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Der BVB, Favre und die Frage der Meisterschaft

21.07.2020, 11:00 Uhr von:  Gastautor
Der BVB, Favre und die Frage der Meisterschaft
Lucien Favres Zukunft bleibt Gesprächsthema

In der Woche nach dem “Klassiker” Ende Mai habe ich mir die neueste Folge des BVB-Podcast der Ruhr Nachrichten angehört, was ich sehr regelmäßig tue, da er genau wie "Auffe Ohren" zu den Guten gehört. Die Folge beschäftigte sich mit der Aufarbeitung des Spiels gegen die Bayern und natürlich ging es unter anderem auch wieder einmal um Lucien Favre und seine Zukunft beim BVB.

In der Sendung werden für gewöhnlich Hörerfragen diskutiert und Lucien Favre kommt dort sehr häufig zur Sprache, meistens kritisch, einen wirklich guten Stand unter BVB-Fans hat er allem Anschein nach so recht noch nie gehabt. Ist er ein Mann für die großen Spiele? Kann er den BVB wirklich zu Titeln führen? Hat er das Zeug, alles aus einer Mannschaft herauszuholen? Findet er die richtige Ansprache? Ist er an der Seitenlinie emotional genug? Die Liste ließe sich fortsetzen.

Ich finde die allgegenwärtige, latente Kritik an Lucien Favre, die sich zu Gelegenheiten wie der symbolträchtigen Niederlage gegen die Bayern im Mai immer wieder auf manifeste Weise Bahn bricht, zwar aus emotionalen Gesichtspunkten nachvollziehbar, aber im Prinzip für deutlich zu kurz gesprungen, um die sportlichen Leistungen (oder Fehlleistungen) des BVB in den letzten Jahren angemessen zu würdigen.

Es gibt nur wenige empirisch wirklich robuste Zusammenhänge im Fußball. Einer davon ist, dass der sportliche Erfolg eines Vereins enorm stark positiv mit der Menge des in den Spielerkader investierten Geldes korreliert. Je mehr ein Verein für seine Spieler ausgeben kann, desto erfolgreicher ist er und je mehr Geld insgesamt im Fußball bewegt wird, desto stärker ist dieser Zusammenhang. Die Bayern geben Jahr für Jahr ca. gut 50% mehr für die Gehälter ihrer Spieler aus als der BVB. Im Geschäftsjahr 2018/19 lagen die Ausgaben für den Gehälter im Lizenzspielerbereich bei den Bayern bei ca. 265-275 Millionen Euro, beim BVB waren es ca. 167 Mio. Euro. Es folgen Bayer Leverkusen, VfL Wolfsburg, FC Schalke 04 und RB Leipzig, die alle ungefähr bei 95 - 110 Mio. Euro liegen. Damit hat der BVB seinerseits ca. 30-50% Vorsprung auf die Kohorte der direkt hinter ihm liegenden Vereine in der Rangliste der Kaderbudgets.

Um ein Bild im Kontext der kürzlich begonnen Formel 1 Saison zu bemühen: Lucien Favre kann seinen Motor noch so gut tunen, mit einem Formel 2-Wagen wird er kaum jemals ein Rennen gegen einen Formel 1-Wagen gewinnen können, es sei denn, der Formel 1-Wagen hat einen Motorschaden (Zerwürfnis der Spieler mit dem Trainer, große Teile der Mannschaft fallen für längere Zeit aus, massiver Trubel hinter den Kulissen o. ä.). Dies ist allerdings bei einem gut geölten Fußball-Motor wie dem FC Bayern nur selten der Fall, und wenn doch, wird der Fehler in Rekordzeit repariert. Gleichzeitig muss sich der BVB (noch) keine wirklichen Sorgen machen, von der Gruppe der ihn jagenden Formel 3-Wagen der restlichen Liga überholt zu werden, auch wenn RB Leipzig seinem Motor seit einigen Jahren mit hochoktaniger roter Brause immer größere Flügel verleiht.

