Eua Senf

Nostalgie und Menschenfischer oder: Lass mich in Ruh!

04.06.2017, 18:49 Uhr von:  Gastautor

Nostalgie ist der Schmerz, den die Sehnsucht nach der Vergangenheit bringt. Dieses Gefühl kennt wohl jeder eingefleischte Fußballfan: Was sehnen wir uns nicht nach den guten alten Zeiten, früher, als es einfach nur Bratwurst, Bier, Borussia hieß, als das Treffen auf dem Breitscheidplatz auch immer ein bisschen Anarchie bedeutete, als es beim Fußball auch um Fußball ging. Vor ein paar Tagen habe ich Philipp Winklers Roman "Hool" gelesen (wer es noch nicht gelesen hat, lese hier nicht weiter – kauft euch das Buch, lest es, kommt danach hierher zurück): Lauter merkwürdige Gestalten, die neben regelmäßigen Prügeleien ihre Zeit in Eckkneipen, bei Bier und Korn, mit Zigaretten und kaltem Kaffee verbringen. Ich hatte bei der Lektüre das Gefühl, jetzt muss ich duschen und einen gesunden Obstteller essen: So zu leben ist doch ungesund! Und tatsächlich: Auch in "Hool" endet die Prügelromantik, die Realität holt die Figuren ein und fast alle von ihnen werden zu – na ja, relativ – braven Bürgern unserer Zivilgesellschaft.

Und diese Veränderung, eine solche Konversion wünscht sich auch der DFB für die deutschen Fußballfans: Lieber rosa Mädelsschals als handbestickte Kutten, lieber Sitzplatzkissen als Bengalos, lieber Helene Fischer als Fangesänge! Dabei macht doch genau das kleine bisschen Chaos das aus, was wir am Stadionbesuch und allem Rundherum so mögen – und der Ballspielverein Borussia 09 e.V. Dortmund hat schon lange erkannt: Mit Nostalgie lässt sich Geld machen! Retrotrikots, ein eigenes Museum, der Slogan „Echte Liebe", Kritik gegen die Dosenkicker aus Leipzig, und doch bin ich nicht zufrieden. Wieso?

Ich will im Schatten der Gedächtniskirche vor einem Pokalspiel nicht von allen Seiten beschallt werden, ich will nicht, dass mir die Halbzeitpause „Atemlos" aufzwingt – mal ganz im Ernst, welches Lied passt beim Konditionssport Fußball schlechter? Lasst mich in Ruhe mit aufgezwungener Romantik und Traditionsliebe von oben, denn meine Nostalgie wird ohnehin nie enden: Die Liebe zu Dortmund, zum Borsigplatz, zu Helden wie Ricken und Dede, zur Dreifaltigkeitskirche und zu Borussia bleibt für immer, ist für immer schön und tut für immer weh.

geschrieben von Annika

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