Unsa Senf

Mammutaufgabe Zukunft Auf den Spuren Hamburgs? Oder Leverkusens?

16.01.2025, 14:00 Uhr von:  Michael    
Waldemar Anton reicht dem auf dem Boden sitzenden Ryerson die Hand.

Der BVB befindet sich im freien Fall. Und nicht wenige sehen ihn bereits auf den Spuren Hamburgs, der Hertha und Gelsenkirchens. Doch soweit muss es nicht kommen.

Die Lage ist ernst. Sehr ernst. Das war sie genau genommen auch schon vor dem Kiel-Spiel, doch die blamable Auswärtsniederlage im hohen Norden ließ am Ende viele mediale Dämme brechen.

In nahezu allen großen Zeitungen gab es lange Artikel über den Zustand des BVB und ausnahmslos alle bescheinigen dem BVB eine düstere Zukunft. Zu tief liegen die Probleme, zu groß ist der Abstand zu den Spitzenteams der Liga, zu gravierend die Fehlentscheidungen der letzten Jahre.

Für Patrick Berger von sky ist der BVB ein Patient, der erst mal nicht zu retten ist, Matthias Dersch befürchtet im kicker einen nicht zu stoppenden Abwärtsstrudel, wenn die nächsten Entscheidungen nicht sitzen und der hochgeschätzte Stephan Uersfeld sieht den BVB bei n-tv auf den Spuren der abgestürzten Schwergewichte Hamburg, Hertha und Gelsenkirchen.

Natürlich haben alle Kommentatoren Recht, dass der Trend in eine bedenkliche Richtung zeigt und die schiere Größe und der vergangene Erfolg den BVB nicht davor bewahren, sportlich abzurutschen. Genauso wenig bedeutet die sportliche Talfahrt allerdings zwangsläufig, dass man in drei Jahren in der 2. Liga kickt.

Außergewöhnlich lange in der Spitzengruppe

Außerhalb des FC Bayern gibt es keinen Verein, dessen Position in der Bundesliga zwischen Platz 1 und 4 dauerhaft festgenagelt ist. Dass der BVB sich in den vergangenen 14 Jahren nahezu konstant in den Champions League-Rängen halten konnte, ist schon eine extreme Ausnahme. Leverkusen war zwischenzeitlich im Abstiegskampf, Frankfurt war jahrzehntelang weg von der Spitze, Stuttgart in der zweiten Liga. Und alle haben es geschafft, sich wieder in die Spitzengruppe zurück zu arbeiten. Natürlich wird der Fehlerspielraum kleiner, wenn das internationale Geschäft verpasst wird und die Kohle ausbleibt. Und ja, die Gefahr eines Komplettabsturzes droht, aber dieser ist nicht so unausweichlich, wie es manche Kommentatoren (und Fans im Internet) herschreiben.

Was alle Kommentatoren eint, ist der Hinweis auf tiefliegende Probleme beim BVB. In Dortmund hat der Misserfolg viele Väter, wie es Sascha in seinem Text korrekt beschreibt. Watzke, Sammer, Kehl, Mislintat, Ricken, Sahin, die Mannschaft, sie alle sind auf ihre Weise Teil des Problems. Doch wer welchen Anteil an der derzeitigen Situation hat, ist von außen kaum zu beurteilen. Mit ziemlicher Sicherheit gibt es keinen „Hauptschuldigen“, dessen Austausch die sportliche Talfahrt beendet. Dies ist eine gute Nachricht für Nuri Sahin, allerdings eine sehr schlechte für den BVB. Denn es bedeutet, dass nur ein langfristiges Umsteuern den sportlichen Turnaround bringen wird.

Erfolg killt Innovation

Der BVB ist in den vergangenen Jahren in eine Falle getappt, die bereits viele erfolgreiche Unternehmen und sogar ganze Kulturen in den Ruin gestürzt hat: der Versuch, den Status quo beizubehalten. „Not macht erfinderisch“ weiß der Volksmund, Erfolg hingegen killt die Innovationsbereitschaft, weiß die Automobilbranche.

Über Jahre hat man es sich in den Champions League-Plätzen bequem gemacht, mit dem Verkauf von jung verpflichteten Weltklasse-Talenten Kasse gemacht, ein bisschen gejammert, dass die Bayern so weit enteilt waren und sich insgeheim gefreut, dass man dem Rest der Liga ebenfalls weit enteilt war.

Der Wille, innovativ zu sein, war nicht mehr vorhanden, es ging lediglich darum, möglichst kein Risiko einzugehen, welches das Geschäftsmodell „Geld durch CL-Teilnahme“ gefährden könnte.

Aki Watzke bei der JHJ am Rednerpult
Zu viel Stallgeruch, zu wenig frischer Wind?

Über allem thronte der ewige Aki samt Intimus Sammer, als Michael Zorc sich entschied, den Kuli an den Nagel zu hängen, wurde mit Sebastian Kehl ein ewiger Schwarzgelber zum Sportdirektor erkoren und als im Sommer Robert de Zerbi dem Vernehmen nach großes Interesse an der Terzic-Nachfolge hatte, entschied man sich für den bereits im Verein tätigen Sahin. Seit Jahren schmort man im wahrsten Sinne des Wortes im eigenen Saft. Das Wort „Stallgeruch“ wird bei jedem BVB-Fan ziemlich weit oben auf der Liste der persönlichen Unwörter stehen und in einigen Fällen wäre frischer Wind statt Stallgeruch wohl die bessere Entscheidung gewesen.

