Verpatzte Generalprobe ärgert Thomas Tuchel
Thomas Tuchel ist nicht gerade für emotionale Ausbrüche oder flotte Sprüche bekannt. In seinem ersten BVB-Jahr vermittelt er den Eindruck eines rationalen Trainertypen. Ein Perfektionist, der den Fußball aus einem ökonomischen Blickwinkel betrachtet. Genau das richtige nach sieben Jahren Klopp-Rausch, sagen die einen. Zu kühl, als dass er zur BVB-Philosophie passen würde, meinen die anderen.
Während der Pressekonferenz nach dem 2:2 gegen den 1. FC Köln zeigte der sonst so kontrollierte Tuchel eine für seine Verhältnisse aufgewühlte Reaktion. Obwohl schon seit mehreren Wochen klar ist, dass dieses Spiel in der Bundesliga keinerlei sportliche Relevanz mehr haben würde, war der 42-Jährige sichtlich angefressen. Der Spannungsabfall in seiner Mannschaft, belegt durch eine unterdurchschnittliche Leistung gegen Köln nur eine Woche nach der Niederlage bei den abstiegsbedrohten Frankfurtern, hatte ihm zugesetzt.
Ein authentischer Ausbruch
"Wir haben in zehn Tagen noch mal fünf Punkte auf die Bayern verloren. Wir wollten ihnen in Berlin unbedingt mit nur fünf Punkten Rückstand begegnen", schimpfte er. Dem vorangegangen waren zwei Gegentore und ein selten uninspirierter Auftritt der BVB-Offensive um Marco Reus, Pierre-Emerick Aubameyang und Co. Seine Sorge: "Wir können nur in der absoluten Topform Pokalsieger werden. In den vergangenen zwei Wochen sind wir von der absoluten, konstanten Topform so weit entfernt, wie wir noch nie durchgängig entfernt waren." Nun warte im Training ein riesiges Stück Arbeit, denn es sei deutlich schwerer, wieder in Form zurück zu finden als sie zu halten.
Seine Worte klangen nicht wie ein kalkuliert platzierter Weckruf – vielmehr macht sich da jemand ernsthaft Sorgen um die mentale Form seiner Spieler, eine Woche vor dem Höhepunkt dieser Saison. Ein authentischer Ausbruch des Mannes, dessen Kompatibilität mit Borussia Dortmund nach dem leidenschaftslosen Europa-League-Ausscheiden in Liverpool von dem ein oder anderen in Frage gestellt worden ist. Leise zwar und hinter hervorgehaltener Hand, denn in der Bundesliga spricht die Bilanz eine deutliche Sprache, aber dennoch. Fraglich, ob Thomas Tuchel auch an seine Derby-Aufstellung in Gelsenkirchen dachte, die nicht nur eine Niederlage gegen die Blauen, sondern auch die Vorentscheidung im Kampf um die Meisterschaft mindestens in Kauf nahm, als er Samstag sagte: "Schade, dass wir die Bundesliga-Saison mit dem 32. Spieltag gefühlt beendet haben."
Nun ist eine Woche vor einem DFB-Pokalfinale gegen Bayern München niemandem mit dem Hervorholen von Geschichten geholfen, die längst zu den Akten gelegt wurden. Weshalb wir es an dieser Stelle dabei belassen möchten und hoffen, dass das Aufrütteln von Thomas Tuchel seine Wirkung nicht verfehlen wird. Gerechtfertigt war sie gemessen am Spiel gegen die Domstädter allemal. Aber dazu später mehr.
Vorspiel: Ärger um eine Choreografie der Desperados
War die Partie auch von geringem Wert für die Tabelle, freuten sich viele BVB-Fans, dass die DFL-Spieltagsplaner dem Saisonfinale wenigstens eine in Dortmund gern gesehene Fanszene bescherten. Dass die gegenseitigen Sympathien beider Fanlager sich längst nicht mehr nur auf die Ultra-Szenen beschränken, zeigte vor Spielbeginn ein Blick in die Rote Erde. Zahlreiche Kölner, die den Klassenerhalt – und sich selbst – auf den Tischen tanzend mit kölschen Liedern besingen, sind eben ein willkommenes Kontrastprogram zu Gästen aus Wolfsburg, Hoffenheim, Ingolstadt oder Stuttgart.
