Mit vollen Hosen und leeren Händen: Auf Wiedersehen, Europa...
Das Traumlos. Klopp gegen Tuchel. Anfield Road. Der beste Tabellenzweite gegen biederes Mittelmaß. Mit 2:0 und 3:1 vorne. Atmosphäre wie lange nicht mehr. Das Halbfinale fest vor Augen. Unter den Besten Europas. Genießen. Ein Bruch: Nichts geht mehr. Borussia stellt das Spielen ein. Bekommt Schiss. Spieler wähnen sich in unterschiedlichen Systemen. Keine Zuordnung mehr. 3:2. 3:3. Vier Minuten Nachspielzeit. Hängende Schultern. Ein tobendes Stadion. Klopp lässt nicht locker. 3:4. In letzter Minute. Verkackt.
Es hatte alles so gut angefangen: Rund 3000 Borussen hatten sich auf den Weg nach Liverpool begeben, obwohl die Preise für Anreise und Unterkunft fernab jeder Vernunft lagen. Sie wurden belohnt mit einer einzigartigen Stadt, die vielleicht nicht die üblichen Kriterien für ein Adjektiv wie „wunderschön“ erfüllte, aber doch sehr viel Sehenswertes und zahlreiche schöne Ecken zu bieten hatte.
Zwei Kathedralen, verbunden durch eine Straße mit dem Namen Hoffnung und Austragungsort des beliebtesten Bierfestivals Englands (in der Krypta der katholischen Kathedrale). Die Geschichte der Beatles, die Liverpool in den 1960er Jahren vorübergehend zur coolsten Stadt der Welt werden ließen. Die Superlambananas, jene merkwürdigen Figuren in der Form eines halben Lamms und einer halben Banane, die ironisch auf die Gefahren der Gentechnologie hinweisen und die beiden Güter hervorheben, die einst den Wohlstand der Stadt begründeten. Die „Three Graces“ an der Mersey, majestätische Gebäude, die an erfolgreichere Zeiten erinnern und heute als vom Zerfall bedrohtes Weltkulturerbe auf der roten Liste der UNESCO stehen. Und natürlich hunderte Pubs, Bars, Clubs und Karaokeläden, die die mitgereisten Borussen mit sehr viel fanfreundlicheren Öffnungszeiten und Preisen empfingen, als London vor wenigen Wochen.
Auch die Liverpudlians hatten sich für das Spiel in Stimmung gebracht. Bei jeder Gelegenheit bekundeten sie ihren Respekt vor Borussia Dortmund und wie froh man sich schätzen könne, Jürgen Klopp als Trainer zu haben. Die Dortmunder Unterstützung in der „Justice For The 96“ Kampagne sei sehr genau wahrgenommen worden. Ein Taxifahrer, Fan des Everton FC und erklärter Feind des Liverpool FC, hatte seit Jahren immer wieder gehört, dass sich BVB-Fans für Stehplätze und niedrigere Eintrittspreise engagierten – es habe sich im ganzen Land herumgesprochen, dass die Katastrophe von Hillsborough und der Taylor Report in Deutschland auf Interesse gestoßen seien, obwohl deutsche Fans nicht betroffen waren. Er selbst sehe fast jedes Spiel Evertons im Stadion und trage dort immer einen blauen „Justice For The 96“ Button – so wenig man sich sonst auch leiden könne, dürfe es in solchen Fragen keine zwei Meinungen geben.
