Die 30-Punkte-Regel
Früher, als Jürgen Klopp noch als Trainer des BVB amtierte, war sie der unterschwellige Grund dafür, warum man in Dortmund überraschend lange in Ruhe arbeiten konnte: Die 30-Punkte-Regel. In jeder Halbserie würde der BVB sicher 30 Punkte oder mehr einheimsen, und genau diese Punktzahl würde eigentlich immer genügen, um mindestens das Saisonziel zu erreichen. So liest sich die entsprechende Zahlenreihe unter Jürgen Klopp auch sehr beeindruckend:
29 - 30 - 30 - 27 - 43 - 32 - 34 - 47 - 30 - 36 - 32 - 39 - 15 - 31.
Insbesondere erkennt man, dass der BVB auch in den Jahren mit Ausreißern nach oben oder nach unten in einer der beiden Halbserien nur mehr oder weniger den Standard erfüllte: Nimmt man etwa die beiden im Kalenderjahr 2011, so waren sie mit 32 bzw. 34 Punkten gut, aber nicht überragend. Trotzdem reichte es dank der jeweils anderen grandiosen Halbserie zur Deutschen Meisterschaft 2010/11 bzw. 2011/12. Und ähnlich sieht es aus, wenn man die grässliche Hinrunde 2014/15 mit ihren 15 Punkten betrachtet: Selbst in dieser Saison genügten ja die 31 Punkte in der Rückserie, um mit einem blauen Auge davon zu kommen und im nächsten Jahr zumindest weiter europäisch zu spielen.
Die Ansprüche, so scheint's, haben sich seit dem Abgang eines der erfolgreichsten Trainer der Vereinsgeschichte verschoben. Interessanterweise nicht nach unten, wie man auch anhand des personellen Umbruchs im Sommer vielleicht hätte glauben können, sondern tatsächlich nach oben, wenn man die Hysterie der letzten Monate rund um den BVB verfolgt. Die 30 Punkte der diesjährigen Hinrunde gelten in weiten Kreisen als unterdurchschnittlich, selbst wenn sie mehr oder weniger dem entsprechen, was beim BVB seit vielen Jahren der Standard ist. Selbst der Vergleich mit der Konkurrenz fällt in den durchschnittlichen Jahren unter Klopp nicht sonderlich anders aus als jetzt: Durchaus zwar von den Etats her, wo Borussia mittlerweile mit dem ordentlichem Abstand den zweiten Platz einnimmt, nicht sonderlich allerdings hinsichtlich des Tabellenplatzes: Ende 2011 hatte der BVB einen Punkt Vorsprung auf Platz 4, Ende 2012 war der BVB punktgleich mit dem Vierten, Ende 2013 war der BVB Vierter und lag einen Punkt hinter dem dritten Platz. Dieselbe Situation wie 2013/14 sorgt in dieser Saison gefühlt für großen Stress. Mag sein, dass die extrem gute erste Saison unter Thomas Tuchel mit 38 bzw. 40 Punkten in den beiden Runden dazu beigetragen hat, die Ansprüche und Erwartungen exorbitant wachsen zu lassen, aber ein bisschen mehr Realismus (gepaart mit dem Wissen darum, dass es immer mal schlechtere Phasen innerhalb einer Saison gibt) darf es schon sein.
Vermutlich wären alle Beteiligten, insbesondere auch die vereinsnahen Medien und wir Fans, daher gut beraten, einfach mal Druck vom Kessel zu nehmen. Kein Verein der Liga, auch nicht der wieder einmal als Herbstmeister amtierende Branchenprimus aus München, gewinnt im Wochentakt seine Spiele und sieht dabei immer rundweg souverän aus. Dass das Spiel in Bremen nur in der Anfangsphase wirklich gut war, wissen alle Beteiligten, aber vielleicht lässt sich dem eben auch etwas Positives abgewinnen: Das war der erste richtig dreckige Sieg in der Bundesliga, und nach vielen glücklichen und unglücklichen Unentschieden in Serie ist es gut für das Selbstvertrauen, wenn man ein Spiel einfach auch mal gewinnt. Zumal die nächsten Aufgaben nicht leichter werden: Nächstes Wochenende wird es gegen Leipzig eklig, und zuvor wartet mit dem Auswärtsspiel in Mainz eine traditionell unangenehme Aufgabe auf den BVB: Enges Stadion, garstiger Gegner.
Was uns in dieser Saison allerdings in die Karten spielen könnte, ist die überraschende Abwehrschwäche der Gäste aus Mainz. 30 Gegentore nach 17 Spielen werden nur von den Schießbuden aus Bremen und Hamburg getoppt, und zusätzlich suchen Martin Schmidt und sein Team nach dem Abgang von Yunus Malli noch nach einer neuen Struktur in der Offensive. Die Hoffnung bleibt also, dass das Prinzip der fiesen Auswärtsspiele à la Leipzig, Frankfurt, Köln (nämlich hinten sicher zu stehen, irgendwann dann selbst das Tor zu machen und danach kratzend und beißend die Null zu halten), welches die Mainzer über viele Jahre hinweg selbst oft gegen uns praktiziert haben, in diesem Jahr nicht so zum Tragen kommt. Bei einem offenen Schlagabtausch, insbesondere nach der überraschend frühen Rückkehr von Pierre-Emerick Aubameyang vom Afrika-Cup, sollte der BVB jedenfalls favorisiert sein.
Zumal uns, Statistik hin oder her, drei weitere Punkte einfach auch sehr gut tun würden. Zur Wahrheit gehört nämlich auch, dass etwa 60 Punkte wohl kaum für den dritten Platz und auch nur mit ein bisschen Glück für den vierten Platz in der Endabrechnung reichen werden. Ein paar zusätzliche Punkte über den Durst sollten es schon sein, wenn man dieses Übergangsjahr auf einem befriedigenden Tabellenplatz beenden will. Fangen wir Sonntag damit doch einfach mal an.