Schlechte Stimmung beim BVB Abbruch statt Aufbruch?
Borussia Dortmund startete nur stolpernd in die Saison 2023/24: Nach einem standesgemäßen 1:6 beim Viertligisten und Südwestpokalsieger TSV Schott Mainz folgten in der Bundesliga drei schwache erste Spiele gegen Köln, Bochum und Aufsteiger Heidenheim, aus denen nur 5 Punkte eingefahren werden konnten. Dabei verfiel die Mannschaft von Trainer Edin Terzić in altbekannte Verhaltensmuster und gab vor allem den eigentlich schon sicher geglaubten Sieg gegen den Bundesliga-Premierengast auf eine Art und Weise aus der Hand, die durch Transfers der letzten 15 Monate der Vergangenheit angehören sollte. Doch blicken wir nochmal zurück.
Am letzten Spieltag der Saison 2021/22 wurde Michael Zorc von uns, dem Verein und dem Westfalenstadion nach insgesamt 44 Jahren in Diensten des BVB – 20 Jahre als Spieler, 24 Jahre als Funktionär – in den wohlverdienten Ruhestand einer absoluten Vereinslegende verabschiedet. Dabei hat Zorc nicht nur die größten Erfolge der Vereinsgeschichte mit zu verantworten, sondern auch das internationale Image des BVB als Durchlauferhitzer für Weltklassespieler entscheidend geprägt. Aber: Unter seine Amtszeit fielen auch viele fragwürdige Transfers und Verpflichtungen sowie zuletzt zunehmend ausufernde Gehaltszahlungen.
2022: Jeder Stein wird umgedreht
Seine Nachfolge trat Sebastian Kehl an, der bereits seit Sommer 2018 als Leiter der Lizenzspielerabteilung in die “Lehre” ging, ehe er letzten Sommer endgültig den Posten als Direktor Sport unter Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke erbte. Der Beginn der Amtszeit in seiner neuen Position war verheißungsvoll und vielversprechend: Kehl kündigte an, tiefgreifende strukturelle Veränderungen in allen sportlichen Bereichen vornehmen zu wollen, also neben dem Spielerkader auch bei der athletischen und medizinischen Abteilung sowie im Scouting eine perspektivische Weiterentwicklung des BVB zu bewirken. Einige dieser Veränderungen wurden auch zeitnah sichtbar: In der Transferperiode Sommer 2022 wurden alle Transfers – mit Ausnahme der Notfallverpflichtung von Anthony Modeste in Folge der Krebserkrankung von Sébastien Haller – bereits vor oder spätestens mit Beginn der Saisonvorbereitung getätigt. Der Abgang des bisherigen Chefscouts Markus Pilawa wurde durch die Verpflichtung von Laurent Busser sowie die Beförderungen von Eduard Graf und Sebastian Krug aufgefangen. Bei den Physiotherapeuten gab es mehrere personelle Veränderungen. In Kombination mit der Installation des Trainer-gewordenen BVB-Fans Edin Terzić entstand so eine Aufbruchstimmung und die Hoffnung auf ein langfristiges, übergreifendes Konzept sowie echte Entwicklung im häufig unbefriedigenden sportlichen Bereich bei Borussia Dortmund.
Ein Jahr später sieht die Realität jedoch anders aus.
Anspruch und Wirklichkeit
Die Arbeit der medizinischen und athletischen Abteilung ist schwer zu beurteilen, ihre Auswirkungen sind jedoch sichtbar: Borussia Dortmund hatte in der abgelaufenen Saison die zweithöchste durchschnittliche Ausfallzeit pro Spieler (wobei man die Krebserkrankung Sébastien Hallers berücksichtigen muss), startete mit einer Vielzahl von Verletzten in die Saisonvorbereitung und wirkt in den bisherigen Spielen nicht auf dem Fitnessniveau der Gegner. Das wäre für sich betrachtet zwar ein wichtiger, zu lösender Kritikpunkt, wird aber durch den Transfersommer 2023 massiv in den Schatten gestellt.