Die Grundstimmung schwankte mehrere Tage lang zwischen unbändiger Freude und (allen Schmeicheleien zum Trotz) dem festen Glauben, gegen den BVB eine gute Chance aufs Weiterkommen zu haben. Anders sahen es die Fans von Everton: Auch sie fieberten dem Spiel entgegen und waren guter Dinge, dass der BVB dem wenig geschätzten Nachbarn mal so richtig einen einschenken würde. Kein großes Wunder also, dass als Treffpunkt vor dem Spiel eine Kneipe am Goodison Park auserkoren wurde. Das Winslow Hotel, sonst Hoheitsgebiet der Everton Fans und gerade mal eine Straßenbreite von deren Stadion entfernt, war an diesem Tag ganz in schwarz und gelb getaucht. Auf den Fernsehern liefen Videomitschnitte der größten BVB-Erfolge, zu deutschen Schlagern wurden die Texte mehr oder weniger bekannter BVB-Fangesänge inklusive aller Schalalas und Ohohohos eingeblendet. Der zehnminütige Fußweg zum Stadion an der Anfield Road führte durch einen Park, über einen Acker und durch ein Wohngebiet, das sicherlich schon bessere Zeiten gesehen hatte.
Dafür gab es dort die nächsten Kuriositäten zu sehen, die es wohl nur in England geben kann: Inmitten dieser typischen Reihenhaussiedlung, nicht einmal 50 Meter entfernt von der Haupttribüne, war eine unauffällige, schwarze Haustür zu sehen. Weil sie nicht abgeschlossen war und von erstaunlich vielen Menschen benutzt wurde, war unser Entdeckergeist geweckt – also taten wir es den Einheimischen gleich und fanden uns inmitten eines Wohnhauses wieder, das zu einer versteckten Kneipe umfunktioniert worden war. Zwischen Wohn- und Badezimmer saßen etwa 50 Leute oder standen Schlange am Tresen, im eingemauerten Garten-Innenhof warteten noch einmal rund 60 Leute beim Rauchen oder auf Bierbänken unter Heizpilzen auf den Spielbeginn. Eine zugegebenermaßen eher geile Idee.
Das Stadion selbst war englisch verbaut. Einerseits war die Lage im Wohngebiet großartig, andererseits konnten die Kapazitätsgrenzen deshalb nur sehr bedingt und über komplizierte Umbauten nach oben geschoben werden – die gegenwärtigen Baumaßnahmen haben die Optik dabei nicht unbedingt verbessert. Eine Papptafel-Choreo auf der Heimtribüne sowie im Gästeblock erinnerte an die Opfer der Hillsborough-Katastrophe, die sich am Folgetag zum 27. Mal jähren sollte. Während die BVB-Fans den Anlass der Choreo uneingeschränkt begrüßten, stieß ihre Umsetzung auf Kritik – insbesondere ärgerte die vorausgehende Presseberichterstattung, die statt der 96 Opfer vor allem die Harmonie zwischen den Fanszenen in den Mittelpunkt rückte und dabei nicht selten ins Schmalzige abglitt. (Abgesehen von künstlerischen Aspekten, die ja immer eine Geschmacksfrage darstellen, darf man tatsächlich geteilter Meinung sein, ob das Ausschlachten einer Erinnerungsaktion in Pressemitteilungen und PR-Texten bereits Tage vor dem Spiel besonders gelungen war und den Opfern sowie deren Familien gerecht wurde.) Am Ende war es dann auch nicht die Choreo, die für einen Gänsehautmoment sorgte, sondern vor allem das gemeinsame Schweigen aller Fans im Stadion, das im Gegensatz zu manch anderem Anlass der jüngeren Vergangenheit durchgehalten und nicht durch unangebrachte Zwischenrufe gestört wurde.
Kommen wir zum Spiel: Beide Mannschaften betraten den Platz in nomineller Bestbesetzung. Jürgen Klopp hatte mehrere Spieler am Wochenende geschont und brachte sechs neue Kräfte, Thomas Tuchel änderte seine Aufstellung gleich auf acht Positionen. Am Vortag schien er felsenfest davon überzeugt, dass seine Mannschaft eine klasse Partie zeigen werde – engagiert sollte es von der ersten Minute an zur Sache gehen, die Fehler der Vorwoche würden sich nicht wiederholen.