Da es sich bei diesen Betrachtungen natürlich nicht um deterministische Zusammenhänge handelt, sondern um statistische, die immer einer gewissen Varianz unterliegen, heißt das in der Conclusio: In Anbetracht der relativen Differenzen beim Personalaufwand nach oben und nach unten befindet sich das natürliche Habitat des BVB in der Endtabelle auf Platz zwei, manchmal drei und wenn es schlecht läuft vielleicht auch einmal vier. Damit das Team allerdings am Ende einer Saison auf Platz eins landet, muss schon einiges zusammenkommen. Favre hat folglich mit dem BVB im letzten Jahr mit Platz zwei präzise im Rahmen des zu erwarteten geliefert und diese Leistung in diesem Jahr punktgenau wiederholt. Für Thomas Tuchel vor ihm galt das genauso, ebenso für Jürgen Klopp, der es sogar vermocht hat, den BVB zweimal in Folge auf den ersten Platz zu hieven. Sogar in der Katastrophensaison unter Peter Bosz und Peter Stöger ist das Team am Ende Vierter geworden.

Das zu erwartende Ergebnis der Bayern hingegen kann, den Finanzen gemäß, immer nur der erste Platz sein. Sie haben nun einmal die teuerste und stärkste Mannschaft der Bundesliga und werden sich in den meisten Spielen gegen jeden Gegner durchsetzen, auch den BVB. Das mag man als Fan bedauern und die Situation verfluchen, es aber Favre anzukreiden wird der Sachlage nicht gerecht.

1. Finanzielle Möglichkeiten

Meines Erachtens muss man das Pferd ganz anders aufzäumen: Wenn der BVB dauerhaft ein realistischer Meisterschaftskandidat werden möchte, dann braucht es keinen besseren Trainer als Lucien Favre (oder zumindest nicht als erste Maßnahme), sondern der Verein muss zunächst einmal mehr Geld in seinen Spielerkader investieren (können). Annähernde Augenhöhe mit den Bayern beim Spielerbudget ist eine Conditio-sine-qua-non für realistische Meisterschaftsambitionen. Einem Spieler, dem es in allen Fragen im Prinzip gleich recht ist, ob er zum BVB oder den Bayern geht und der sich nur nach dem Gehalt entscheidet, muss der BVB potenziell genauso viel bieten können wie die Bayern.

Das dafür nötige Geld kommt mit regelmäßiger Teilnahme an der Champions League, wo den BVB jedes Jahr für Jahr Dutzende von Millionen Euro allein für die Teilnahme erwarten, sowie steigender internationaler Präsenz und die Erschließung neuer Märkte, was Werbe-, Sponsoring- und Merchandising-Einnahmen ankurbelt. Da scheint mir der BVB auf einem guten Weg zu sein. 2014 eröffnete der Verein eine Niederlassung in Singapur, 2017 folgte eine in Shanghai. Zudem begibt sich der Verein regelmäßig auf sogenannten "Sommer Touren" nach Asien oder in die USA, womit er jedes Mal zigtausende Fans begeistert und viele neue gewinnt. In beiden Bereichen ist der BVB sehr erfolgreich, was die operativen Umsätze seit Jahren kontinuierlich steigen lässt, auch wenn sie in den letzten Jahren durch sehr clevere bzw. glückliche Transfercoups noch einmal etwas höher ausgefallen sind als normalerweise aus dem organischen Geschäft heraus zu erwarten gewesen wäre.

Eine finanzielle Parität mit den Bayern halte ich zwar für eine notwendige Bedingung dafür, dass der BVB überhaupt grundsätzlich meisterschaftsfähig wird, aber alleine noch für nicht hinreichend.* Fast genauso wichtig ist meines Erachtens ein grundlegender Kulturwandel bei dem Verein, der ihn sein aktuelles Selbst- und Außenbild vom Ausbildungsverein ablegen lässt und durch das Selbstverständnis eines natürlichen Meisterschaftskandidaten und selbstverständlichen Champions-League-K.O.-Phase-Aspiranten ersetzt. Dies halte ich aus zweierlei Gründen für entscheidend: Zum einen, damit der Verein ein attraktives Image auf dem Transfermarkt aufbauen kann, mit dem er leistungs- und erfolgsorientierte Spieler aller Altersklassen anziehen und auch auf Dauer halten kann; und zum zweiten, damit sich bei ihm eine leistungsförderliche Kultur etabliert, die dem Team das mentale Rüstzeug verleiht, in den entscheidenden Spielen mit den allerbesten Mannschaften mithalten zu können.

