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Stell dir vor, es ist Borussia und du bist nicht da - Teil V

10.10.2018, 14:37 Uhr von:  Desperado09
Stell dir vor, es ist Borussia und du bist nicht da - Teil V

Zu jedem Spiel gibt es Geschichten zu erzählen. Aber die meisten von uns können nicht bei allen mitreden, weil sie sie nicht alle miterlebt haben. Wir lassen diese in der nächsten Zeit lose Revue passieren. Heute: Berlin/USA 1989

Berlin! Berlin! Wir fahren nach Berlin! Oder auch nicht...

Stell dir vor, dein Verein kommt zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte in die Nähe eines Titels. Die Eintrittskarte liegt zu Hause auf dem Tisch. Du freust dich auf den größten Tag deiner Fan-Geschichte. Doch dann will dein Vater viel Geld sparen - und bucht den Urlaub um. So erging es unserem Redakteur, als der BVB 1989 das Pokalfinale erreichte.

„Nach Amerika kann man jedes Jahr fliegen! Aber POKALFINALE - das gibt es nur einmal im Leben!“ Für einen kurzen Moment schien es, als würde mein Vater ernsthaft in Erwägung ziehen, den Urlaub abzublasen und stattdessen doch nach Berlin zu fahren. Aber der Schein trog. Die Sache war entschieden: Transatlantik-Flug statt Transitstrecke, Los Angeles statt Berlin.

Dabei hatten wir doch sogar schon Karten! 1989 konnte sich der BVB noch erlauben, jedem Dauerkarteninhaber das Vorkaufsrecht auf eine der begehrten Finalkarten einzuräumen. Nix mit Verlosung. Einfach zur Geschäftsstelle fahren und Karten holen, ganz einfach. Und so lagen zwei Tickets zu je 15 (?) Mark auf unserem Schuhschrank in der Diele. Gleichzeitig liefen die Planungen für den Amerikaurlaub in den Sommerferien. Am 26.6. sollte der Flieger gen Westen starten. Zeit genug also fürs Pokalfinale.

Doch dann erwachte der Sparfuchs in meinem Vater. Wenn wir den Urlaub um eine Woche vorverlegen würden, würden wir 300 Mark sparen. Ich kämpfte, argumentierte - vergebens. Der Urlaub wurde umgeplant, die beiden Karten verkauften wir per Zeitungsinserat zum Wucherpreis von 50 Mark das Stück.

Ich weiß nicht mehr, an welchem Tag wir in den USA ankamen, ich weiß nur, dass es nach dem 17. Juni (meinem Geburtstag) und vor dem 24. Juni war. In der Heckscheibe unseres Mietwagens ließ ich ein kleines BVB-Trikot baumeln. Wir ließen L.A. und das Death Valley hinter uns und erreichten am 23.6. Las Vegas. Nach einem Fiasko im Casino (ich war gerade 18 geworden, also noch keine 21 Jahre alt) ging ich früh ins Bett.

Der nächste Morgen kam, Pokalfinale! Vor lauter Aufregung vergaß ich den Geburtstag von Vaters Freundin. Mich interessierte nur eine Frage: Wie erfahren wir das Ergebnis?

Wir rechnen kurz, wann das Spiel nach Nevada-Zeit wohl zuende sein müsste und starten einen ersten Anrufversuch. Mit einem Haufen Kleingeld geht mein Vater zu einem Münztelefon und kehrt frustriert zurück. Irgendwie könne man von diesem Gerät, mit dieser Telefongesellschaft, aus diesem Staat nicht nach Deutschland telefonieren. Wer schon mal versucht hat, von einem öffentlichen Fernsprecher aus den USA nach Deutschland zu telefonieren, hält es nicht für völlig abwegig, dass die Mondlandung ein Fake war. Wir steigen ins Auto und fahren nach Arizona.

Nächster Halt: Kingman, an der legendären Route 66. Unsere Blicke gelten nicht der Stadt, stattdessen scannen wir die Umgebung nach Münztelefonen. Auf einem staubigen Parkplatz werden wir fündig. Ich schnappe mir das Kleingeld und baue sorgfältig ein Türmchen aus Vierteldollarmünzen. Ich wähle die „0“ und mache der Vermittlung klar, dass ich nach Deutschland telefonieren möchte. Sie brabbelt irgendwas und ich tue das, was ich in Las Vegas nicht durfte: Ich schmeiße Kleingeld in einen Automaten. Stück für Stück. Im Hintergrund höre ich schon meinen Opa am anderen Ende der Leitung. Ich will gerade nach dem Ergebnis fragen, da zerfetzt ein ohrenbetäubendes Geräusch die Anspannung: „Tuuuuuuuuuuuuut!!!“ Es folgen drei Loks mit der Aufschrift „Santa Fe“. Der Santa-Fe-Express rollt, nein, rumpelt etwa zehn Meter an mir und meinem Telefon vorbei. Ich gebe auf, hänge den Hörer auf.

Ungefähr 1000 Waggons später starte ich einen zweiten Versuch. Wieder Vermittlung, wieder füttere ich das Telefon mit Massen von Kleingeld (Hauptsache, die Flüge waren billiger) und freue mich über eine zugfreie Verbindung nach Dortmund. Wieder ist mein Opa dran. Keine Zeit, um vom Wetter zu erzählen, ich frage nur: „Und?“

„4:1.“

„Für UNS???“

„Ja, 4:1 für Borussia!“

Der Rest ist hüpfen, Jubel und Erschöpfung. Wir sind Pokalsieger!

Unter das kleine Trikot hänge ich einen Zettel mit dem Ergebnis, um die frohe Botschaft auch in den USA zu verkünden, auch wenn sie bestimmt niemanden interessiert.

Denkste!

Als wir später das Mietauto gegen ein Wohnmobil eingetauscht haben, hängt das kleine Trikot natürlich auch dort im Heckfenster. Auf einem Campingplatz irgendwo im Nirgendwo leert mein Vater gerade unseren Abwassertank, als ein anderes Wohnmobil mit leicht überhöhter Geschwindigkeit auf ihn zuhält. „Ein Deutscher“, vermutet mein Vater und geht in Deckung. Und tatsächlich: Der Fahrer bremst, stürzt aus seinem Wagen und fragt: „Stimmt das? Stimmt das?“, und zeigt auf das kleine Trikot mit dem kleinen Zettel.

„Seit 1.500 Meilen fahr ich hinter Ihnen her. Und immer, wenn ich Sie grade fast gekricht habe, hauen Se widder ab. In Moab warn Se einkaufen. Da sind Se grade losgefahrn, als wir kamen. Am Bryce kamen Se uns entgegen…“. Er erzählte, wo er uns noch überall gesehen hatte. Und immer, bevor er fragen konnte, ob mein kleines Trikot die Wahrheit verkündete, waren wir wieder weg.

Natürlich wäre es eine einmalige Erfahrung gewesen, in Berlin dabei zu sein. Rückblickend muss ich aber sagen, dass der Urlaub nicht total schlecht war - und das Erlebnis mit dem Telefon und dem Santa-Fe-Express, dem kleinen Trikot und dem Mann, der meinen Vater, beim Kackeablassen fast überfahren hat, zu den immer wieder erzählten Urlaubserlebnissen unserer Familie zählt.

Und was die USA-Final-Bilanz angeht: Inzwischen war ich zehnmal in den USA und Kanada und habe auch zehn Endspiele meiner Borussia gesehen. Geht doch.

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