Auch im spielerischen Bereich gab man häufig den sicheren Lösungen den Vorzug. Der Vertrag von Emre Can wurde trotz häufig durchwachsener Leistungen verlängert, auch Julian Brandt wird für seine stetige Wanderung zwischen Weltklasse und mentaler Abwesenheit mit einer regelmäßigen Vertragsausdehnung belohnt. „Da weiß man was man hat.“ flötet einem die Werbung zu. Da war die Trennung von zwei Mitte-30-Jährigen an ihrem Vertragsende im vergangenen Sommer schon eine mittelschwere Sensation.

Wohlgemerkt: Ich unterstelle den handelnden Personen hier überhaupt keine böse Absicht. Ich bin mir absolut sicher, dass sie bei allen Entscheidungen das Beste für den BVB im Sinne haben. Und keiner kann sagen, ob ein Robert de Zerbi die bessere Trainerentscheidung gewesen wäre. Aber zu häufig drängte sich in den vergangenen Jahren das Gefühl auf, dass am Rheinlanddamm lieber die bequeme Entscheidung getroffen wurde. Und kaum einer schien zu merken, wie sich der BVB, überdeckt von DFB-Pokal, Fast-Meisterschaft und CL-Finale, klammheimlich immer weiter von dem Status quo verabschiedete, den er krampfhaft zu behalten versuchte.

Von jetzt an neu

Der BVB muss sich dringend einen Weg suchen, eine Rolle, die er zukünftig spielen will. Das muss kein am Reißbrett entwickeltes Konzept sein. Aber so wie Bayer Leverkusen oder, eine Stufe tiefer, Werder Bremen sich in den letzten Jahren konsequent weiterentwickelt haben, so muss auch der BVB diesen Weg für sich suchen und durchziehen.

Mal ein plakatives Beispiel: Seit Sahins Amtsantritt versucht der BVB sich deutlich häufiger spielerisch aus dem gegnerischen Angriffspressing zu lösen, als dies noch unter Terzic der Fall war. Dies sieht in der Regel so aus, dass Kobel, wenn er im eigenen Strafraum angelaufen wird, den Ball auf den entgegenkommenden Nmecha spielt, der ihn in der Regel direkt auf einen Außenspieler weitergibt. (Diese Aktionen sind im Stadion immer sehr gut zu identifizieren, da beim Pass auf Nmecha in der Regel ein entsetztes Raunen aufgrund des hinter Nmecha lauernden Gegenspielers durch die Reihen geht.) Da Nmecha in der Regel bei dieser Aktion den Gegenspieler mitzieht, ist dann hinter ihm ein Loch, wo Julian Brandt dann als Anspielstation für den Außenverteidiger auftauchen soll.

Kobel pariert ein Schuss gegen Wolfsburg
Auf der Linie die klare Nummer 1: Gregor Kobel

Das Problem ist, dass Nmecha durch seinen Gegenspieler diese Aktion unter Druck ausführen muss und vor allem das Anspiel von Kobel sehr genau kommen muss. Jetzt ist Kobel zwar in den klassischen Torwartfähigkeiten überdurchschnittlich, seine fußballerischen Fähigkeiten sind es jedoch nicht. Bei Alex Meyer ist das genau umgekehrt. Und gleichzeitig ist ein solcher Spielzug mit Nmecha möglich, mit Can jedoch nicht. Also habe ich eine Traineridee, die aber nur unter bestimmten Bedingungen funktioniert. Konsequent wäre es nun, entweder den Kader so zu planen, dass ich diese Eröffnung dauerhaft spielen kann, also Meyer statt Kobel aufstellen, für Nmecha einen ähnlichen Spielertypen als Ersatz verpflichten oder alternativ die Spielweise so anzupassen, dass die Schwächen von Kobel und Can nicht so zur Geltung kommen. Werder Bremen hat es so gemacht: Hier hat Michael Zetterer den besseren Torhüter Jiri Pavlenka verdrängt, weil seine fußballerischen Fähigkeiten für Ole Werner wichtiger waren. Beim BVB geht man jedoch den vermeintliche bequemen Weg: Umsetzung der Idee mit dem vorhandenen Spielern, mit dem Ergebnis, dass die Spieleröffnung phasenweise einem russischen Roulette gleicht.

Im besten Fall arbeiten also Kaderplanung und Trainerstab Hand in Hand und folgen dem Weg, den die sportliche Leitung vorgegeben hat. Beim BVB hat man in den vergangenen Jahren jedoch nur selten das Gefühl, dass alle an einem Strang ziehen, geschweige denn, dass allen der Weg klar ist. Da wird Couto geholt, der als Außenverteidiger in einer Viererkette bislang defensiv heillos überfordert ist, zeitgleich lässt man Eigengewächs Rothe nach Berlin ziehen, weil dieser eher Schienenspieler als Außenverteidiger ist. Und auch für Maxi Beier, einem 30 Millionen Euro-Transfer, hat man bislang so richtig keine Position gefunden. Zu sagen, dass es hier in der Abstimmung hakt, wäre eine grandiose Untertreibung.

Lars Ricken bei der JHV am Rednerpult
Rickens Mammutaufgabe

Im amerikanischen Sport wird gerne vom „Rebuild“ gesprochen, wenn ein Sportteam sich von Grund auf neu aufstellen muss. Und nicht selten dauert dieser Rebuild mehrere Jahre. Nun sind die Voraussetzungen im amerikanischen Profisport grundlegend anders und der BVB hat auch nicht mehrere Jahre Zeit. Aber „das Haus BVB“ muss ebenfalls neu aufgebaut werden. Mit klaren Vorgaben, Zielen und, um im Hausbaujargon zu bleiben, festen Säulen. Ob diese Säulen Kehl, Sahin oder ganz anders heißen, dies festzulegen ist Lars Rickens Mammutaufgabe in den nächsten Monaten. Aber egal, was das Internet uns gerade suggeriert: Hoffnungslos verloren ist der BVB nicht. Das zeigen Leverkusen, Frankfurt und Stuttgart.

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