2.1. Attraktivität auf dem Transfermarkt

Ein solcher grundlegender Wandel seiner Vereinskultur stellt für den BVB meines Erachtens eine ungleich größere Herausforderung dar als die stetige Verbesserung seiner finanziellen Situation und damit bessere Gehaltsmöglichkeiten für seine Spieler, die dem Verein anerkennenswert gelingt. Wenn ich zuerst einen Blick auf das Thema Transfers und Attraktivität für Spieler werfe, fällt mir auf, dass der BVB gerade zur Zeit einen nachgerade faustischen Deal eingegangen zu sein scheint: Er hat eine unheimlich starke Anziehungskraft auf junge Talente – Stichwort Haaland, Sancho, Reyna, Hakimi und gerade Bellingham –, die, so scheint es, momentan lieber denn je zum BVB wechseln und diesen Verein sogar im internationalen Vergleich vielen anderen bewusst vorziehen. Dafür steht im Gegenzug außer Frage, dass diese Spieler in der Regel nicht lange bleiben werden, sondern zum nächsten, größeren Verein weiterziehen, sobald sie sich sportlich bewiesen und auf sich aufmerksam gemacht haben. Dieses Muster entspricht in weiten Teilen dem, was man gemeinhin einen typischen Ausbildungsverein nennt.

Im starken Kontrast dazu steht etwa der FC Bayern. Der FC Bayern ist einer der Vereine, zu dem die Spieler des BVB wechseln, wenn sie den nächsten Schritt in ihrer Karriere gehen wollen. Spieler, die zu den Bayern wechseln, bleiben dort in aller Regel auch, es sei denn sie versagen sportlich. Beim BVB ist es anders. Spieler, die dorthin wechseln bleiben dort in der Regel nicht, wenn sie sportlich erfolgreich sind. Ein Blick auf das Dienstalter der tragenden Spieler bei beiden Vereinen sowie auf einige der Transfers der letzten Jahre verdeutlicht dies anschaulich: Von den Spielern, die in den letzten fünf bis zehn Jahren bei den Bayern zum Kern der Mannschaft gehörten, spielt Thomas Müller bereits seit über zehn Jahren für den Verein, David Alaba, Manuel Neuer und Jérôme Boateng kommen auf knapp zehn, es folgen Javi Martinez mit acht, Thiago mit sieben und Robert Lewandowski mit sechs. Sogar Joshua Kimmich spielt schon seit knapp fünf Jahren für die Bayern.

Wie sieht es dagegen beim BVB aus? Die momentan dienstältesten Spieler sind Marcel Schmelzer mit ca. zwölf Jahren Vereinszugehörigkeit, gefolgt von Lukasz Piszczek mit zehn und Marco Reus mit acht. Dann folgt bereits Roman Bürki mit fünf. Welcher dieser Spieler, mit Ausnahme von Marco Reus (wenn er fit ist), ist über all seine Jahre beim BVB hinweg wirklich kontinuierlich ein Leistungsträger von internationaler Klasse gewesen? Bezeichnend ist, dass Mario Götze und Mats Hummels, die sonst auch in der Liste der dienstältesten Spieler auftauchen würden (bzw. Götze zumindest bis vor kurzem), zwischendurch den Verein gewechselt haben – und zwar zu den Bayern.

Dasselbe gilt in Bezug auf die Verweildauer junger Talente und “Nachwuchsstars”. Einige Beispiele: Joshua Kimmich habe ich bereits erwähnt. Er ist erst 25 und trotzdem bereits seit fünf Jahren bei den Bayern. Das Supertalent Alphonso Davies ist erst 19 und hat seinen Vertrag bei den Bayern gerade bis 2025 verlängert. Kingsley Coman ist 23, Serge Gnabry 24, Benjamin Pavard ebenfalls. Bei all diesen und vielen weiteren, jungen Spielern im aktuellen Kader der Bayern ist es viel wahrscheinlicher, dass der FC Bayern sie abgibt, weil sie sich sportlich nicht durchsetzen konnten, als dass sie von sich aus zu einem anderen Verein weiterziehen.