Auch im Stadion setzten die Effzeh-Fans einige akustische Highlights und leiteten ihren Auftritt im Gästeblock des Westfalenstadions mit einer Pyroshow ein. Dies aus sicherheitstechnischen und moralischen Aspekten zu beurteilen (oder zu verurteilen), bleibt wie immer jedem selbst überlassen. Nett sah die Kombination aus weißem und weinrotem Rauch jedenfalls aus. Positiv hervorzuheben ist auf jeden Fall der Dortmunder Aufruf via Spruchband auf der Westtribüne, sich am 4. Juni den Nazis gegenüberzustellen, die unsere Stadt beim "Tag der deutschen Zukunft" als Bühne für ihr rückständiges rassistisches Weltbild missbrauchen möchten. Je mehr Schwatzgelbe auf die Straße gehen, desto besser!
Auf der Südtribüne zelebrierte derweil die Ultra-Gruppierung Desperados ihre Freundschaft zur den Boyz Köln mit einer Choreographie in Block drölf. Unter dem Motto "Zehn Jahre eine Bande" wurden die Logos beider Gruppen als Blockfahne hochgezogen. Eine Aktion, die aufgrund ihrer Entstehung einigen Ärger hervor rief: Die Desperados hatten die Choreographie bereits vor längerer Zeit beim Verein angemeldet, der jedoch Bedenken hegte, dass nicht alle Leute, die letztlich unter der Blockfahne stehen würden, auch die Botschaft der Aktion teilen. Ein durchaus berechtigter Einwand. Nach langem Hinhalten verbot er vor einigen Wochen schließlich die Choreo. Die Desperados erkundigten sich daraufhin beim Bündnis Südtribüne Dortmund, in dem sie auch selbst Mitglied sind, und erhielten nach eigenen Angaben von den dort organisierten Fanclubs – einige sind in Block drölf zu Hause – das Feedback, dass es ihrerseits kein Problem mit der Choreo gebe. Im Wissen, dass dies nicht automatisch für alle in den Blöcken zwölf und 13 stehenden Fans gelten muss, wandten die Desperados sich anschließend mit der Bitte, die Aktion doch zu genehmigen, sehr kurzfristig erneut an den Verein, bekamen eine Absage und entschlossen sich, die Aktion auf eigene Faust durchzuziehen.
Da der Sicherheitsdienst entsprechend gebrieft war, versuchte man, die Blockfahne anderweitig ins Stadion zu schaffen: Die Desperados rannten durch die Unterführung der Fanwelt über den Parkplatz Luftbad auf die Ebene der Westtribüne und von dort zur Südtribüne. Fluchttore wurden dabei nicht eingerissen oder geknackt, alle passierten Tore waren bereits geöffnet. Jedoch wurden bei der Aktion angeblich zwei Ordner verletzt. Schützenhilfe bekam man von Jubos und The Unity, die zur Ablenkung die Sicherheitskontrollen am Nordeingang überliefen. Hierbei kam niemand zu Schaden, eine Person wurde dennoch festgenommen. Die Polizei reagierte, indem sie unter der Südtribüne 50 Beamte sowie weitere Ordner platzierte. Um eine Eskalation zu vermeiden, verzichtete man jedoch weitsichtig auf ein Einschreiten im Block, wo die Blockfahne zu Spielbeginn hochgezogen wurde.
Unmutsbekundungen gegen Mats Hummels ebben ab
Nachdem die Transferverhandlungen um Mats Hummels sich zu einem kommunikativen Desaster aller drei Parteien – BVB, FC Bayern und Hummels samt Erzeuger – entwickelt hatten, schien man sich am Rheinlanddamm zuletzt intensiv Gedanken gemacht zu haben, wie sich Reaktionen wie noch vor zwei Wochen eindämmen lassen – und die Ideen waren gar nicht so doof. Hans-Joachim Watzke wandte sich vor Anpfiff mit einer Videobotschaft an die Fans, bedankte sich erst artig für ihre Unterstützung in dieser Spielzeit, betonte in guter Aki-Manier den Vorsprung zu den Blauen und bat schließlich, Mats Hummels nach achteinhalb Jahren BVB gebührend freundlich zu verabschieden.
