Die Entfremdung
Es ist eine denkwürdige Saison, die den Fußball verändern wird. Vielleicht nicht auf dem Rasen, aber auf den Rängen.
Machen wir uns nichts vor: Der Profifußball wird durch diese Krise, die durchaus auch finanzielle Einbußen zur Folge hat, nicht demütiger werden. All das Gerede von Transfers und deren unmoralischen Summen, die überdimensionalen Gehälter und Ausstiegsklauseln – sie werden sie auch in Zukunft zahlen. Das Rad dreht sich weiter. Im Fokus immer der maximale finanzielle Gewinn.
Wie sehr sehnt man sich da nach einem Underdog, der durch gute, bodenständige Arbeit den „Großen“ auf die Füße tritt? Eine Illusion, die sich in heutigen Zeiten kaum noch aufrecht halten lässt. Zwar mag es den einen oder anderen Erfolg dieser Art in einzelnen Spielen geben, aber langfristig finden sich immer die gleichen finanzstarken Clubs auf internationalem Parkett und an der Spitze der europäischen Ligen wieder. Wo bleibt da die Spannung? Wer soll da noch mitgerissen werden, wenn der kommende Deutsche Meister schon vor dem ersten Spieltag feststeht?
Klar, kann man sich an hochtalentierten Spielern und technisch-starken Mannschaften erfreuen. Das ist dann in der Regel die rationale Sichtweise auf einen Sport, der in erster Linie von seiner Emotionalität lebt. Und wir erfahren gerade auf schmerzhafte Weise, was es heißt, den Fußball auf seine Rationalität zu reduzieren. Mit den Fans bleiben auch die Emotionen vor verschlossenen Türen. Und konzentriert man sich dabei nur auf das Sportliche, stellt man fest, dass es Spielen ohne Publikum an der Dynamik fehlt, die sich mit Fans entfalten kann. Heimvorteil adé. Teams werden in schwierigen Phasen nicht mehr von den lautstarken Gesängen unterstützt, sie werden nicht mehr von ihren Fans nach vorne gepeitscht, um das Spiel zu ihren Gunsten zu entscheiden.
Wir sind dazu verdammt, unsere Mannschaften im Fernsehen zu verfolgen. Und ich wünschte, ich könnte mich noch über die schlechten Leistungen des BVB aufregen, aber es juckt mich einfach nicht mehr. Das ist der Moment, an dem es für den Fußball gefährlich wird. Er verliert die Bindung zu seinen Fans, die sich über Jahre und Jahrzehnte durch emotionale Erlebnisse aufgebaut hat.
Diese Entfremdung vieler Fans ist eine schleichende Entwicklung, die bereits weit vor der Pandemie Einzug in die Stadien erhalten hat. Egal ob Kommerzialisierung, Ticketpreise, Eventisierung, Katar, Super League, Montagsspiele, VAR, Red Bull oder Dietmar Hopp: Es mangelt nicht an fanpolitischen Themen, die den Fans vereinsübergreifend bereits seit vielen Jahren ein Dorn im Auge sind und gegen die sie sich mit viel Engagement seit jeher einsetzen, um den Volkssport zu schützen, dem sie sich schon in jungen Jahren verschrieben haben. Der Fußball verändert sich, und das nicht zum Guten. Stattdessen entfernt er sich immer mehr von denjenigen, die ihm seine Bedeutung verleihen. Denn Fußball ohne Fans ist nichts.
Blickt man nun in den eigenen kleinen Kosmos rund um Borussia Dortmund, muss man festhalten, dass der Fußball, den diese Mannschaft spielt, trotz ihrer hohen individuellen Veranlagung alles andere als berauschend ist. Bloß kein Tempo aufbauen, bloß keine schnellen Konter fahren, lieber geduldig bleiben und den Ball drölfzig Mal hintenherum spielen. Lieber warten, bis sich eine Lücke ergibt, statt dem Gegner sein schnelles Spiel aufzudrücken und zu Fehlern zu zwingen. Da freut man sich ja richtig auf jeden Spieltag, insbesondere, wenn man dann noch von einem Aufsteiger verdienterweise fünf Stück eingeschenkt bekommt. Es ringt mir nur noch ein müdes Schulterzucken ab. Es bleibt abzuwarten, was der Trainerwechsel nun bewirkt und ob zumindest der sportliche Aspekt dann wieder ein Fünkchen Begeisterung entfachen kann.
