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Rezensiert: Eine Taktikgeschichte des deutschen Fußballs

25.08.2016, 18:46 Uhr von:  Scherben
Rezensiert: Eine Taktikgeschichte des deutschen Fußballs

Vor der Europameisterschaft hat Tobias Escher, einer der Köpfe von spielverlagerung.de, ein Buch zur Geschichte der Fußballtaktik in Deutschland veröffentlicht. Unser Fazit: Ein Buch eher für Einsteiger, nicht für Detailversessene.

Heutzutage werden Fußballbücher bevorzugt vor großen Turnieren auf den Markt gebracht, wenn sich nicht nur am Wochenende alles um Fußball dreht, sondern der Sport für mehrere Wochen im Mittelpunkt des medialen Interesses steht. Dann werden in den Filialen der großen Buchhändler Tische freigeräumt, auf denen sich von der x-ten Autobiographie irgendeines Zweitligaprofis bis zur Vereinschronik des lokalen Regionalligisten alles findet, was sich rund ums Leder schreiben und (vor allem) verkaufen lässt. Das Problem ist nur: Vor lauter Fußball im Fernsehen kommt man nicht dazu, die Bücher auch zu lesen. Die Lektüre von Vom Libero zur Doppelsechs — Eine Taktikgeschichte des deutschen Fußballs habe ich daher in den Sommerurlaub geschoben. Was rund um den Start des Bundesliga vielleicht auch etwas besser passt, wo es doch seit vielen Jahren immer eher Vereinsmannschaften und ihre Trainer sind, die innovativ arbeiten und neue taktische Elemente in den Sport bringen.

Der Autor des Buches, Tobias Escher, ist dem gemeinen Leser als einer der Köpfe von spielverlagerung.de bekannt, der mit Sicherheit besten deutschsprachigen Website zur Taktik des Fußballs. Wer aus diesem Grund eine detailgetreue Analyse wichtiger Spiele erwartet, mit der üblichen leicht nerdigen Schreibe und der zur Pingeligkeit tendierenden Genauigkeit, wird allerdings — je nach Sichtweise — enttäuscht werden: Das Buch ist, nicht nur im Verhältnis zu spielverlagerung.de, erstaunlich leicht zu lesen. Fast zu leicht vielleicht, wenn immer wieder allgemein bekannte Begriffe erläutert werden und für wichtige taktische Revolutionen oft nur wenige Seiten Platz bleibt. Aber wer sich (wie ich) ein etwas publikumsfreundlicheres spielverlagerung.de wünscht, sollte in der erster Linie dankbar sein, dass hier versucht wird, die wichtigsten Entwicklungslinien im deutschen Fußball knapp, präzise und verständlich darzustellen.

Wie es sich für ein klassisches historisches Werk gehört, ist das Buch chronologisch aufgebaut. In insgesamt 15 Kapiteln wird aufgezeigt, wie sich der Fußball in Deutschland von seinen Anfängen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum vierten WM-Titel 2014 entwickelt hat. Immer mit Blick auf die Taktik, beginnend mit der 2-3-5-Formation über den Libero bis hin zum Positionsspiel von heute. So natürlich dieser Aufbau erscheint, so problematisch ist er allerdings in seiner Ausführung: Aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg ist kein filmisches Material erhalten, und so richtig gut gefüllt sind die Archive in dieser Hinsicht erst seit 50 Jahren. Für jemanden wie Escher, dessen unzweifelhafte Stärke die Analyse von Spielen am Bildschirm ist, ist das eine ziemliche Herausforderung: Er versucht sich einerseits (und dankenswerterweise) an einer Korrektur gewisser Mythen, etwa indem er klassische Spiele der deutschen Nationalmannschaft wie den 3:1-Sieg in Wembley 1972 und das WM-Endspiel zwei Jahre später nach einer eingehenden Analyse des Videomaterials neu einordnet. Andererseits verlässt er sich zwangsläufig bei der Darstellung des Fußballs zwischen den Kriegen auf nicht gerade üppiges Material der Printmedien. Versucht man beides in eine kohärente Geschichtsschreibung einzubetten, liest sich das Werk am Ende zwar schön flüssig, aber für die Zeit vor 1945 bleibt trotzdem der Gedanke im Kopf: Kann im Detail so gewesen sein, war aber vielleicht auch ganz anders. Ich habe jedenfalls mehr Vertrauen in Eschers Augen als in die blumige Schreibweise des Kicker von 1931.

Was zudem nicht ganz gelungen ist: Sich auf die deutsche Taktikgeschichte zu beschränken führt unweigerlich dazu, dass man die wichtigen Impulsgeber von außerhalb und deren Hintergründe zwar nennen muss, eben weil sie dankbare Abnehmer in Deutschland gefunden haben und deren Innovationen sich ohne die Ursprünge nicht angemessen darstellen lassen, dass man andererseits aber notgedrungen oberflächlich bleiben muss, weil man sich ja auf Deutschland fokussieren möchte. Das ist unbefriedigend, gerade wenn man sich ein wenig in der Geschichte des Fußballs auskennt und auch schon Bücher zur generellen Taktikgeschichte gelesen hat. Goldstandard in dieser Hinsicht dürfte Jonathan Wilsons Inverting the Pyramid — The History of Football Tactics sein (zu deutsch: Revolutionen auf dem Rasen — Eine Geschichte der Fußballtaktik), wo Wilson ebenfalls chronologisch die Entwicklung des Sports beschreibt, dabei den Leser aber in die verschiedenen Milieus der jeweiligen Zeiten und Länder mitnimmt und dabei deutlich macht, über welch langen Zeitraum und wie wenig logisch sich Revolutionen (nicht nur im Fußball) vollziehen. Wer die langen Kapitel über Südamerika in den 1950er Jahren, über die Niederlande nach 1968 oder die Sowjetunion kurz vor dem Zusammenbruch gelesen hat, dem wird Eschers Behandlung wichtiger Persönlichkeiten wie Belá Guttmann, Rinus Michels oder Walerij Lobanowskyi immer zu kurz vorkommen. Wenn sie überhaupt vorkommen. Und für den wirkt das ganze Buch in der Nachzeichnung der Taktikgeschichte immer etwas zu stringent und anbiedernd. (Ein Übriges tun dabei die teilweise klamaukartigen Kapitelüberschriften: "Die Spätzle-Connection" und "Högschdes Tempo" klingt nach Boulevard, aber nicht nach einer ernstzunehmenden historischen Betrachtung. War vermutlich auch eine grandiose Idee seitens des Verlags.)

Trotz aller Kritik im Detail bleibt aber festzuhalten: Wer einen Einstieg in die Beschäftigung mit der Fußballtaktik sucht und anhand von wenigen Worten und klar verständlichen Grafiken nachvollziehen will, wie sich der Fußball in Deutschland (und insbesondere mit Blick auf die Nationalmannschaft) über die Jahre gewandelt hat, für den ist das Buch gut geeignet. Und wer dann angefixt ist, sei auf Jonathan Wilson für die Entwicklung auf dem Globus oder eben auf spielverlagerung.de für den Blick mit der Lupe verwiesen. Womit Tobias Escher sicher auch einverstanden ist.

Tobias Escher: Vom Libero zur Doppelsechs — Eine Taktikgeschichte des deutschen Fußballs. Rowohlt, 2016. (Bestelllink: Affiliate)

Jonathan Wilson: Inverting the Pyramid — The History of Football Tactics. Nation Books, 2013. (Bestelllink: Affiliate)

Jonathan Wilson: Revolutionen auf dem Rasen — Eine Geschichte der Fußballtaktik. