Südtribünen-Sperre: Die Mitschuld des Journalismus
25.000 Menschen werden für die Vorfällen beim Leipzig-Spiel in Regress genommen. Daran tragen auch die Medien eine Mitschuld.
Lügenpresse. Das Wort wird seit geraumer Zeit inflationär verwendet, vorwiegend von einem Teil unserer Gesellschaft, der mir persönlich zuwider ist. Den Vorwurf „Lügenpresse“ müssen sich kritische Berichterstatter gefallen lassen, er wird verwendet, um unbequeme Artikel und Recherchen zu denunzieren. Ähnlich „argumentieren“ AfD-Anhänger, wenn wieder mal ein Amtsinhaber den Holocaust quasi als Bagatelldelikt darstellt. Seinen Höhepunkt findet der Begriff aber im Amerikanischen, übersetzt als Fake News. Passt Präsident Trump ein Bericht nicht, ist er „Fake News“.
Und nur um eines direkt klar zu stellen: Die Angriffe auf Leipziger Fußballfans beim Auswärtsspiel in Dortmund sind kein Bagatelldelikt, sie sind auch keine Fake News. Sie sind real und zu verurteilen – was der BVB wenige Stunden später durch seine beiden ranghöchsten Repräsentanten, Geschäftsführer Hans Joachim Watzke und Präsident Reinhard Rauball, tat.
Die Macht der Medien lässt den BVB kapitulieren
Was daraufhin aber in der Folge passierte, war (und ist) ein medialer Wettbewerb, in dem jeder zu Wort kommen durfte, der nur laut genug den Skandal beschrie. In dem Fakten bald nicht mehr als eine Orientierung darstellten und in dem jeden Tag neue, vermeintlich kluge Kommentare veröffentlicht werden mussten.
Der gesamte Branchen-Hype, der ansonsten die neueste Frisur von Rondrialdo und die exklusive Aussage von Peter Neururer verkündet, fokussierte sich plötzlich auf ein Thema, das ansonsten meist nur als Randnotiz behandelt wird: Fußballfans. Die dabei vorherrschende Hysterie in Kombination mit massenweise gefährlichen Halbwissen und noch mehr Oberflächlichkeit statt journalistischer Sorgfalt sorgten letztlich für ein Kapitulieren des BVB vor den geforderten DFB-Sanktionen.
Blicken wir noch mal zurück und fangen mit der Causa Watzke an: Der oftmals ob seiner populistischen Art zurecht kritisierte BVB-Geschäftsführer sollte eine Mitschuld für die Angriffe auf Leipziger Fanshaben, weil er das sächsische Red Bull- Projekt der Vergangenheit wagte zu kritisieren. Laut Argumentationskette, unter anderem vorgetragen vom legendären Fan-Kenner Waldemar Hartmann, wäre kaum ein Farbbeutel geflogen und kein einziger RB-Fan attackiert worden, hätte Watzke den Getränkeklub zuvor nur oft genug gelobt. Wer so kommentiert, hält Fußballfans für primitives Klatschvieh. Das Gegenteil ist der Fall – was die Sache nicht besser macht, für die ein oder andere Berichterstattung wohl aber zu komplex gewesen wäre.
Im weiteren Verlauf fokussierte sich die Berichterstattung dann - ob der Untersuchungen des DFB-Kontrollausschlusses - auf die rund 60 Spruchbänder, die vor Anpfiff auf der Südtribüne gezeigt wurden. Darunter waren durchaus strafrechtlich relevante Aussagen und Inhalte, die selbst die sehr niedrige Gürtellinie einer Fantribüne unterschritten. Nun folgt daraus für viele Berichterstatter folgende Gleichung: Der große, unbeteiligte Teil habe dagegen nichts unternommen, folgerichtig ist die kollektive Aussperrung durch den DFB für das kommende Heimspiel nur konsequent.
Wieso viele mediale Forderungen unrealistisch und absurd sind
Wer mehr als einmal auf „der Süd“ stand, weiß, dass diese Tribüne nicht zu pauschalisieren ist. Der Kern im Unterrang mit überwiegend jungen ultraorientierten Fans – und mittendrin dem ein oder anderen alteingesessenen Fanclub – ist nicht mit dem überwiegend älteren Publikum in den Ecken des Oberrangs vergleichbar. Die einen wollen 90 Minuten hüpfen, singen, Fahnen schwenken. Die anderen in Ruhe Fußball gucken, ihr Bier trinken und trotzdem noch mitten drin sein (oder eben keine 382 Euro für die günstigste Sitzplatz-Dauerkarte ausgeben). Dazwischen: Ganz viel von beidem, eine bunte Mischung aus alt, jung, schwarz, weiß, reich, arm. Das ist keine Folklore, sondern Realität. Diese Tribüne bzw. die rund 24.300 Unbeteiligten sollen nun also innerhalb von Sekunden erkennen, welche Banner dort gezeigt wurden und dann eine entsprechende Reaktion zeigen? Diese Forderung ist geradezu absurd. Sie wird noch absurder, bedenkt man, dass von den anwesenden Journalisten auf der Pressetribüne kaum einer das Thema Spruchbänder aufgenommen hatte, ehe am Folgetag die Attacken auf RB-Fans bekannt wurden.