Und beim BVB? 2019 musste man den 23-Jährigen Abdou Diallo nach nur einem Jahr aus Mainz kommend in Richtung PSG weiterziehen lassen. 2018 wollte der damals 19-Jährige Christian Pulisic den Verein gen Chelsea verlassen, was sich der BVB immerhin sehr fürstlich entlohnen ließ. 2017 war es der damals 20-Jährige Ousmane Dembélé, der sich seinen Abschied vom BVB geradezu erstreikte, weil der große FC Barcelona rief. Mit etwas augenzwinkernder Häme könnte man sagen, dass keiner dieser drei Vereine, PSG, Chelsea oder Barca, bei den Bayern überhaupt je angeklopft hätte, um um einen Transfer eines ihrer jungen Nachwuchsstars zu ersuchen.

2018 wollte der damals 19-Jährige Christian Pulisic den Verein gen Chelsea verlassen

In Bezug auf die Situation bei gestandenen Spielern in beiden Mannschaften gestaltet sich das Bild ähnlich. Der BVB hat im Laufe der Jahre immer wieder einige seiner zu dem Zeitpunkt absoluten Leistungsträger abgegeben bzw. abgeben müssen: Mario Götze 2013, Robert Lewandowski 2014, Henryk Mkhitaryan und Mats Hummels 2016 und Pierre-Emerick Aubameyang (parallel zu Ousmane Dembélé) 2017. Die großen Namen hingegen, die die Bayern verlassen haben, gingen entweder in Fußball-Rente bzw. in den sehr späten Abend ihrer Fußballkarriere (Franck Ribery, Bastian Schweinsteiger, Arjen Robben) oder haben sich sportlich nicht durchsetzen können (Douglas Costa, Renato Sanches, Xerdan Shaqiri, Mario Götze, Arturo Vidal und mit Abstrichen auch Mats Hummels). Einzig Toni Kroos’ Abgang 2013 war ein Transfer, bei dem die Bayern nicht die weitgehende Kontrolle über die Ereignisse gehabt zu haben schienen und den sie im Nachhinein bedauern dürften.

In der Gesamtschau all dieser Spielerbewegungen zeichnet sich ein Bild, was meiner Meinung nach eindeutig ist. Sowohl in Bezug auf die Verweildauer junger Talente als auch gestandener Leitungsträger muss der BVB einen Entwicklungsschritt nach vorne vollziehen. Wie ich oben bereits sagte, ist der Verein wirtschaftlich auf einem guten Weg und setzt gerade neue Maßstäbe in Bezug auf Nachwuchsarbeit, professionelles Scouting und die Anwerbung vielversprechender Supertalente. Aber welchen dieser Stars von morgen wird der Club wirklich langfristig halten können? Wahrscheinlich nicht viele. Bei fast allen scheint es nur eine Frage der Zeit, bis sie zum nächsten, größeren Verein wechseln werden. Manchmal hat dies anscheinend primär wirtschaftliche Gründe (z.B. Hakimi), in aller Regel aber liegt es daran, dass der Spieler den BVB nicht als sein dauerhaftes Wunschziel ansieht (z. B. Sancho, Haaland). Um aber langfristig mit Vereinen wie den Bayern mitzuhalten, wird der BVB ein attraktives Ziel auch für solche Spieler werden müssen, die ihn als Zielverein ansehen, bei dem sie auf Dauer spielen wollen, und nicht als Sprungbrett für einen späteren Wechsel zu ihrem endgültigen Traumverein – und dies zwar sowohl bezüglich junger Talente als auch solcher Spieler, die in der Blüte ihrer Karriere stehen.

Hierfür halte ich einen grundlegenden Wandel der Vereinskultur beim BVB und eine entsprechende Änderung seines Images nach außen zwingend vonnöten. Wenn es der BVB nicht schafft, einen Kulturwandel zu vollziehen, der ihn sein Image als Ausbildungsverein und Zwischenstation verlieren lässt, dann wird für ihn der Kampf um die Meisterschaft für immer ein Bergaufgefecht bleiben. Nicht nur muss er allein schon um das aktuelle sportliche Niveau zu halten (von sich verbessern ganz zu schweigen), jedes Jahr übermäßig viel Energie in das Scouting und Recruiting neuer Spieler investieren. Mehr noch, wenn er darüber hinaus sogar zur finanziell potenteren und sportlich mit höheren Ansprüchen versehenen Konkurrenz aus München und international aufschließen möchte, muss er in Sachen Scouting und Anwerbung neuer Spieler sogar systematisch deutlich besser sein als diese, um trotz der schlechteren finanziellen Ausgangslage den Nachteil beim Image auszugleichen und auf Augenhöhe wettbewerbsfähig zu sein. Was dieser Zwang zum besser sein für den BVB bedeutet, kann man quasi emblematisch an den Ausgaben des Vereins für Berater und Spielervermittler in der abgelaufenen Saison ablesen. Mit rund 44 Mio. Euro war der BVB in dieser Kategorie mit Abstand Tabellenführer - vor den Bayern auf Platz 2 mit rund 30 Mio. Euro.

