
Es ist ein heißer Julitag in Dortmund. Die Stadt liegt träge in der Sommersonne, als wäre selbst die Gerüchteküche in Hitzestarre verfallen. Kein Neuzugang, kein Aufbruch, nicht mal ein halbgares Gerücht aus England. Der BVB macht nichts. Gar nichts.
Und vielleicht deshalb wirkt der volle Flohmarkt unter der Süd wie ein Ort der Trotzbewegung: Wenn schon nichts kommt, dann eben das, was war. Rund fünfzehn Tische schmiegen sich an die massiven Mauern des Stadions, als würden sie selbst Teil der Geschichte sein, die sie tragen. Auf ihnen: Wimpel von 1992, Kappen aus der Meistersaison 2011, vergilbte Stadionhefte. Alles ist gelb, alles ist Vergangenheit. Die Trikots tragen Jahreszahlen wie Ehrennadeln. 1997. 2002. 2008. Und die Verkäufer tragen sie auch: auf den Gesichtern, in den Stimmen.
Hier, zwischen den engen Gängen des Flohmarkts, zeigt sich eine bestimmte Art von Sehnsucht: der Versuch, eine alte Ordnung wiederzubeleben. Alles hier erinnert an Fundstücke einer versunkenen Welt, als hätte jemand Fragmente einer vergangenen Zeit ausgegraben, entstaubt und auf Tische gelegt, in der Hoffnung, dass sie noch einmal leuchten. Ich streife durch die Reihen, bleibe stehen, blättere. Halte inne vor Dingen, die einmal Alltag waren und nun wie kleine Anker wirken, für das, was war, und für das, was anscheinend alle wieder spüren wollen. Es ist kein einfacher Rückblick, sondern ein fast körperlicher Drang, das Früher greifbar zu machen. Es erscheint mir wie die Suche nach einem angenommenen Originalzustand, nach der „guten alten Zeit“, die man besitzen, ordnen, vielleicht sogar fortsetzen möchte.
Während ich mich durch alte Stadionschals wühle, kommt mir vage eines dieser heißen Sommerseminare aus dem Philosophiestudium in den Sinn. Eines, in dem es ums Erinnern ging. Damals dachte ich nicht, dass mir das mal auf einem Stadionflohmarkt nützlich sein würde. In meinen Notizen tauchte eine Denkerin besonders oft auf: Svetlana Boym. Eine Kulturwissenschaftlerin, die sich mit dem Wesen der Nostalgie beschäftigt hat. Sie unterscheidet zwischen zwei Formen: die reflexive Nostalgie, die sich mit der Unvollständigkeit des Erinnerns befasst, und die restaurative, die versucht, „ein verlorenes Zuhause" konkret und detailgetreu wiederherzustellen.
Flohmarkt ist ein Paradebeispiel für diese zweite Art der Nostalgie. Hier wird gesammelt, kategorisiert, geordnet, nicht nur nach Preisen, sondern auch nach Epochen. Die Dinge bekommen einen Wert, weil sie zu einer bestimmten Zeit gehören und weil sie ein Gefühl auslösen, das zurückgeholt werden soll. Es ist der Versuch, die Vergangenheit nicht nur zu erinnern, sondern sie, zumindest in Fragmenten, wieder verfügbar zu machen. Die restaurative Nostalgie zeigt sich hier nicht nur im Angebot, sondern in der Atmosphäre: in Gesprächen über „damals“, im Preis von Erinnerungen, im Glanz vergangener Saisons.
Dieser sagenumwobene glanzvolle BVB ist nicht mein BVB. Ich bin noch neu in dieser Welt. Gebürtig vom Niederrhein, wo man entweder Mönchengladbach-Fan ist oder den Glauben gleich ganz verloren hat. Nicht mit schwarz-gelbem Herz geboren, sondern spät dazugekommen, irgendwo zwischen Streams, Saisonrückblicken und leeren Rängen. Kein Kind der Meisterjahre, sondern eine Spätzünderin mit Sehnsucht. Mein BVB begann nicht mit Sammer oder Chapuisat (obwohl ich dann wahrscheinlich glücklicher gewesen wäre). Mein BVB trug Slim Fit, hatte Snapchat und tanzte auf dem linken Flügel.
Zwischen Topps-Karten und einer Wäscheleine voll gestickter Vereinswappen liegt es plötzlich vor mir: Ein Sancho-Trikot, Saison 2019/20. Nummer 7, schwarz-gold. Der Stoff riecht nach Keller, Sonne und einer Zeit, die vibriert hat.
Ich kaufe es, natürlich. Mein Griff ist fest, als ich es dem Verkäufer reiche. Ein Mann, Mitte fünfzig, wettergegerbte Arme, ein Lächeln, das irgendwo zwischen Müdigkeit und Gewohnheit pendelt. Auf meine Frage, warum er so viele Trikots verkauft, zuckt er mit den Schultern. "Kaum Platz, wa?" sagt er, als sei das alles. Vielleicht ist es das. Ich nicke, obwohl meine eigene Sammlung eher an einen besonders sentimentalen Garderobenhaken erinnert: ein paar Schals, drei Trikots, und jetzt Sancho. Der Vierte. Der Erste, der leuchtet.
Ich falte das Trikot vorsichtig, fast andächtig, und schiebe es in meinen Jutebeutel. Ich merke, wie sich etwas in mir regt, kaum spürbar: ein Zittern, ein Ziehen. Dieses Trikot, das war mal Gegenwart. Jetzt fühlt es sich an wie ein Mythos, weich und flüchtig, als hätte die Zeit selbst daran genäht.