Tatsächlich gelang dem BVB der bestmögliche Start und jagten Pierre-Emerick Aubameyang sowie Henrikh Mkhitaryan das Leder gleich zweimal in die Maschen. Zuerst hatte Aubameyang nach feinem Zuspiel Gonzalo Castros sein Glück versucht, Mkhitaryan im Nachsetzen aber den entscheidenden Erfolg erzielt (5. Minute), anschließend hämmerte Aubameyang nach toller Vorarbeit von Marco Reus einen Schuss in den rechten Winkel (9.). Das Spiel hatte kaum begonnen, schon feierte der Gästeblock und war Liverpool gezwungen, mindestens drei Tore zu erzielen.
Zwar kamen auch die Hausherren immer wieder einmal zu Chancen, doch wurden diese nie wirklich gefährlich – weil Sokratis abwehrte (17., gegen Divock Origi), Alberto Moreno den Schuss versemmelte (18.) oder Adam Lallana mit Wumms ins Nirgendwo trat und seinen Schussversuch nahtlos in einen Three-Sixty überführte. Weil sich auch der BVB recht fahrlässig im Umgang mit den eigenen Chancen zeigte, Aubameyang nach Vorarbeit Lukasz Piszczeks (31.) und Reus (35.) ebenso wie Kagawa (45.) im Abschluss nicht konsequent genug waren, ging der BVB mit einer komfortablen 2:0 Führung in die Halbzeitpause eines munteren Spiels.
Klopp war sich zu diesem Zeitpunkt sicher, dass es nur noch um Schadensbegrenzung würde gehen können. Er impfte seinen Spielern ein, sich erhobenen Hauptes aus dem Wettbewerb zu verabschieden und wenigstens einen großen Kampf zu zeigen, wenn es schon nicht zu mehr würde reichen können. Besondere taktische Anweisungen waren dabei nicht nötig, also marschierten die Engländer recht früh wieder aufs Spielfeld – und weil der BVB etwas dösbaddelig aus der Kabine kam, konnte Origi seinen Übungsleiter direkt zufriedenstellen: Nach einem Doppelpass mit Emre Can ließ der wohl talentierteste Spieler der Reds Roman Weidenfeller keine Chance und legte den Ball unter ihm hindurch ins Tor (48.). Es keimte ein winziges Pflänzlein der Hoffnung, doch weil die Roten weiter katastrophal verteidigten, wurde auch dieses sofort wieder niedergetrampelt – nach Mats Hummels Vorarbeit machte diesmal Reus den Treffer und stellte damit den alten Abstand wieder her (58.).
Jeder im Stadion wusste, dass dieses Spiel gelaufen war. Tuchel setzte sich auf die Bank, die Borussen auf dem Platz mussten nur noch ihren Stiefel herunterspielen und die bequeme Führung ins Ziel bringen. Nur Klopp fuchtelte weiter in der Gegend herum und wollte sich nicht mit einer so deutlichen Niederlage begnügen – mit Joe Allen und Daniel Sturridge brachte er zwei neue Spieler und schickte seine Mannschaft immer wieder nach vorne. Mit Erfolg: Ein Doppelpass zwischen Philippe Coutinho und James Milner reichte, um die Dortmunder Abwehr auszuhebeln – plötzlich zappelte der Ball hinter dem chancenlosen Weidenfeller im Netz (78.).
Das Stadion, das nicht nur für englische Verhältnisse beinahe über die gesamte Partie hinweg sehr laut gewesen war, kochte nun richtig. Der Gästeblock, der sich bislang recht wacker behauptet hatte, geriet ins Hintertreffen. Von allen Seiten wurde gebrüllt, geschrien und gesungen – leider immer nur die gleichen Verse, aber dafür mit einem lange nicht mehr gespürten Druck. Der BVB ließ sich von dieser ausnahmsweise wirklich beeindruckenden Atmosphäre einschüchtern, fand nicht mehr in sein gewohntes Spiel. Die noch immer vogelwilde Liverpooler Abwehr wurde nicht mehr angelaufen, Bälle wurden ziellos durch die Gegend geklopft. Als dann ausgerechnet Mamadou Sakho, der in Liverpool aufgrund seiner hüftsteifen und unbeholfenen Art bereits zweifelhaften Legendenstatus erreicht und mit schnellen Tempoläufen in jeder Spielminute seine lieben Probleme gehabt hatte, nach einer Ecke zum 3:3 einköpfte, regierte nackte Panik. Von Spielaufbau oder gar Spielfreude war nichts mehr zu sehen. Die Zuschauer wurden immer lauter und brüllten sich die Seele aus dem Leib, Borussia Dortmund wirkte paralysiert.
