EM-Modus revisited
Viel wurde in den letzten Tagen über den neuen Modus der Europameisterschaft in Frankreich geschrieben, der so neu im Fußball zwar nicht ist, bei den Männern aber bei großen Turnieren zuletzt 1994 verwendet wurde. Rückblickend: Warum wird so verfahren, wie verfahren wird?
Abseits der Diskussionen um den sportlichen Wert der von 16 auf 24 Mannschaften aufgestockten Europameisterschaft waren in den letzten Tagen vermehrt Stimmen zu hören, wonach der neue Modus des Turniers kompliziert und willkürlich sei und Mannschaften aus bestimmten Gruppen gegenüber Teams aus anderen Gruppen benachteiligen würde. Und so richtig leicht zu verstehen ist das Ganze im Vergleich zu früheren Europameisterschaften wirklich nicht: Wenn sich nicht nur die Gruppensieger und die Gruppenzweiten für die nächste Runde qualifizieren, sondern auch die vier besten Gruppendritten ins Achtelfinale kommen, ist nicht mehr direkt nachzuvollziehen, wer wie in die nächste Runde kommt und wie dann im K.O.-System weitergespielt wird.
Auffällig war dabei dennoch: Selbst Journalisten, die sich berufsmäßig mit solchen Turnieren befassen und diesen Modus nicht nur von früheren Weltmeisterschaften der Männer (1986 bis 1994), sondern auch von der erst im letzten Jahr ausgetragenen Weltmeisterschaft der Frauen kennen müssten, waren nicht in der Lage, in ein paar kurzen Sätzen zu erläutern, warum so verfahren wird, wie verfahren wird. Dabei sind eigentlich nur zwei relativ leicht nachzuvollziehende Prinzipien für den konkreten Ablauf des Turniers verantwortlich.
1. Mannschaften aus derselben Gruppe sollen erst möglichst spät im Turnier wieder aufeinander treffen.
Dieses Prinzip wird eigentlich bei fast jedem Turnier so angewendet und sorgt zum Beispiel bei Weltmeisterschaften dafür, dass Teams aus einer Gruppe theoretisch erst im Endspiel wieder gegeneinander spielen können. Bei der Europameisterschaft kommen aus manchen Gruppen aber nun sogar drei Mannschaften in die nächste Runde. Gewinnen diese Mannschaften all ihre Spiele in der K.O.-Runde, müssen natürlich spätestens im Halbfinale zwei von ihnen aufeinandertreffen.
Der Modus ist deshalb so konzipiert, dass zwei Mannschaften aus derselben Gruppe auch wirklich frühestens im Halbfinale gegeneinander spielen können. Zum Beispiel ergibt sich für Deutschland bei diesem Turnier: Da man Gruppe C gewonnen hat, spielt man danach gegen einen Gruppendritten. Da Nordirland in Gruppe C Dritter geworden ist, scheidet Nordirland als Gegner im Achtelfinale aus. Grundsätzlich sind die anderen fünf Gruppen aber noch möglich. Im Viertelfinale wartet für den Sieger des Achtelfinals nun aber Italien (Sieger Gruppe E) oder Spanien (Zweiter Gruppe D). Entsprechend sind auch die Gruppendritten aus den Gruppen D und E als Gegner im Achtelfinale nicht möglich.
Vor dem Turnier stand im Turnierbaum daher unbestimmt bloß Erster Gruppe C gegen Dritter Gruppe A/B/F. Welcher Dritte konkret wartet, hängt dann natürlich davon ab, welche Gruppendritten sich qualifizieren. In manchen Fällen ist die Zuordnung eindeutig, zum Beispiel wenn die Dritten aus den Gruppen A und B die schlechtesten Dritten sind, weil dann ja nur noch der Dritte aus Gruppe F möglich wäre. In anderen Situationen sind mehrere Zuordnungen möglich, weshalb vor dem Turnier eine entsprechende Tabelle veröffentlicht wurde, wie dann zu verfahren ist. Deutschland spielt daher gegen die Slowakei, den Dritten aus Gruppe B.
2. Strukturelle Vorteile und strukturelle Nachteile sollen sich ausgleichen.
In den letzten Tagen wurde viel darüber diskutiert, dass Mannschaften in später spielenden Gruppen einen Vorteil haben, weil sie wissen, unter welchen Bedingungen sie sich als einer der vier besten Gruppendritten für die nächste Runde qualifizieren. Sofern man nicht alle Spiele gleichzeitig austragen lassen möchte, was die Fernsehanstalten im Dreieck springen lassen würde, lässt sich tatsächlich nicht verhindern, dass dieses Vorwissen in die Taktik während der letzten Gruppenspiele mit einfließt.
Am größten ist der Vorteil sicherlich für Mannschaften aus den Gruppen E und F. Gestern zum Beispiel wussten Island und Portugal genau, dass ihnen ein Unentschieden für das Weiterkommen genügt, und haben daher in der Schlussphase entsprechend gespielt. Auch Österreich, Irland und Schweden hatten ähnliche Voraussetzungen, weil sie wussten, dass sie ihre Spiele würden gewinnen müssen, um nur dann in der nächsten Runde zu sein.
Dieser Vorteil für Mannschaften aus den Gruppen E und F wird allerdings durch den weiteren Turnierbaum wieder ausgeglichen. Während die Sieger der Gruppen A bis D im Achtelfinale allesamt gegen Gruppendritte antreten müssen, spielen die Sieger der Gruppen E und F gegen die Gruppenzweiten der Gruppen D bzw. E. Zusammenfassend also: Es ist tendenziell ein bisschen leichter, sich als Mannschaft aus den Gruppen E und F für die nächste Runde zu qualifizieren. Dafür wartet dann im Achtelfinale aber ein auf dem Papier stärkerer Gegner. Wichtig dabei: Man darf nicht retrospektiv denken, dass Albanien als Dritter der Gruppe A dafür büßen muss, dass Frankreich als Gruppensieger ein leichtes Achtelfinale bekommt. Im Vorfeld hat schließlich jede Mannschaft dieselben Chancen auf die guten Plätze in der Gruppe.
Wenn man diese beiden Prinzipien versteht und für sinnvoll hält, braucht man sich mit der konkreten Mathematik dahinter eigentlich nicht großartig zu befassen, sondern kann einfach Fußball schauen. Was zumindest gestern gar nicht so schlecht war. Modus hin oder her.