Der Abgang von Jude Bellingham, der von seinen Spielerkollegen zum Bundesligaspieler der Saison gewählt wurde und beim vermeintlich größten Fußballclub der Welt in den bisherigen vier Spielen 5 Tore erzielt hat, war nicht nur lange abzusehen, er wurde aufgrund der zu erwartenden Transfereinnahmen von den sportlichen Verantwortlichen sogar forciert. Glaubt man Stimmen aus dem Umfeld des BVB, hätte sich der Engländer einen zumindest kurzfristigen weiteren Verbleib bei der Borussia nicht nur sehr gut vorstellen können. Trotzdem dauerte es bis zum Beginn der Sommervorbereitung, bis der BVB einen Nachfolger präsentieren konnte, der in Person von Felix Nmecha nicht nur neben dem Platz für massive Spannungen in Umfeld und eine mögliche Spaltung gesorgt hat, sondern bisher auch jedes Indiz schuldig bleibt, die Ablösesumme von bis zu 30 Millionen Euro wert zu sein.
Auch der Abgang von Raphaël Guerreiro hinterlässt kein gutes Bild von der sportlichen Leitung des BVB. Da man vom Lebenswandel Guerreiros und seinen defensiven Qualitäten nicht vollends überzeugt war, wollte man seinen Vertrag eigentlich auslaufen lassen, ehe man ihm nach einigen guten Spielen plötzlich doch – genau wie Marco Reus und Mats Hummels – ein neues Vertragsangebot vorlegte und sich in diesem Fall eine Abfuhr einfing, die den zweitbesten Scorer (!) der abgelaufenen Saison nun im Trikot des größten nationalen Konkurrenten sieht. Immerhin war die Borussia auf diesen Abgang vorbereitet, da man hinter den Kulissen bereits Ramy Bensebaini von einem ablösefreien Wechsel zur wahren Borussia überzeugen konnte. Die Sprunghaftigkeit in den Personalien Reus, Hummels und Guerreiro sowie die – bisher – überraschend schwache Lösung in der Nachfolge von Jude Bellingham zeigen jedoch, dass man nach einem langfristigen Konzept zur sportlichen Aufstellung beim BVB vergeblich suchen würde.
"Kreative" Transferstrategie
Wenn man jetzt allerdings glaubt, das liege an einer vermeintlichen Schwäche der neu aufgestellten Scouting-Abteilung, dürfte man sich irren. Dem Vernehmen aus dem Vereinsumfeld nach machen die Spielerbeobachter des BVB hervorragende Arbeit und liefern regelmäßig interessante und – ein Lieblingswort Kehls aus den letzten Wochen – kreative Vorschläge für Neuverpflichtungen. Trotzdem waren mit Ausnahme von Julien Duranville und Ersatztorhüter Alexander Meyer alle Neuverpflichtungen der vergangenen 15 Monate bereits (erfahrene) Bundesliga- und/oder Nationalspieler ihrer jeweiligen Heimatländer, zur Hälfte im besten Fußballeralter ohne Aussicht auf nennenswerte Weiterverkaufserlöse.
Das ist insofern problematisch, als dass Borussia Dortmund nicht nur über einen ausgezeichneten Ruf und entsprechende Positivbeispiele bei künftigen Weltklassetalenten verfügt; es ist auch schlicht ein Teil des Geschäftsmodells des BVB, junge Spieler günstig zu entdecken und dann werthaltig an zahlungskräftigere Spitzenclubs zu verkaufen. Borussia benötigt diese Einnahmen mittelfristig, um weiterhin zu wachsen und mit den von der DFL fälschlicherweise geduldeten Plastikclubs mit unbegrenzten Mitteln mithalten zu können. Dennoch ist von kreativen Transfers aus dieser Schublade zuletzt nichts zu sehen gewesen. Der Kader altert zusehends und verliert zeitgleich an potenziellem Wert und Qualität.
Die Rolle von Edin Terzić
Das liegt aber nicht nur in der Person des Sportdirektors begründet. Die Stimme von Edin Terzić hat ein großes Gewicht bei Spielern, Fans und Geschäftsführung. Sieht man sich an, wie gut er es verstanden hat, in seiner ersten Amtszeit aus einer Ansammlung von Einzelkönnern eine Mannschaft zu machen und den DFB-Pokal zu gewinnen oder wie gut er es schafft, die Gefühlslage der BVB-Fans zu treffen und zu vermitteln, ist das auch kein Wunder. Der Erfolg, auch in der abgelaufenen Saison, gibt ihm zu einigen Teilen recht und menschlich ist Terzić ein absoluter Glücksfall für den BVB.