Für besondere Tiefpunkte des Sportjournalismus sorgten allen voran und wieder einmal die Medien des Springer-Verlags. So war sich die Bild-Zeitung nicht zu schade, von einer „Wand der Schande“ zu schreiben, das sportliche Magazin des Verlags glänzte in dieser Woche mit der „Wahrheit über die Süd“, kombiniert mit einem Erklärbild, wo „gute“ und „böse“ Fans auf der Tribüne ihr Zuhause haben. Unnötig zu erwähnen, dass auf eben jener Grafik und im dazugehörigen Text so ziemlich alles der Realität widerspricht.
Ein ähnliches Bild am Mittwochabend im ZDF bei Markus Lanz. Der ließ nicht nur Waldemar Hartmann, sondern auch den Publizisten Olaf Sundermeyer zum Thema BVB und RB Leipzig zu Wort kommen, was der selbsternannte Hooligan-Experte nutzte, um fernab jeglichen thematischen Zusammenhangs zu verkünden, die Anti-Rassismus-Arbeit des BVB sei lediglich eine Marketing-Aktion und das Dortmunder Nazi-Problem durch den BVB verursacht – ein wunderbares Beispiel, wie weit die Debatte um die Leipzig-Vorfälle mittlerweile ins Surreale abgedriftet ist.
Überhaupt schafften viel zu wenige Berichte, das zu tun, was Journalismus eigentlich ausmachen soll(te): Fakten sammeln, Nachrichten vermelden, Situationen einordnen. Stattdessen musste Fan sich in diesem Fall wie auf einem Anglertreff fühlen: Aus einer kleinen Brasse wurde der Fang des Lebens gemacht. Oder: Aus Vorfällen, wie sie im Fußball leider immer wieder vorkommen, wurde eine „Menschenjagd“ (Sky) und „neue Dimension der Gewalt“ (Express) herbei berichtet. Manch Schalke-Fan dürfte sich fragen, ob er selbst all die Jahre nur schlecht geträumt hat, während die Anreise zum Derby vom Flaschenhagel entlang der Flora begleitet wurde.
Eine sachliche Debatte über die DFB-Bestrafung war nicht möglich
Zeitungen, die dem Thema eine Woche lang Titelseiten, Seite 3-Reportagen und Leitartikel mit vielen Fehlern und noch mehr einfachen Lösungen widmeten. Online-Auftritte, die rechtspopulistischen Polizeigeschwerkschaftlern und selbsternannten Fanforschern Interviews schenkten, um realitätsferne Forderungen zu stellen. Radio-Anstalten, die 0231Riot und Schwatzgelb.de auch mal in eine Schublade steckten. TV-Sender, die bis auf einen Brennpunkt das volle Programm einer globalen Krise auffuhren, dem Thema sogar ein „Wort zum Sonntag“nach der Tagesschau widmeten. Und vor allem: Alle wissen, was „der Verein“ und „die Fans“ hätten tun müssen, um „Frauen und Kinder“ zu schützen, die da vor mittlerweile knapp zwei Wochen von einigen Mitmenschen drangsaliert wurden.
Nein, eine sachliche Debatte über Sinn und Unsinn der kollektiven DFB-Bestrafung war in diesem Umfeld nicht mehr möglich. An diesem Punkt muss man der Begründung des Vereins zustimmen.
Dabei wäre eine Urteils-Debatte wünschenswert gewesen und hätte Teil der journalistischen Aufarbeitung sein können. Denn hatte nicht der DFB-Präsident gerade erst zum „Aufstand der Anständigen“ unter den BVB-Fans aufgerufen und keine Woche später rund 24.000 dieser Anständigen aussperren lassen? Kritische Einordungen sind Mangelware, wie zuvor bereits die Aufarbeitung der fehlenden Sicherheitsmaßnahmen im Stadionumfeld vor dem "Skandalspiel". Hier scheint es mit den altbewährten Zurückweisungen des NRW-Innenministers Ralf Jäger wieder mal getan zu sein. Und zu schlechter Letzt: Ist nicht die kurzfristige Absage des Viertliga-Spiels zwischen Oberhausen und der zweiten BVB-Mannschaft ein Skandal? Zumal man bedenken sollte, dass die Anreise mehrerer Hundert Dortmunder Ultras einzig durch Mediengerüchte in die Welt gesetzt wurde, ein offizieller Aufruf dazu aber nirgends zu finden war und mittlerweile klar ist, dass „The Unity“ und Co. nie vor hatten, das Amateurspiel zu besuchen.
Wo bei der Schilderung der Ereignisse und
der Suche nach den Schuldigen unter den Fans noch versucht wird, Recherche zu
betreiben, nimmt man all die oben genannten strittigen Fragen hin wie das
nächste 1:1 am Samstagnachmittag. „Wer nicht hören will, muss fühlen“, kommentierte
SZ-Politikchef Heribert Prantl polemisch.
So einfach kann sie sein, die Medienwelt.