Fatale Fehleinschätzung der Polizei provoziert Eskalation im Stadion
Eine Fehlentscheidung der Polizei provozierte gegen Hertha BSC eine Eskalation im Stadion, in deren Folge sich Polizei und Ultras beschämende Szenen vor den Augen der Öffentlichkeit lieferten. Ein Bärendienst für das Verhältnis zwischen Polizei und Ultras.
Es waren beschämende Bilder, die sich der Öffentlichkeit am Samstagnachmittag im Westfalenstadion boten: Fußball-Ultras von Hertha BSC und Polizisten lieferten sich vor mehr als 80.000 Zuschauern im Westfalenstadion und vor laufenden Kameras eine heftige Auseinandersetzung. Während seitens der Fußballfans Fahnenstangen und - absolut verachtenswert - in einem Fall auch geworfene Pyrotechnik als Waffe benutzt wurden, reagierte die Polizei mit Pfefferspray und Schlagstockhieben auf den Widerstand aus dem Fansektor.
Auslöser für diese hässlichen Szenen war die versuchte Sicherstellung einer Blockfahne durch die Polizei. Diese Blockfahne mit den Aufschriften „15 Jahre Hauptstadtmafia“ und „Ultras bis zum Schluss“ wurde zum Spielbeginn vor den Gästeblöcken 60 und 61 hochgehalten, während in den Reihen dahinter zahlreiche Bengalos und Rauchtöpfe zur optischen Unterstützung der Choreografie gezündet wurden. Infolgedessen hätten sich laut späterer Polizeimitteilung „10 unbeteiligte Besucher der Veranstaltung mit Verletzungen der Atemwege“ gemeldet, die „ärztlich versorgt werden mussten“. Definitiv keine schöne Bilanz.
Sicherstellung der Blockfahne zur Verhinderung von Straftaten
Die bereits angesprochene Blockfahne wurde nach der Choreografie vor dem Gästeblock abgelegt, war den Hertha-Fans somit unmittelbar während des Spiels auch nicht mehr zugänglich. Weitere Vorbereitungshandlungen für den Einsatz von großflächiger Pyrotechnik waren nicht zu erkennen. In den Minuten danach entschied der Einsatzleiter der verantwortlichen Polizei Dortmund, Edzard Freyhoff, jedoch, dass die vor dem Gästeblock liegende Blockfahne sichergestellt werden sollte. Hierdurch hätten nach Angaben der Polizei in der anschließenden Pressemitteilung weitere Straftaten verhindert werden sollen.
Auf einer Pressekonferenz am Montagnachmittag schilderte der Dortmunder Polizeipräsident Gregor Lange seine Eindrücke aus dem Stadion: „Es gab keinerlei Rücksicht auf die friedlichen Stadionbesucher. Es wurde aus dem Schutz einer Fahne Straftaten vorbereitet und durchgeführt.“ Die Fragestellung, ob es sich bei dem Abbrennen der Pyrotechnik am Samstag tatsächlich um Straftaten handelt oder um eine Ordnungswidrigkeit, soll an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden, zumal es für die Beurteilung des Einsatzes von nachrangiger Bedeutung ist. „Das Banner wurde zum Abbrennen der Pyrotechnik benötigt, um dies vorzubereiten und sich dahinter zu verstecken“, erklärte Freyhoff am Montag - und ergänzte: „Nach unserer Bewertung wäre das Banner weiterhin dazu genutzt worden, um weitere Straftaten zu begehen.“ Dies sei schließlich ausschlaggebend für die Entscheidung gewesen, die Blockfahne sicherzustellen.
Situation hatte sich nach der Choreo normalisiert
Es ist hier nun jedoch in hohem Maße fraglich, wie die Einsatzleitung der Polizei um Edzard Freyhoff zu der Einschätzung gelangen konnte, dass mit einer auf dem Boden vor dem Gästeblock liegenden und für die Berliner Fans somit nicht mehr unmittelbar zugänglichen Blockfahne weitere Aktionen hätten vorbereitet werden sollen - zumal solche Vorbereitungshandlungen im Gästeblock auch nicht wahrzunehmen waren. Die Situation schien sich nach der gezeigten Choreografie vielmehr normalisiert und dem Spielgeschehen auf dem Rasen zugewendet zu haben - bis durch die Polizei die fatale Entscheidung getroffen wurde, die Einsatzkräfte am Gästeblock aufziehen zu lassen, um die Fahne sicherzustellen.
