Finalo furioso
Egal, mit wie vielen Fans man nach dem Spiel zwischen Borussia Dortmund und Werder Bremen sprach, eine Aussage fiel immer wieder: „Wow, was für ein Spiel.“ Und in der Tat beschreibt dieser Satz das 4:3 wohl ziemlich gut, denn dieses Spiel hatte so gut wie alles, was ein Fußballspiel braucht. Und auch die Saison des Ballspielvereins ließ sich gut durch diese 90 Minuten beschreiben. Tolle Stimmung im Westfalenstadion, eine Abwehrleistung, mit der man eigentlich keinen Blumentopf gewinnen kann, gleichzeitig aber auch eine tolle Moral und eine ebenso überzeugende Offensivabteilung. Und am Ende wird im Westfalenstadion eben doch oft alles wieder gut.
Vor dem Spiel
Bevor es sportlich wurde, war zunächst einmal eine deutliche Lücke auf der Südtribüne zu sehen. Die Ultras waren nicht ins Stadion gekommen bzw. sind aus Solidarität wieder abgewandert. Grund dafür war eine eher zweifelhaft übertriebene Maßnahme der Polizei, die aufgrund eines Einsatzes von Rauchtöpfen herausgerückt war. Es entwickelte sich eine kleine Hexenjagd, die ohne weitere Ansagen der Polizei schließlich am Fanprojekt Dortmund endete, das seit der Schließung des Büdchens ein Sammelpunkt für die Ultras und gleichzeitig so etwas wie ein öffentlicher und „geschützter“ Ort ist. Letzteres liegt zum Beispiel daran, dass das Fanprojekt unabhängig vom Verein Borussia Dortmund ist und die öffentlich immer wieder geforderte Fanarbeit zur Gewaltprävention leistet. Diese Arbeit macht man aber ziemlich unmöglich, wenn man diese Räumlichkeiten eben nicht in gewisser Weise als geschützten Ort sieht, sondern mit fleißig
Pfefferspray im Hof des Fanprojekts einläuft. Einzelne Mitglieder wurden in Polizeigewahrsam genommen und schließlich entschieden sich die übrig gebliebenen Ultras dazu, das Spiel nach diesen Vorkommnissen nicht mehr aufzusuchen. Im Stadion waren unterdessen schon Teile der Desperados und Jubos angekommen, die sich aufgrund der Vorfälle wieder zurückzogen. Die Polizei schrieb in einer ersten Meldung vom Einsatz, kommentierte aber weder die Verwendung des Pfeffersprays noch die Tatsache, dass wohl Werderaner Nazi-Hooligans unbehelligt durch das Kreuzviertel ziehen konnten.
Wie eingangs erwähnt war die Lücke im regulären Stimmungsblock kaum zu übersehen, weswegen sie auch von Norbert Dickel vor der Partie – wenn auch ein wenig rätselhaft formuliert – angesprochen wurde. Nobby berichtete davon, dass der ein oder andere es heute wahrscheinlich nicht ins Stadion schaffen werde und es daher anfangs ein bisschen leiser werden könnte, animierte aber gleichzeitig den Rest des Tempels, Stimmung zu machen. Klingt vielleicht erst einmal komisch, es war aber eine wichtige Ansage, denn auf der Südtribüne hatten nur wenige Informationen dazu, warum die Ultras nicht vor Ort waren. Und so versuchte die Süd direkt mit Beginn der Partie, für Ersatz zu sorgen. Marc Bartra, der spontan nicht nur einen Kaderplatz, sondern auch einen in der Startelf einnahm, weil Marcel Schmelzer sich beim Aufwärmen verletzt hatte, wurde begrüßt und gefeiert. Ebenso wurde das mittlerweile gewohnte
„Heja BVB“ noch einmal angestimmt und mit Blick auf die Verhältnisse wurde es in den ersten Minuten sogar erstaunlich laut. Ich werde im Verlauf dieses Berichts sicherlich noch das eine oder andere Mal auf die Stimmung zurück kommen, aber so viel vorneweg: ich war durchaus angetan von der Stimmung im Westfalenstadion. Nun muss man sagen, dass das Spiel natürlich auch einen guten Nährboden für aufkommende Gesänge und intensive Emotionen bot. Schiedsrichterentscheidungen, Tore, Gegentore, die Bedeutung der Partie für das Erreichen der direkten Champions-League-Qualifikation. Das alles sind Faktoren, die man nicht außen vor lassen kann und gerade bei den Werder-Führungen war verständlicherweise weniger von den Heimfans zu hören, sondern bestimmten die gut aufgelegten Werder-Gäste das Geschehen auf den Rängen. Und dennoch: in absoluten Spitzenmomenten merkte man keinen besonderen Unterschied zu anderen Spielen der Saison und es wurde richtig, richtig laut im Westfalenstadion.