So kam es, wie es kommen musste: Eine unnötige Standardsituation bot die Gelegenheit, das Mittelfeld schnell zu überbrücken. Milner schaufelte den Ball in den Strafraum, Dejan Lovren musste nur noch seinen Kopf hinhalten und zum 4:3 verwandeln (92.). Dass Ilkay Gündogan in der 95. Minute fast noch den Ausgleich hätte erzielen können, einen Freistoß aber knapp daneben setzte, machte die Pleite perfekt. Der Traum vom Europapokal war futsch. Alle Fahrten, alle Mühen, jeder noch so hoch betriebene Aufwand – es endete in Liverpool. Nicht weil der Gegner das Spiel gewonnen, sondern weil Borussia Dortmund das Spiel verloren hatte.
Das traurige Ausscheiden in der Europa League warf viele unangenehme Fragen auf, die bis tief in die Nachtstunden diskutiert wurden: Wie kann es sein, dass eine mit Weltmeistern, Deutschen Meistern, Pokalsiegern, Champions League Finalisten und Top-Verdienern gespickte Mannschaft „Schiss“ bekommt, wenn sie mit 3:1 vorne liegt und der Gegner noch immer drei Tore schießen muss? Warum wähnten sich Spieler in der entscheidenden Spielphase in unterschiedlichen Systemen? Wo war die Leidenschaft geblieben, die den BVB vor wenigen Jahren noch zum „hottest club Europes“ gemacht hatte? Muss die Mannschaft im Sommer neu zusammengestellt werden oder kann sie die schallende Ohrfeige von Liverpool nutzen, um wieder enger zusammenzurücken? Was ist von einer Saison zu halten, die in der Bundesliga zur besten der Vereinsgeschichte werden und dennoch titellos enden könnte, weil die Nerven versagten, als es zum ersten Mal richtig brenzlig wurde? Könnte ein Sieg im DFB-Pokal die Wogen glätten? Was würde passieren, wenn es im Halbfinale oder Finale erneut eine Niederlage setzen sollte?
Es war eine traurige und skurrile Nacht, in der beinahe alles in Frage gestellt wurde, was bisher doch bestens gelaufen war – die erste Niederlage des Jahres 2016 markierte den tragischen Höhepunkt einer Saison, die bislang so viel besser verlaufen war, als man es je hätte erwarten können. Auch wenn in der Bewertung sicherlich der Frust eine Rolle spielte, werden Mannschaft und Trainerteam in der Sommerpause einige Antworten finden müssen – nicht weil alles Mist, sondern eine halbe Stunde Blödheit einfach eine halbe Stunde zu viel war.
Statistik:
LFC: Mignolet – Clyne, Lovren, Sakho, Alberto Moreno – Milner, Can – Lallana, Firmino, Coutinho – Origi
Wechsel: Allen für Lallana (62.), Sturridge für Firmino (62.), Lucas für Can (80.)
BVB: Weidenfeller – Piszczek, Sokratis, Hummels – Castro, Weigl – Mkhitaryan, Kagawa, Reus, Schmelzer – Aubameyang
Wechsel: Ginter für Kagawa (77.), Gündogan für Castro (82.), Ramos für Reus (83.)
Tore:
0:1 Mkhitaryan (5.),
0:2 Aubameyang (9.)
1:2 Origi (48.)
1:3 Reus (57.)
2:3 Coutinho (66.)
3:3 Sakho (78.)
4:3 Lovren (91.)
Gelbe Karten: Hummels, Piszczek, Schmelzer
SSC, 16.04.2016