Ein professionelles Scouting und Recruiting ist naturgemäß schwierig. Welche Spieler werden einschlagen? Wo finden wir diese? Wie können wir ihnen einen Wechsel zu uns schmackhaft machen? Wie können wir sie schneller an uns binden als die Konkurrenz? Wie minimieren wir das Risiko kostspieliger Fehlinvestitionen? Wie können wir die guten Spieler motivieren, länger zu bleiben? Das ist ungefähr so, als wenn ein Aktienfonds-Manager mit seinem Portfolio jedes Jahr aufs Neue versuchen müsste, die eigentlich potentere Konkurrenz zu schlagen, die mit denselben Aktien handeln möchte. Wenn er nicht kontinuierlich systematisch bessere Informationen hat als seine Wettbewerber, kommt das einem Glücksspiel gleich. Und an den Parametern Finanzen, Image auf dem Transfermarkt und Vereinskultur kann Lucien Favre (oder überhaupt irgendein Trainer des BVB) nicht viel ändern außer sicherzustellen, dass er den Verein jedes Jahr die Champions League führt, was er ja zumindest bisher problemlos schafft.

2.2. Leistungsförderliches Umfeld

Damit komme ich zum zweiten Punkt, bei dem ich die Vereinskultur des BVB neben ihrer Bedeutung für Image und Spielerbindung für maßgeblich halte, wenn er auf Dauer zu einem natürlichen Meisterschaftskandidaten werden möchte: Die vielgescholtene – aber dennoch fundamental wichtige – Siegermentalität (Leistungskultur). Meiner Meinung nach ist die grundlegende Geisteshaltung der Spieler zu ihrer Arbeit eine ganz entscheidender Faktor für den dauerhaften sportlichen Erfolg eines Vereins: Mit welchem Selbstverständnis streife ich das Trikot über? Mit welcher Motivation wechsele ich überhaupt zu dem Verein? Was will ich gewinnen? Mit welcher Einstellung betrete ich den Platz, egal ob beim Training, gegen den Tabellenachtzehnten oder gegen den Meister?

Bei den Bayern ist jedem einzelnen Spieler vollkommen klar, dass hier nur absolute Leistung und Gewinnen zählt. Gewinnen, gewinnen, gewinnen und alles geben. Jeden Tag. Bei den Bayern gibt es kein “wir gucken mal und wenn wir am Ende zweiter werden, ist es auch gut. Hauptsache Champions League". Es gibt kein “wir wollen Meister werden”, es gibt nur ein “wir werden Meister”. Nur die Meisterschaft zählt und bestenfalls das Triple. Dies ist das Anspruchsniveau, welches jeder einzelne Spieler bereits von sich aus mitbringt oder sonst innerhalb kürzester Zeit von seinen Mitspielern vermittelt bekommt bzw. durch die tief im Verein verankerte Leistungskultur in sich aufsaugt, in die dieses Mantra des Gewinnen-Wollens, dieser bedingungslose Leistungsgedanke und diese juckende Unzufriedenheit mit allem unterhalb des ersten Platzes untrennbar eingewoben ist.

Ich bin davon überzeugt, dass es bei einem Spieler neben seinem körperlichen Potenzial, seiner Technik, seiner Spielintelligenz und seinem taktischen Verständnis auch einer tief verankerten Anspruchshaltung bedarf, sich nur mit dem Besten zufrieden zu geben und immer sein Äußerstes zu geben, damit sportliche Höchstleistungen möglich sind. Natürlich hat eine solche “winning mentality” im Rückbezug wiederum unmittelbare Auswirkungen auf die Attraktivität des Vereins für neue Spieler am Transfermarkt. Spieler, die ohnehin schon von sich aus immer alles gewinnen wollen und sportlich nur mit dem Erreichen höchster Ansprüche zufrieden sind, werden eher zu einem Verein wechseln, bei dem sie eine Vereinskultur erwarten können, die ihrer eigenen Mentalität entspricht.