Was die Kaderplanung betrifft, lässt sich das bisher jedoch nicht behaupten. Als Reaktion auf die Krebserkrankung von Sébastien Haller forderte er Anthony Modeste, der die achtstellige Summe aus Ablöse und Gehalt am Ende der Saison mit 2 Toren zurückzahlte und dem BVB-Spiel auch sonst keine positiven Impulse gab. Bei den bereits weit fortgeschrittenen Plänen zur Verpflichtung von Edson Alvarez legte er dem Vernehmen nach kurz vor Abschluss sein Veto ein, weil er auf der Position mit Emre Can plant – welcher in seinen bisherigen dreieinhalb Jahren beim BVB gerade einmal die letzten sechs Monate überzeugen konnte. Und anstatt andere eklatante Lücken im Kader des BVB zu schließen (Innen- und Außenverteidigung), beharrte Terzić kurz vor Ende der Transferperiode auf der Verpflichtung eines weiteren bulligen Stürmers (für 15 Millionen Euro Ablöse), der einem der wenigen verbliebenen Juwele Youssoufa Moukoko die Perspektive nimmt – obwohl er als ausgesprochener Förderer des 18-Jährigen gilt, mit dem man letzte Saison noch nach zähen Verhandlungen langfristig und werthaltig den Vertrag verlängerte.
Von außen betrachtet wirkt die sportliche Leitung des BVB mindestens uneinig, was die kurz-, lang- und mittelfristige Planung betrifft. Es stellt sich zunehmend die Frage, wer den Kader plant – und auf welcher Grundlage. Terzić, der bei aller Liebe nach wie vor große Schwächen dabei hat, seine taktische Idee sichtbar auf den Platz zu bringen, wirkt wie der starke Mann beim BVB, während sein Vorgesetzter (!) Kehl zum einfachen Erfüllungsgehilfen degradiert scheint, obwohl er in seiner Rolle selbst die Vorgaben zu Spielweise und Konzept des BVB machen müsste. Dabei fehlt es beiden an Kompetenzen – sowohl was die jeweilige Durchsetzungsfähigkeit als auch die spätere Durchführung betrifft. Am Ende leidet darunter der BVB, der aktuell mit dem teuersten Kader der Vereinsgeschichte Fußball zum Abgewöhnen spielt und dadurch von Spiel zu Spiel immer mehr Kredit bei den (zugegeben ziemlich ungeduldigen) Fans verspielt.
Ein strategisches Problem
Abgesehen von all diesen operativen Problemen ist auch die Rolle Hans-Joachim Watzkes nicht zu vergessen. Er hat als Vorsitzender der Geschäftsführung nicht nur beide sportlichen Verantwortlichen eingestellt (so wie die inzwischen unzähligen Vorgänger von Terzić seit Klopp), er tritt auch immer wieder bei konkreten Entscheidungen und in der öffentlichen Kommunikation in Erscheinung. Dass sich einige Probleme auch über mehrere Jahre, verschiedene Trainer und inzwischen zwei Sportdirektoren hinweg nicht lösen ließen, muss man ihm ankreiden und dabei die Frage stellen, inwiefern sein Einfluss, seine Art und seine Entscheidungen die Probleme lösen – oder ihre Lösung verhindern.
Denn statt einen Plan und ein Konzept zu haben, wohin man diesen großartigen Verein sportlich entwickeln will, arbeitet man beim BVB zunehmend von Jahr zu Jahr, um bloß die großen europäischen Fleischtöpfe nicht zu verpassen. Das funktioniert auch relativ zuverlässig, wenn man die letzten 15 Jahre betrachtet. Dass man mit diesem unattraktiven und uninspirierten Stückwerk jedoch weder Fanherzen noch Titel gewinnt, erfährt der BVB jedes Jahr aufs Neue. War die Borussia vor zehn Jahren mit ihrem “Rock’n’Roll Fußball” noch “Europe’s hottest club”, könnte heute niemand mehr überzeugend sagen, wofür Borussia Dortmund sportlich steht – außer für die halbwegs sichere Qualifikation zur Champions League. Sollte man die Substanz in diesem Bereich jedoch weiter abbauen, während Plastikclubs mit bodenloser Brieftasche oder überperformende Leichtgewichte mit klaren Konzepten aufwarten, wird auch das bald nicht mehr selbstverständlich sein. Dann bräuchte es beim BVB einen noch viel radikaleren Neuanfang.
Aber vielleicht hielte die Aufbruchstimmung dann auch mal länger als 3 Spieltage.