sechs Meter überspringt, aber das Pech hat, mit Armand Duplantis im selben Wettkampf zu sein. Das Ergebnis ist ein bisschen egal, weil die eigene Leistung gestimmt hat.
Gier
Ich will das nochmal! Und ich bin überzeugt, dass dieses Finale nicht nur bei mir, sondern bei allen Fans, die London erleben durften, und — und das ist das Wichtigste — auch bei der Mannschaft Gier auf mehr geweckt hat. Natürlich, man kann sich als Fußball-Fan total und als Spieler bestimmt auch zum Teil an sich selbst und den Umständen besaufen, aber irgendwann muss man auch mal wieder etwas zum Anfassen gewinnen. Wenn wir Wembley als etwas Großes, aber Unvollendetes begreifen und alle gemeinsam die Gier verspüren, die nächste Saison nicht nur mit einem guten Gefühl, sondern mit Hardware abzuschließen, war Wembley ein wunderbarer Startschuss. Die Basis ist gelegt. Auf geht’s! Mit den richtigen Verstärkungen kann hier etwas Großes wachsen.
Mats Hummels wäre ein Vollidiot, wenn er jetzt den BVB verließe, wo er doch dazu beitragen kann, dass er einen würdigen Abschied auf einem Lastwagen am Borsigplatz bekommt.
Gemeinschaft
Durch diese komische Geschichte aus verpasster Meisterschaft, Fruststau, Enttäuschung über so manche Leistung der vorigen und der abgelaufenen Saison, Euphorie in der Champions League, den Dreiklang Madrid-Paris-Madrid sind Fans und Mannschaft ein gutes Stück zusammengewachsen. Das müssen wir kultivieren: Fans durch Lautstärke, Spieler und Trainer (der muss bei aller Liebe auch noch besser werden) durch Leistung und Bereitschaft.
Fehlt noch der Verein, bzw. die KGaA: Der Verein ist eigentlich super, weil wir die Fanabteilung, die Fußballfrauen, die Handballerinnen, Tischtennis und Dr. Lunow haben. Der BVB hat durch die Fanabteilung ein aktives Vereinsleben, das man einem so großen Klub gar nicht zutrauen würde. Auch die Trauerfälle, die uns Fans in den vergangenen Wochen und Monaten beschäftigt haben, haben gezeigt, wie der Verein zusammensteht. Borussia lebt durch ihre Menschen, da mache ich mir wenig Sorgen.
Die KGaA allerdings hat eine große Liste mit Aufgaben, auf der ganz viele sportliche Themen stehen, aber auch zwei Worte ganz fett gedruckt sind: Glaubwürdigkeit und Kommunikation. Es reicht nicht, Transparenz vorzutäuschen, sie muss gelebt werden. Niemand kann allen Ernstes erwarten, dass ein börsennotiertes Unternehmen mit Umsätzen in dreistelliger Millionenhöhe Personal- und andere Entscheidungen basisdemokratisch fällt. Aber wer will, dass der BVB auch auf der professionellen Ebene das fortführt, was der Verein vorlebt, muss den offenen und ehrlichen Dialog suchen und pflegen, Entscheidungen erklären und gegen Widersprüche verteidigen. Und nicht halbgar erklären, man habe die Fans eingebunden, wenn in Wahrheit nur beschlossene Tatsachen zur Scheindebatte gestellt wurden. Versagt die Leitung der KGaA hier, kann das verdammt teuer werden — und ich rede hier nicht von Geld.
Gedöns
In meinem Kopf schwirrt ein Konglomerat aus Eindrücken, die bleiben. Rick Zabel und seine verrückten Instagram-Reels von seiner Radtour nach London, von unten bis oben mit schwarz-gelben Aufklebern verzierte Laternen, Briefkästen, Haustüren, Verkehrsschilder und Autos. Gelbes London, überall.
Ich versuche nachzuvollziehen, wie diese Eindrücke auf Malachi, meinen amerikanischen Freund, gewirkt müssen, dessen allererstes BVB-Spiel ausgerechnet Wembley war. Er versteht kein Wort, kommt aus der amerikanischen Mega-Provinz und wandelt auf seiner ersten Reise nach Europa inmitten einer gelben Karawane durch London. Er erlebt diese durch und durch unamerikanische und so wahnsinnig europäische, fußballtypische Variante des — wie soll ich das bezeichnen? — gutbürgerlich gepflegten Asitums, die sich für einen Amerikaner wie absolute Anarchie anfühlen muss.
Ich sehe unseren Trainer, der nach dem Spiel von Größen wie Ancelotti und Mourinho gedrückt, gelobt und geherzt wird und nach der PK Applaus von den Journalisten bekommt — so scheiße, wie viele es gerne hätten, kann der gar nicht sein, auch wenn natürlich nicht alles super ist und es noch einige Baustellen gibt. Ich hoffe ja, er lernt noch. Aber an diesem Abend von Wembley hätte eigentlich nur noch gefehlt, dass Jürgen Klopp vom Olymp (bzw. von der Ehrentribüne) herab gestiegen wäre, um Edin Terzic vor der BVB-Kurve in den Arm zu nehmen.
Wembley, da bin ich mir sicher, war ein Anfang!