Personell ist schon erwähnt worden, dass Schmelzer kurzfristig ausfiel und von Bartra ersetzt wurde. Nuri Sahin wurde ebenfalls keine Woche zu spät wieder fit und konnte somit den Platz des verletzten Julian Weigl einnehmen. Und auf der anderen Seite waren auch die Werderaner vor allem in der Defensive arg gebeutelt, sodass Alexander Nouri ein wenig improvisieren musste. Ein Kaderplatz der Bremer Gäste blieb sogar gänzlich frei.
Erste Hälfte
Nun, wie rollt man diese Partie am besten auf, wenn es sieben Tore zu verarbeiten und einiges zu beschreiben gibt? Sicher nicht, wenn ich beginne, jede einzelne Torchance aufzuarbeiten, nur um meine Chronistenpflicht zu erfüllen. Deswegen hangeln wir uns an den Schlüsselszenen entlang, weil das Spiel auch insgesamt fast die alte Leier war: defensive Unzulänglichkeiten treffen die offensiven und ebenso grenzenlosen Potentiale des Ballspielvereins. Der Abwehrplan ging tatsächlich fast vollkommen nach hinten los, obwohl Werders Offensivtaktik gar nicht so schwer auszurechnen war. Die Nouri-Elf machte das Feld oft breit, in der ersten Hälfte hauptsächlich über die rechte, in der zweiten Hälfte oft über die linke Seite. Und dann reichte häufig ein Pass, um die gesamte Abwehr auszuhebeln. Defensiv wurde viel zu oft viel zu wenig abgesichert und dazu erwischten Leute wie Matthias Ginter mal wieder einen eher gebrauchten Tag. Auf der anderen Seite stand die pure offensive Qualität, mit der sich der BVB fast im Minutentakt Chancen erarbeitete, noch einige auf der Strecke liegen ließ, aber insgesamt genug nutzte. Es war ein irres Spiel mit vielen Highlights.
Das erste davon ereignete sich beim 0:1 schon nach sieben Minuten und nach dem Einsatz von Torlinientechnologie, die erst aufzeigen konnte, dass Roman Bürkis klasse Rettungsaktion gegen einen Nachschuss von Zlatko Junuzovic zu spät kam, da der Ball schon hinter der Linie war. Nun sah es zunächst nach Weiterspielen aus, auch Schiedsrichter Günter Perl guckte kurioserweise zunächst auf seine Uhr und zeigte an, dass es weitergehe, nur um dann Sekunden später doch auf Tor für Werder zu entscheiden. Wie die Bilder beweisen eine korrekte Entscheidung, die sich aber zumindest komisch anfühlte.
Nach einem Reus-Angriff, der nur an die Latte prallte und einem verwehrten Elfmeter nach Foul von Moisander an Aubameyang brauchte es dann bis zur 32. Minute, bis die BVB-Fans jubeln konnten. Shinji Kagawa, der mit dieser Partie einmal mehr fleißig Argumente für eine zeitnahe Vertragsverlängerung sammelte, passte seinen Steilpass in den Strafraum perfekt ab und setzte somit Reus in Szene, der den Ball irgendwie – und ich tue mich wirklich schwer, genau zu beschreiben, wie er das geschafft hat – artistisch, grandios, aber sicherlich auch ein bisschen glücklich an Wiedwald vorbei ins Tor zwirbelte. Zwischenzeitlich war der HSV in Rückstand geraden, was die Bremer mit einem „Zweite Liga, Hamburg ist dabei“ kommentierten. Nach all den Jahren scheinen die Werderaner nicht unbedingt verstanden zu haben, wie die Bundesliga funktioniert und dass der HSV wohl eher nicht mehr absteigen wird, egal was auch passiert.
Nach dem Ausgleich ging es auf beiden Seiten hoch her. Für Borussia rettete Bürki, vor dem Werder-Kasten gab es das schönste Tor des Tages zu bestaunen. Kagawa leitete den Angriff erneut mustergültig mit einer klasse Ballannahme an, Dembélé erreichte mit einem Heber Aubameyang, der das Leder direkt per Volley unter die Latte knallte. Ein Tor, das man sich immer wieder angucken kann und über das man immer wieder erneut ins Staunen gerät.
Zweite Hälfte
Auch die zweite Halbzeit startete mit defensiven Unzulänglichkeiten. Hatte ich vor dem Spiel noch erstaunt auf die Tabelle geguckt und festgestellt, dass der BVB zusammen mit Raba Leipzig und der TSG Hoffenheim die zweitwenigsten Gegentore der Liga kassiert hatte, wurde ich am Samstag wieder daran erinnert, warum ich so erstaunt darüber war. Es waren wieder schwache Absicherungen nach hinten und einfache Pässe, die Riesenlücken in die Dortmunder Abwehr rissen. Werder konnte fast machen, was es wollte und so war das Spiel nach dem schnellen Ausgleich von Bartels und dem Heber von Max Kruse nach 68 Minuten erneut gedreht worden.