Nun ist Edzard Freyhoff wahrlich kein Anfänger in der Führung von Einsätzen bei Fußballspielen im Westfalenstadion - er selbst betonte am Montag seine fünfjährige Erfahrung in dieser Position. Entsprechend sei ihm der extrem hohe Stellenwert der eigenen Zaunfahne für die aktive Fanszene bewusst, der standardmäßig so weit geht, dass der Verlust dieser Fahne einem ungeschriebenen Gesetz zufolge mit der Auflösung der Gruppierung einhergeht: „Mir war auch klar, dass ein Banner natürlich ein sogenanntes Heiligtum einer Ultra-Gruppierung ist. Ich wusste, dass wir eine Reaktion der Berliner Fanszene bekommen werden.“
Reaktion der Berliner Fans war absehbar
Jedem erfahrenen Stadiongänger, der sich mit den Abläufen und Mechanismen der aktiven Fanszene beschäftigt, ist klar, was es bedeutet, wenn Polizisten einen Stadionsektor betreten oder davor auflaufen. Wütende Proteste, mit dem Strafgesetzbuch nicht konforme Verwünschungen und, ja, auch Becherwürfe und sonstige tätliche Angriffe, sind in solchen Fällen vorhersehbar wie das obligatorische Scheitern der Blauen im Meisterschaftskampf. Diese Reaktionen sollen hierbei keineswegs beschönigt oder gar gutgeheißen werden, sie sind schlichtweg ein Bestandteil dieser fankulturellen Subkultur.
Auch dem Einsatzleiter der Polizei war dies offensichtlich völlig bewusst, äußerte er doch am Montag freimütig: „Ich wusste auch, dass eine Sicherstellung dieses Banners möglicherweise mit Verletzungen von Kollegen einhergeht.“ Die Wucht der Berliner Reaktion habe ihn und seine Einsatzkräfte jedoch unvorbereitet erwischt. Zahlreiche Gespräche mit erfahrenen Stadionbesuchern sowie deren Einträge in den sozialen Medien zeigten jedoch, dass sie von der heftigen Reaktion der Berliner Fans keinesfalls überrascht waren. Die Entscheidung zur Entsendung der Polizisten an den Gästeblock mutet aus diesem Blickwinkel daher weniger wie eine polizeitaktisch zwingend notwendige Maßnahme zur Verhinderung von Straftaten an, sondern vielmehr wie der bewusste Versuch eines Kräftemessens der Polizei mit den Berliner Ultras.
Es ist völlig unverständlich, wie die Polizei in einem Banner, das ohne jeglichen weiteren erkennbaren Nutzen und zudem für die Berliner Fans unzugänglich bereits seit mehreren Minuten auf dem Boden lag, ein Hilfsmittel zur Ausübung von Straftaten sehen konnte - zumal die Blockfahne bereits im Rahmen der mit Pyrotechnik unterlegten Choreografie zuvor schon nicht für diesen Zweck benutzt wurde.
Einsatz der Polizei wirkt unverhältnismäßig
Wie verhältnismäßig kann nun aber der Einsatz von Pfefferspray vor einem Stadionsektor voller Menschen sein, der leicht hätte zu einer Massenpanik führen können und insbesondere auch zwangsläufig am Geschehen unbeteiligte Personen gefährdet und verletzt? Und das nur, um eine Fahne sicherzustellen, die für die polizeiliche Arbeit keinerlei Mehrwert bietet. Spätestens hier wäre ein taktischer Rückzug ratsam gewesen, um weitere Verletzte zu vermeiden. Etwaige tätliche Angriffe hätten über das vorliegende Videomaterial aufgeklärt werden können. Doch eine solche Niederlage, zu der es durch die Berliner Fans erklärt worden wäre, wollte sich die Polizei nicht erlauben und zog den Einsatz stattdessen bis zum bitteren Ende durch.
Die fatale Fehlentscheidung der Einsatzführung erhitzte die Gemüter in einer bis dahin völlig friedlichen Atmosphäre schlagartig von einem Moment auf den anderen. Selbst Edzard Freyhoff sprach von einer „völlig entspannten Stimmung“, die er vor dem Spiel noch wahrgenommen habe. Diese Stimmung ist auch durch die Choreografie keinesfalls gekippt, es gab keine sich hochschaukelnde Atmosphäre im Dunst der Pyrofackeln, auch der Autor dieser Zeilen hat im Zuge der Choreografie keinerlei Feindseligkeiten aus dem Gästeblock wahrgenommen.
Um eines klarzustellen: Auch ein Fußballstadion ist natürlich kein rechtsfreier Raum, Straftaten gilt es konsequent zu verfolgen und jeder durch Pyrotechnik Verletzte ist einer zu viel und eindeutig zu beklagen. Dennoch gilt es bei der Aufarbeitung solcher Vorfälle stets den heiligen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einzuhalten. Das Sicherstellen eines Banners ist hier nicht verhältnismäßig, wenn dadurch einerseits offensichtlich keine Straftaten verhindert werden und stattdessen weitere Verletzungen von Menschen in Kauf genommen werden. Von dem Banner ging jedenfalls einerseits keinerlei Gefahr aus und es wurde andererseits zu keinem Hilfsmittel zur Ausübung von Gefahren für andere Stadionbesucher benutzt.
Bewusst herbeigeführte Eskalation?
