Unsa Senf

Die Grenzen der Zivilcourage

13.02.2017, 18:23 Uhr von:  Sascha
Die Grenzen der Zivilcourage
Die Südtribüne vor dem Leipzig-Spiel.

„Die Süd“, so wurde in den letzten Tagen immer wieder erklärt, müsse sich auflehnen, Courage zeigen. Weil sie eben dies nicht gegen Leipzig gemacht habe, sei eine Sperrung der kompletten Tribüne nicht nur gerecht, sondern gar folgerichtig. Alles in der Annahme, dass man dieser Süd einfach mal ordentlich zeigen müsse, was passiert, wenn sie nicht ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nachkommt und Zivilcourage zeigt. 25.000 Leute gegen rund 60 Banner. Das sollte doch wohl kein Problem sein und dann – so der Umkehrschluss – stehen eben alle 25.000 Leute dahinter, wenn sie nichts dagegen unternehmen.

Ein Trugschluss, dem momentan so ziemlich jede Kommentarspalte in den Medien auf den Leim geht. Jeder, der einmal auf einer Stehplatztribüne gewesen ist, weiß um die Unmöglichkeit dieser Forderungen. Zuerst einmal ist „die Süd“ kein einheitlicher Organismus, nicht einmal während der 90 Minuten Fußball. Die Menschen dort mögen zwar, mal mehr und mal weniger, die gleichen Lieder singen und gemeinsam Tore bejubeln, aber es ist in aller erster Linie ein Ort. Ein Ort, an dem sich Menschen aller Alterklassen und sozialen Schichten versammeln, um ein Fußballspiel zu verfolgen. Manche haben sich zu großen, mittleren oder kleinen Fanclubs zusammengeschlossen, andere stehen dort mit ihren Freunden. Viele kennen nur die Leute im Umkreis von zwei oder drei Metern, die Gesichter hinter dieser unsichtbaren Grenze nur noch vage vom Sehen, die Personen dahinter nicht. Schon das ist ein natürliches Hemmnis „zusammen“ gegen etwas vorzugehen. Man weiß häufig nicht, wer das „zusammen“ überhaupt ist und ob der Mensch nebenan nicht vielleicht ganz anders darüber denkt. Und ob derjenige überhaupt mit sich reden lässt. Wer hier einfach so als Außenstehender Zivilcourage einfordert, sollte innehalten und einmal überlegen, was er in dieser Situation machen würde.

Im speziellen Fall der Transparente gegen Leipzig - und der DFB hat klar gemacht, dass es im Zusammenhang mit diesem Spiel nur darum gehen kann bei der Bemessung des Strafmaßes, weil die Vorkommnisse vor dem Stadion durch staatliche Stellen zu sanktionieren sind -, gibt es ganz praktische Gründe, die der Zivilcourageargumentation entgegenstehen.

Transparente werden entrollt und hochgehalten. Mit ausgestreckten Armen über dem Kopf. Das ist nicht unbedingt die Position, in der man zuhause gemütlich ein Buch liest. Wenn man nicht selber beim Malen der Transparente dabei war, erfährt man häufig erst durch Nachfrage bei den umstehenden Leuten, was dort überhaupt geschrieben steht. Die Frage "Weiß jemand was auf dem Banner in Block XY stand?" ist eine ständig wiederkehrende nach Abpfiff innerhalb der Redaktion.

Und wenn ein Transparent ein paar Reihen vor einem ausgebreitet ist, dann sieht derjenige in allererster Linie – ein einziges Transparent. Alles was davor auf der Tribüne passiert, ist hinter einer Tapete verborgen und unsichtbar. Vielleicht sieht man links und rechts weitere Spruchbänder, die aus dieser Perspektive jedoch kaum zu entziffern sind. Das gilt besonders für die Fans in den Außenblöcken, die aus dieser Position heraus das Gros der Transparente vermutlich schlichtweg einfach nicht entziffern konnten. Auch in den Oberrängen dürfte man Schwierigkeiten gehabt haben, z.B. das „Pflastersteine auf die Bullen“-Banner ganz vorne erkannt zu haben.

Ebenso wird gerne übersehen, dass nur vielleicht ein Drittel der Spruchbänder strafrechtlich eine Relevanz hat. Es wurden Banner hochgehalten mit Sprüchen wie „Wer den Fußball liebt – hasst RB“, „Totengräber des Fußballs“ oder ein ganz simples „Ich wünsch mir Spiele ohne Dosen“. Natürlich, der ein oder andere wird jetzt bei dem Wort „hasst“ aufspringen und rufen, dass Hass nichts im Stadion zu suchen hat (für genauere Rückfragen, wo Hass seine Daseinsberechtigung hat, möge man sich bitte an Hans-Hubert Vogts wenden). Aber es sind in allererster Linie ganz normale Meinungsäußerungen, gegen die für sich genommen niemand zur Zivilcourage aufrufen würde. Innerhalb dieser vielleicht zwei, drei Minuten, in denen die Banner und Tapeten in die Luft gingen, ist es ein Ding der Unmöglichkeit, sich einen Überblick über alle Äußerungen zu verschaffen und in „find ich gut“, „geht gerade noch“ und „das ist scheiße“ zu differenzieren.

Ganz zum Schluss stellt sich dann auch noch das Problem der schieren Menschenmasse. Selbst wenn wir Max Mustermann mit juristischer Vorbildung und 100 % Sehschärfe zentral auf die Südtribüne stellen und er die Banner, die deutlich drüber sind, entziffern kann, stehen zwischen ihm und diesem Banner hunderte, tausende Menschen. Dicht an dicht. Der BVB hat schon genug damit zu tun, wenigstens die Podeste vor den Eingängen als Fluchtweg freizuhalten. Es ist nicht nur völlig realitätsfern, hier ein Eingreifen zu fordern und es ist gut, dass dergleichen nicht passiert ist. Wenn diese Tribüne einmal unkontrolliert in Bewegung gerät, werden Dinge passieren, die noch hässlicher sind als ein Teil der Banner.

Natürlich bestraft der DFB mit einer Sperrung der Südtribüne den Verein und nicht direkt den einzelnen Fan. Das ist der formale Ablauf. De facto entzieht er allerdings vielen tausend Menschen grundlos die Möglichkeit, das Spiel im Stadion zu sehen und seine Mannschaft anzufeuern. Obwohl sie nichts getan haben, nicht einmal etwas tun konnten. Sie haben sich nichts vorzuwerfen. Nicht einmal fehlende Zivilcourage.

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