Und um auf Nummer sicher zu gehen, ließ man die eingeladenen Spieler und Trainer aus den Traditionsmannschaften 1956, 1966, 1976, 1986 und 1996 nicht nur vor dem Spiel auf dem Rasen des Westfalenstadions feiern, sondern schickte sie nach Abpfiff gemeinsam mit den Profis zur Südtribüne. Beleidigungen gegen Mats Hummels wären öffentlich wohl auch als mangelnder Respekt gegenüber den Helden von einst ausgelegt worden. Ein kluger Schachzug. Tatsächlich gab es während der Videobotschaft und beim Warmmachen Pfiffe gegen den scheidenden Kapitän. Während des Spiels ebbten diese jedoch mit der Zeit ab und waren in Durchgang zwei kaum noch zu vernehmen.
Aufstellung und Taktik
Thomas Tuchel musste auf den gelbgesperrten Henrikh Mkhitaryan verzichten und ersetzte ihn durch Gonzalo Castro auf der Sechser-Position. Außerdem rückten Julian Weigl und Papa Sokratis in die Startelf. Bei eigenem Ballbesitz stand eine Dreierkette aus Sven Bender, Hummels und Sokratis, die bei Kölner Gegenstößen von Marcel Schmelzer auf der linken Position erweitert wurde. Ansonsten platzierte sich Schmelle weit in der gegnerischen Hälfte und auch Manni Bender unternahm auf dem rechten Flügel den ein oder anderen (erfolglosen) Ausflug nach vorne, wurde dabei stets von einem zurück rückenden Weigl abgesichert. Wenn zweitweise auch noch Hummels bis zu 20 Meter in die Kölner Hälfte spazierte, mimte Sokratis den letzten Mann im Dortmunder Defensivverbund. Pierre-Emerick Aubameyang rückte unterdessen vom Zentrum, wo Adrian Ramos lauerte, auf den rechten Flügel. Effzeh-Trainer Peter Stöger setzte dem eine Fünferkette entgegen und baute in seiner Startelf unter anderem auf die Ex-Dortmunder Leo Bittencourt und Milos Jojic.
Auffem Platz: Weigl mit neuem Bundesliga-Rekord
Borussia übernahm von Anfang an das Kommando auf dem Platz, konnte allerdings nicht in die gefährlichen Zonen der Kölner Hintermannschaft eindringen. So griff Castro in der 11. Minute zu einem altbewährten Hausmittel: Per Fernschuss versenkte er die Kugel im Kasten von Thomas Kessler. Die Domstädter ließen sich in einem weitgehend chancenarmen Spiel davon nicht entmutigen und schlugen rund eine Viertelstunde später zurück, als Anthony Modeste nach Vorlage von Marcel Risse zum Ausgleich einschob. Marco Reus kam dem Kölner Kasten in der 34. Minute noch einmal gefährlich nah, seine Volleyabnahme segelte aber drüber. Weitere Chancen vergaben Castro (37.) und Aubameyang (43.) und so rieb sich manch einer verwundert die Augen, als Milos Jojic kurz vor der Pause zum 2:1 einlupfen konnte, weil vorher nicht nur die Abwerreihe gepennt, sondern auch Roman Bürki beim Herauslaufen zu zögerlich agiert hatte.
Nach der Pause wechselte Tuchel Mathias Ginter für Bender ein, der so weit auf den rechten Flügel vorrückte, dass Julian Weigl in Durchgang zwei immer häufiger neben den gelernten Innenverteidigern Hummels und Sokratis zu finden war. Nach einem weiteren Wechsel (Moritz Leitner für den völlig blassen Shinji Kagawa, 58.) besetzte Castro die Position des Japaners und lief ein ums andere Mal in den gegnerischen Strafraum ein, ohne dass ihn jedoch Pässe seiner Mitspieler fanden. Da leider auch über unsere Flügel nichts ging, Aubameyang seine Schnelligkeit überhaupt nicht ausspielen konnte, entwickelte sich ein ereignisarmes Spiel. Die dicht gestaffelten Kölner hielten eine ideenlose BVB-Offensive die meiste Zeit über aus den gefährlichen Räumen fern. So musste es Marco Reus in der 75. Minute mit einem sehenswerten direkten Freistoß zum 2:2 richten – das 82. Saisontor in der Bundesliga bedeutet neuen Vereinsrekord. Auf der anderen Seite konnte Roman Bürki sich auszeichnen, als er gegen Pawel Olkowski (66.) und Modeste (71.) die Vorentscheidung verhinderte.