Immer öfter flackert er mir entgegen; auf Instagram, in Reels, alten Highlight-Compilations. Sancho, wie er tanzt, wie er spielt, wie er fliegt. Mal kommentarlos, mal mit melancholischem Unterton, mal einfach so. Manche speichere ich. Aus Trotz vielleicht. Und aus Vermissen.
Bei Anderen passiert mir das nicht. Bellingham? Zu königlich. Haaland? Zu weit entrückt. Aber Sancho; der leuchtet noch im Dortmunder Licht. Vielleicht, weil er nie ganz zu Ende erzählt wurde. Vielleicht auch, weil er mehr Frage war als Antwort. Und das passt besser zu uns als alles andere.
Als ich den BVB so richtig entdecke, bin ich 22. Jadon ist längst weg, schon ein Jahr nicht mehr in Dortmund, aber irgendwie führt mein Weg trotzdem zu ihm. Zu seinen Dribblings, seinem Spiel, seiner Leichtigkeit. Als würde er mit jedem Schritt sagen: Schau, es könnte alles möglich sein.
Er gehört zu denen, die für mich nie bloß Spieler waren, sondern Gestalter. Wie Gündoğan, wie Reus, wie Rosický. Spieler, bei denen der Ball nicht nur rollt, sondern spricht. Wieder einmal merke ich, wie deutlich meine Vorlieben sind: nicht für Tore, sondern für die Kunst des Spiels; für Bewegungen, die sich einbrennen wie Pinselstriche auf nassem Grund. Für die markante Ästhetik, die den Fußball so einzigartig macht.
Ich bin natürlich nicht die Einzige, die eine Vorliebe für Jadon hat. Online gehört er längst zu den sentimentalen Fan-Lieblingen. Nicht in Manchester, aber nun gut, dort scheint man sich ja eher für Nebengeräusche zu interessieren. Für uns, gerade jüngere Fans, steht er für etwas, das größer ist als er selbst: für eine Zeit, in der der BVB mehr Richtung hatte, mehr Gefühl, mehr Leuchten. Für einen Verein, der sich so sehr über seine Identität definiert, dass der Rückblick zum Grundmodus geworden ist. Nicht aus Verklärung, sondern weil man sich erinnern muss, wenn gerade nichts passiert.
Vielleicht liegt genau darin Jadons Kraft: dass er nicht nur erinnert wird, sondern uns auch erinnern lässt. Nicht als Idol, nicht als Mythos, sondern als Gefühl. Eins, das zart genug ist, um darin zu versinken, und stark genug, um etwas in uns zu bewahren. Und vielleicht bin ich deshalb hier.
Und während ich so über den Flohmarkt schlendere, das Trikot im Jutebeutel, schweifen meine Gedanken ab. Ich denke nicht nur an Sancho. Ich denke an all das, was bleibt, obwohl es gegangen ist. An Spieler, an Momente, an diese flüchtige Form von Nähe, die der Fußball herstellen kann. Zwischen Menschen, zwischen Zeiten, zwischen dem, was war, und dem, was man vermisst, ohne es je ganz gehabt zu haben. Ich denke daran, wie viel man festhalten möchte, wenn die Gegenwart sich nicht mehr erklären kann. Und wie schnell aus einem Stück Stoff eine Art Verheißung wird.
Wahrscheinlich bin ich deshalb hier. Nicht nur wegen Sancho. Nicht nur, weil ich etwas suche, das mir gehört. Sondern weil ich wissen will, ob man aus Erinnerungen einen Ort machen kann. Einen, an dem man wieder andocken darf. Auch wenn man nicht von Anfang an dabei war.
Ich merke, wie ich immer langsamer gehe. Wie ich stehenbleibe vor Schals, die ich nie getragen habe, vor Gesichtern, die leuchten, wenn sie "Kuba" sagen oder "Dédé", als würden die Namen allein etwas wieder aufrufen, das noch nicht ganz verschwunden ist. Vielleicht ist das Fan-Sein genau das: der Versuch, aus Geschichten, die man verpasst hat, trotzdem ein Zuhause zu bauen.
Und ja, vielleicht bin ich spät dran. Vielleicht kam mein BVB zu mir, als alles schon im Rückblick schimmerte. Aber das ändert nichts daran, dass er jetzt da ist. Dass ich da bin. Und dass es da draußen noch andere geben muss, die auch nicht loslassen können. Nicht aus Sentimentalität. Sondern weil etwas fehlt, wenn man es nicht festhält.
Irgendwann, zwischen all dem Gewusel und dem Gewicht der Jahre, das an meiner Schulter baumelt, ist sie wieder da: Svetlana Boym. Sie schrieb mal, Nostalgie sei kein Blick zurück, sondern ein Versuch, das Jetzt zu fühlen, wenn man ihm nicht mehr traut. Ich muss grinsen. Vielleicht ist das Trikot genau das: ein Versuch, dem Jetzt zu entwischen, ohne davonzulaufen. Ein Kleidungsstück wie ein Lichtkegel auf etwas, das einmal war. Und vielleicht nie wieder wird. Aber vielleicht.
Ich halte meine Tasche ein bisschen fester, als könnte ich damit etwas bewahren, das sonst verloren ginge. Es ist nur ein Stück Stoff. Aber es sagt alles, was der BVB in diesem Sommer nicht sagt. Alles, was vielleicht nicht mehr kommt. Und trotzdem bleibt.
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