Gleichzeitig sucht man auch unter den Spielern fast vergeblich nach Identifikationsfiguren, zu denen man eine emotionale Bindung aufbauen könnte. Und das, obwohl ich immer ein großer Verfechter dessen war, neuen Spielern auch die Chance zu geben, in diese Rolle hineinzuwachsen. Es tut sich allerdings wenig. Klar, wir haben Marcel Schmelzer und Łukasz Piszczek, die eine der erfolgreichsten Ären des Vereins mitgeprägt haben. Schmelzer fehlt verletzt und war auch zuvor nur noch selten eine Alternative für einen Einsatz. Auch Piszczek sieht man kaum noch auf dem Platz und das Karriereende winkt. Dann bleibt noch Marco Reus, der Identifikationsfigur schlechthin sein sollte, doch ist auch der gebürtige Dortmunder und Kapitän mittlerweile längst nicht mehr über jeden sportlichen Zweifel erhaben (fairerweise muss man ergänzen, dass Letzteres in diesen Tagen für einige Spieler im Kader gilt).
Zu Beginn des Jahres dachte ich, Emre Can könnte vielleicht so einer werden. Ich erinnere mich da gerne an eine Szene gegen Paris, wo er einen bockstarken Ballgewinn mit der gestreckten Faust Richtung Fans feierte. Sowas brauchen wir. Aber seitdem habe ich auch nicht mehr viel gesehen. Und die jungen Spieler, die gefühlt unsere einzige Hoffnung auf ein bisschen Kreativität auf dem Platz sind? Sie werden bald weiterziehen, um Größeres zu erreichen. Insgesamt bewegen sich die Spieler heute durch ihr Vermögen und ihren Lebensstil in den meisten Fällen fernab der Realität der Fans, die sie anfeuern. Wie soll hier eine Bindung entstehen, wenn Spieler nicht mal mehr grundlegende Werte einer Gemeinschaft teilen, sondern lieber ihren eigenen Ego-Trip fahren?
Es gibt genug Punkte – ob beim eigenen Verein oder im Profifußball allgemein –, die einem kritisch aufstoßen. Nur ist es halt ein großer Schritt zu sagen: „Ich gehe da nicht mehr hin.“ Denn am Fußball hängt ja so viel mehr, als nur das Geschehen auf dem Platz und die Entwicklung in Vereinen und Verbänden. Fußball bedeutet Gemeinschaft, mit Freunden bei jedem Wetter im Block zu stehen, Enttäuschungen zu teilen und sich bei Toren in den Armen zu liegen. „Borussia verbindet Generationen, Männer und Frauen, alle Nation“ – das ist kein Klischee.
Da den Cut zu machen, fällt niemandem leicht. Jetzt sind wir alle dazu gezwungen, nicht mehr Spieltag um Spieltag zum Stadion zu tingeln, um gemeinsam zu leiden und zu feiern. Wir können die Spiele nur auf Distanz verfolgen und plötzlich merkt man vielleicht auch, dass Fußball gar nicht so wichtig ist. Dass es vollkommen okay ist, sein Leben nicht anhand von Spielplänen zu organisieren. Dass es auch ohne geht. Doch das ist für den Fußball eine dramatische Erkenntnis.
Mit den Jubos hat sich eine der drei großen Dortmunder Ultra-Gruppierungen bereits in diesem Jahr aufgelöst. Als Begründung wird in erster Linie der aussichtlose Kampf gegen den modernen Fußball angeführt. Wenn kritische Stimmen in Zukunft ausbleiben, fehlt die Bremse, die der kommerziellen Entwicklung des Fußballs noch etwas entgegenzusetzen hat.
Was bleibt dann noch? Der Fußball, wie wir ihn lieben, jedenfalls nicht.