Julian Weigl kam während seines 83-minütigen Einsatzes auf sagenhafte 214 Ballkontakte, berührte also alle 23 Sekunden die Kugel. Damit brach er den Bundesligarekord von Xabi Alonso, der in der Saison 2014/15, ebenfalls gegen den 1. FC Köln, 206 Ballkontakte zählte. Außerdem spielte Weigl mit 198 von insgesamt 209 die meisten erfolgreichen Pässe. Zahlen, die über Julian Weigl ebenso viel aussagen wie über die Art des BVB, unter Thomas Tuchel Fußball zu spielen. Dass wir seit dem Kölner Wiederaufstieg 2014 keines unserer vier Spiele gegen den Effzeh gewinnen konnten, hingegen viel über Peter Stöger und seine Truppe.
Stimmung: Köln mit Selbstironie, Südtribüne erwacht erst spät
Im ersten Durchgang gelang es der mächtigen Südtribüne kein einziges Mal, sich in Szene zu setzen. Dass über das Zentrum hinaus kaum ein Gesang getragen wurde, geschweige denn in einer dem Westfalenstadion würdigen Art richtig laut wurde, zeigte einmal mehr, dass die Luft spätestens seit dem Ausscheiden in Liverpool raus ist. Jeder sehnt nach – wenn ich mich nicht verrechnet habe – 55(!) Pflichtspielen dem Saisonende entgegen. Erst Mitte der zweiten Hälfte wurde es unter den BVB-Fans lauter mit Gassenhauern wie "Zieht den Bayern die Lederhosen aus" und, nicht ganz ernst gemeint, "Wer wird Deutscher Meister? BVB Borussia!".
Eine gesunde Portion Selbstironie bewiesen auch die Effzeh-Fans und besangen ersehnte internationale Reisen nach Mailand oder Kopenhagen. Es sei ihnen an dieser Stelle für die Zukunft ehrlich gegönnt! Besonders imponierend war ein mehrminütiger Wechselgesang, der zwischenzeitlich sehr leise wurde. Als man sich gerade fragte, wann er wohl endlich ein Ende nehmen würde, schraubte der gesamte Gästeblock wieder einige Dezibel hoch und ließ das Ding noch mal ordentlich krachen. Hört man nicht so oft. Auch optisch wusste der Gästeanhang übrigens im einheitlichen weiß-roten Look zu überzeugen, ließ nach dem Seitenwechsel aber nach.
Nun heißt es also für unsere Jungs, sich in der Woche bis zum Pokalfinale gegen die Bayern genügend Mut anzutrinken. Holen wir den Pott nach Dortmund!
Namen und Zahlen
Borussia Dortmund: Bürki – Bender, Sokratis, Hummels – Weigl, Castro – Aubameyang, Kagawa, Reus, Schmelzer – Ramos
1. FC Köln: Kessler – Olkowski, Maroh, Mavraj, Heintz, Mladenovic – Risse, Lehmann, Jojic, Bittencourt – Modeste
Einwechslungen: 46. Ginter für Bender, 58. Leitner für Kagawa, 84. Durm für Weigl – 67. Gerhardt für Jojic, 82. Zoller für Bittencourt, 86. Osako für Olkowski
Bank: Weidenfeller, Stankovic, Sahin, Piszczek – Horn, Hosiner, Svento, Hartel
Tore: 1:0 Castro (11., Schmelzer), 1:1 Modeste (27., Risse), 1:2 Jojic (43., Bittencourt), 2:2 Reus (75., direkter Freistoß)
Schiedsrichter: Michael Weiner
Gelbe Karte: Sokratis
Malte S., 15.05.2016