vielleicht würde es sogar regnen
Ein Text mehr zur Lage der Nation, dachte ich mir, während ich über Liverpools großen Sieg gegen Barcelona nachdenkend zu Koi runterspazierte und den unendlichen Blick über die Farm genoss. Von den grauen Mauern des Soldiner Kiezes befreit, war mir das Denken überhaupt erst wieder möglich geworden.
Damit war ich, dachte ich mir nun bei Koi hockend, ein Schritt weiter als die Fans der Dortmunder Borussia, denen das Denken zwar immer noch weitestgehend möglich war, aber deren Denken unentwegt auf einige Punkte in einer sich immer weiter entfernende Vergangenheit ausgerichtet war.
Den letzten noch auszumachenden Anker fanden sie am 8. April 2014. Manuel Friedrich, Erik Durm, Milos Jojic, Kevin Großkreutz und Oliver Kirch besiegten Real Madrid mit 2:0 Toren. Doch dieser Sieg war eine Niederlage. Ein Jahr und eine Woche später schloss Jürgen Klopp die Tür zur Dortmunder Zukunft mit den Worten „ich bin nicht mehr der perfekte Trainer für den BVB“ ab.
Ein paar Monate darauf klopfte Klopp auf das „This Is Anfield“-Schild in Liverpool und verschrieb sich seinem neuen Lebensziel: Die Reds zurück an die Spitze des Weltfußballs zu bringen.
Das gelang Klopp innerhalb weniger Jahre, in denen es weder seinen mittlerweile vier Nachfolgern auf der Dortmunder Bank oder dem Verein selbst gelungen war, den Blick nach vorne zu richten. Sie starrten weiter auf den 25. Mai 2013, auf den 8. April 2014 und den 15. April 2015.
Sie verharrten in Schockstarre, ohne sich nur einen Schritt zu bewegen. In manchen Alternativ-Universen hatte er den Verein nie verlassen, ihn anderen stand Gotto kurz vor der Rückkehr an den Rheinlanddamm. Doch das würde nie passieren
Im Nachklang der großen Nacht von Anfield schrieb die italienische Gazzetta dello Sport: „Kein Fan der Welt würde Klopp nicht gerne auf der Bank der eigenen Mannschaft sitzen haben.“
Nur drei Teams auf der Welt hatten ihn bislang auf der eigenen Bank sitzen. Welch ein Glück also. Eigentlich. Hätte Klopp den Verein nicht emotional ausbluten lassen. Einmal, an einem weiteren Abend im April, hätten sie sich davon befreien können.
Genau ein Jahr nach der Ankündigung seines Abschieds. Am 14. April 2016 zog er Tuchels analytische Version der Borussia mit Leidenschaft in den Abgrund. Die 3:1 Führung der personell damals besser besetzten Dortmunder war nicht genug. Schmelzer foulte, Lovren köpfte, Tuchels viel zu langer Abschied begann.
Er hatte seinen Schatten nicht besiegen können und Tuchels Nachfolger Bosz und Stöger dann mit einer aus vielfältigen Gründen implodierenden Mannschaften zu kämpfen. Favre, dem alten Betrüger, war der Neuanfang zwar gelungen, doch er hatte zu viel versprochen. Und drüben auf der Insel spielte Klopp eine historische Saison.
Dortmund hingegen fehlte das Feuer. Jeder neu geschaffene Moment wurde mit den Momenten unter Klopp abgeglichen. An dieser Klippe der Erinnerung zerschellten die neuen Momente. Der BVB hing weiter der Vergangenheit nach, und vergaß die Gegenwart und die Zukunft.
Der Ballspielverein Borussia aus Dortmund wurde 1909 gegründet. Es gab 99 Jahre vor Klopp und bald geht es ins fünfte Jahr ohne ihn, dachte ich nun wieder auf der Veranda sitzend. Und jedes seiner Comebacks riss den Ballspielverein weiter in den Abgrund. Die Borussia, dachte ich, wird das Klopp-Trauma bewältigen müssen.
Tuchel, Bosz, Stöger, Favre. Die Namen waren austauschbar. Sie waren nicht das Problem. Klopp hatte, ohne es zu wollen, den BVB zu einem Erinnerungsverein verkommen lassen, der auf der Hochebene des europäischen Fußballs langsam Atemnot bekam und nicht mehr zur Basisstation im Tal zurückkam.
Klopps großer Triumph gegen Barcelona war eine weitere Demütigung für die vom Unglück ohnehin bereits arg mitgenommene Borussia, dachte ich in die Ferne schauend. Erst hatte der Klub seinen Vorsprung verspielt, dann sahen die Fans, was sie hätten sein können, was sie glaubten, immer noch sein zu können, hätte es den 15. April 2015 nie gegeben.
Ich blickte weiter in die Ferne. Natürlich zogen dunkle Wolken auf. Vielleicht würde es sogar regnen.