Spieler mit einer "winning mentality" sind rar beim BVB

Quo vadis, BVB?

Ich glaube, dem Aspekt seiner Vereinskultur wird sich der BVB mit größerer Aufmerksamkeit als vielleicht bisher schon zuwenden müssen, wenn aus dem Verein wirklich auf Dauer ein realistischer und regelmäßiger Meisterschaftskandidat werden möchte, der den Bayern Paroli bieten kann. Außenbild, Vereinskultur sowie Anspruchsniveau der Spieler und Erwartungen an die Spieler müssen eine Einheit bilden. Um bei diesen Parametern vom Istzustand zum Sollzustand zu kommen, bedarf es eines Kulturwandels. Dieser ist die Basis eines leistungsförderlichen Selbstverständnisses sowie das Fundament der Mentalität der Spieler. Ein solcher Kulturwandel allerdings kann nicht primär vom Trainer ausgehen. Die Organisationstheorie lehrt, dass er immer von oben initiiert und vorgelebt werden muss. Sprich: Eine “winning mentality” muss in den Köpfen von Leuten wie Aki Watzke und Michael Zorc zu einer echten inneren Überzeugung reifen, sich dann in den Zielen und Visionen des Vereins niederschlagen und bis hinunter auf die in Fußballvereinen so typischen überdimensionalen Kalendersprüche an den Wänden fortsetzen. Gleichzeitig muss sie von oben nach unten durch entsprechendes Verhalten vorgelebt werden und sich somit sukzessive in den Köpfen der Mitarbeiter und der Spieler festsetzen. Und ob der Trainer nun Lucien Favre heißt oder sonstwie, auf die Frage, welche Vereinskultur und langfristigen Ziele sich der BVB als ganzes geben möchte, hat ein Trainer gemeinhin nur wenig Einfluss – es sei denn, kurioserweise, es handelte sich vielleicht um Jürgen Klinsmann, der vielleicht kein herausragender Trainer ist, aber definitiv ein Transformator auf allen Ebenen, aber ich bezweifle, dass der BVB den in Bälde anheuern möchte.

Daher halte ich die Kritik an Lucien Favre auch für nur begrenzt gerechtfertigt. Natürlich muss man nicht zwei Jahre in Folge im DFB-Pokal erbärmlich gegen Werder Bremen ausscheiden. Natürlich muss man nicht zwei Jahre in Folge in den entscheidenden Spielen in der Champions League ein eher unglückliches Bild abgeben. Ja, Favre ist vielleicht kein “big game coach”. Aber es stellt sich doch die Frage, was es über die Mentalität und die Kultur bei einem Verein eigentlich aussagt, wenn es eines "big game coaches" überhaupt bedarf, damit das Team in wichtigen Momenten sportlich wirklich da ist und Leistung bringen kann. Und damit schließt sich der Kreis. Die Vereinskultur ist das Problem, nicht Favre. Dass die Mannschaft in wichtigen Spielen unter ihm versagt, wird ihm angelastet, aber die Gründe dafür liegen viel tiefer. Nüchtern betrachtet müsste man Favre sogar einen ziemlich guten Job attestieren. Denn gemessen an seinen Ergebnissen rangiert er am oberen Ende seiner Möglichkeiten. Rein statistisch gesehen sortiert er sich bei vielen Kennzahlen im Vergleich mit seinen diversen Vorgängern ganz oben ein. Kurzum, die bittere Wahrheit ist: Wenn sich an den finanziellen Kräfteverhältnissen in der Liga und bei Leistungskultur und Selbstverständnis des BVB nicht irgendetwas grundsätzlich ändert, wird der Verein aller Wahrscheinlichkeit auch in den nächsten Jahren genauso wenig Meister wie in diesem oder im letzten, egal ob der Trainer nun Lucien Favre heißt oder nicht.

*Pessimisten mögen vielleicht sagen, dass sie an dieser Stelle aufhören könnten zu lesen, weil eine finanzielle Parität mit den Bayern ohnehin niemals eintreten wird. Die Bayern machen international auch einen guten Job und nehmen ebenfalls ständig an der Champions League teil.

20.07.2020, Alexander, seit Juli letzten Jahres Übersetzer und gelegentlicher Autor für das FC Bayern Fanblog "Miasanrot"

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