Anstatt die Situation unnötig anzuheizen, wodurch unterm Strich noch wesentlich mehr Verletzte zu beklagen waren als durch die eigentliche Pyrotechnik zuvor - ohne dies gegeneinander aufrechnen zu wollen -, hätte sich die Polizei schwerpunktmäßig auf die Aufzeichnungen der stets hochgepriesenen Videokameras aus dem Westfalenstadion zur Aufklärung etwaiger Verfehlungen und Straftaten fokussieren sollen. Der Gang an den Gästeblock und die bewusst herbeigeführte Eskalation der Situation, die zu den eingangs als beschämend bezeichneten Bildern führte, hat nicht nur dem Tageseinsatz der Polizei einen Bärendienst erwiesen, sondern insbesondere auch dem Verhältnis zwischen der Polizei auf der einen und den Ultras und aktiven Fußballfans auf der anderen Seite. Hier hat die Einsatzleitung der Polizei am Samstag viel Porzellan unnötig zerschlagen und es ist fraglich, wo die Menge an Kleber herkommen soll, um es wieder kitten zu können.
Auch das Fanprojekt Dortmund hinterfragt den Sinn des Polizeivorgehens in seinem am Montag veröffentlichten Statement und beklagt zugleich eine „mangelhafte Kommunikation“, denn „im Rahmen des Einsatzes der Polizei fand keine Kommunikation mit der Fanbetreuung in Form der Fanbeauftragten und den Fanprojekten beider Vereine statt“. Der Berliner „Förderkreis Ostkurve“ schreibt in seinem Statement von Sonntag: „Der Polizeieinsatz, mit dem Diebstahl der Choreo-Fahne aus dem Graben vor dem Gästeblock, erfolgte ohne erkennbaren Grund, Begründung und ohne Androhung. Weder Vereinsvertreter noch die jeweiligen Fanprojekte wurden darüber von der Polizei in Kenntnis gesetzt. Es wurde bewusst eine Eskalation gesucht, in einem voll besetzen Fußballstadion, ohne Rücksicht auf Verluste. [...] Sämtliches Handeln der Polizeikräfte vor dem Gästeblock war kopflos und auf Angriff gerichtet. Die ersten Übergriffe gingen von der Polizei und nicht von den Fans aus.“
Polizei erkennt kein Fehlverhalten
Die Polizei Dortmund wollte jedoch auch nach zwei Tagen Abstand kein Fehlverhalten erkennen: „Die Abwägung am Samstag ist richtigerweise so getroffen worden wie Herr Freyhoff entschieden hat“, gab der Polizeipräsident Gregor Lange seinem Einsatzleiter am Montagnachmittag Rückendeckung.
Einflüsse auf das Pokalspiel am Mittwoch hätten die Vorkommnisse vom vergangenen Samstag laut Polizei übrigens nicht. Der Einsatz für das Duell des BVB mit Union Berlin, das wie schon vor zwei Jahren erneut als Risikospiel eingestuft wird, sei bereits vorab geplant worden. „Wir werden die Einsatzplanung nach erneuter Bewertung der Geschehnisse vom Samstag aber nicht verändern“, betonte Freyhoff.
Der BVB wollte sich derweil zu den Vorfällen nicht offiziell äußern und teilte über seinen Direktor Kommunikation, Sascha Fligge, auf schwatzgelb.de-Anfrage mit: „Die Dortmunder Polizei ermittelt gegenwärtig wegen der Ausschreitungen im Hertha-Block. Wir werden diesen Ermittlungen nicht durch Äußerungen unsererseits vorweggreifen und bitten um Verständnis.“ Keine Antwort erhielt die Redaktion auf eine Anfrage an die Bundespolizei-Inspektion Dortmund hinsichtlich der chaotischen Abreisephase der Berliner Fans nach dem Spiel im Dortmunder Hauptbahnhof.
Die Vorkommnisse vom vergangenen Samstag riefen derweil bereits zahlreiche unqualifizierte Reaktionen hervor. Der themenübergreifend chronisch mit seinem Amt überfordert wirkende nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul regte personalisierte Tickets für Hochrisikospiele an. Was personalisierte Eintrittskarten am Samstag verhindert hätten, bleibt das Geheimnis des Innenministers - zumal die Partie gegen die Hertha ein sogenanntes Grünspiel gewesen ist, also ein Spiel ohne prognostiziertes Gefahrenpotenzial, weswegen Reuls Vorschlag gar nicht gegriffen hätte. Spitzenreiter in der nach oben offenen Albernheitsskala ist aktuell jedoch Tobias Oelmaier, Redakteur der Deutschen Welle. In seinem Kommentar forderte er doch tatsächlich den Einsatz von Wasserwerfern im Stadion, „sobald in der Kurve das erste Bengalo leuchtet“. Wie sehr muss man von Hass oder zumindest von tiefer Abneigung gegenüber den Ultras zerfressen sein, um den Einsatz von Wasserwerfern in eine von Mauern und Zäunen eingegrenzte Menschenmenge zu fordern? Mehr sachliche und konstruktive Auseinandersetzung mit dem Thema ist dringend notwendig.