Und weil man auf der Pressetribüne noch nicht genug angepisst war, weil der BVB drohte, die sichere Champions League-Qualifikation und beeindruckende Heimserie einfach so wegzuschmeißen, mussten manche Kunden aus einer VIP-Box noch einen draufsetzen. Ohrenbetäubendes Techno-Gedröhne überschallte die Pressetribüne, wirkliches Interesse am Fußballspiel hatten nur wenige Personen, die vor der VIP-Box saßen. Ansonsten ging es wohl eher um Suff und Party. Fußball im Jahr 2017.
Spätestens der Ausgleich per Foulelfmeter setzte aber wieder Kraftreserven beim Dortmunder ultra-losen Anhang frei. Vielleicht auch, weil Pierre-Emerick Aubameyang, der zu diesem Zeitpunkt gleichauf mit Lewandowski um die Torschützenkanone kämpfte, sich für das Wohl der Mannschaft interessierte und den Ball für den Strafstoß nach Foul an Reus an den Gefoulten abgab, nachdem Aubameyang zuletzt wiederholt verschossen hatte.
Reus schnappte sich also den Ball und traf, worauf das ganze Stadion sich erhob und „Unser ganzes Leben, unser ganzer Stolz“ schmetterte. Über mehrere Minuten hinweg blieben dabei sogar die Sitzplatztribünen auf ihren zwei Beinen. Angestachelt von dieser Atmosphäre und wohl auch mit dem unbedingten Willen, die CL-Quali klar zu machen, setzte die Borussia nach und sicherte sich nach Foul an Pulisic den zweiten (meiner Meinung nach auch berechtigten) Foulelfmeter. Und dieses Mal durfte dann auch Aubameyang ran, zur Skepsis vieler, aber letztlich zum guten Ende und zum tollen Schlusspunkt eines wahnsinnigen Spiels, dass die Borussia dank der grandiosen Offensiv-Abteilung mit 4:3 für sich entscheiden konnte.
Nach dem Abpfiff
Denkwürdige Szenen gab es auch nach dem Abpfiff. Die Süd schaffte es auch ohne organisierten Support ein durchaus beachtliches „Europapokal“ anzustimmen und Marc Bartra kämpfte mit den Tränen, was besondere Gänsehaut hervorrief. Nachdem der Spanier, der wohl zu den positivsten Menschen dieses Planeten gehört, zunächst von einigen Mitspielern getröstet und dann vor die Süd geschubst wurde, ragte er seinen immer noch getapten Arm in die Höhe. Ganz als wollte er sagen „Mich und uns kriegt keiner tot“. Verdienter Applaus, erneute Marc Bartra-Sprechchöre und als die Nummer 5 dann wieder in den Kreis der Mannschaft zurückkehrte, weinte er in sein Trikot. In diesen
Minuten konnte einem noch einmal bewusst werden, wie viel Glück man hatte, dass nun zum Ende der Saison alle Spieler nach dem Anschlag auf den BVB-Bus in der Lage sind, Fußball zu spielen. Mit Peter Kuhnt wurde dann der Masseur verabschiedet, der seit 1994 (!) für den BVB tätig war und auch noch einmal gefeiert wurde, ehe sich die Nachricht herum sprach, dass Pierre-Emerick Aubameyang alleiniger Gewinner der Torschützenkanone geworden ist. So wurde auch der 31-Tore-Mann noch einmal gefeiert und auch er hatte mit den Tränen zu kämpfen, die wohl nicht nur das einzige Zeichen sind, das darauf hindeutet, dass er in der kommenden Spielzeit nicht mehr beim BVB spielen wird. Falls dies so sein sollte, danke für die vielen schönen und wichtigen Tore, PEA17!
Was für ein Tag.
Statistik
Borussia Dortmund: Bürki – Ginter, Sokratis, Bartra – Durm (46. Pulisic), Sahin (72. Castro), Guerreiro, Dembélé (90. Bender), Kagawa – Aubameyang, Reus
Werder Bremen: Wiedwald – Veljkovic, L. Sané (86. Eggestein), Moisander – Gebre Selassie (46. Gnabry), Delaney, U. Garcia – Grillitsch (73.
Bargfrede), Junuzovic – Bartels, Kruse
Tore: 0:1 Junuzovic (7.), 1:1 Reus (32.), 2:1 Aubameyang (42.), 2:2 Bartels (46.), 2:3 Kruse (68.), 3:3 Reus (75./Foulelfmeter), 4:3 Aubameyang (89./Foulelfmeter)
Gelbe Karten: Sokratis, Sahin, Dembélé, Kagawa – Veljkovic, Bartels
Schiedsrichter: Günter Perl (Pullach)
Zuschauer: 81.360 (ausverkauftes Westfalenstadion)
Vanni, 21.05.2017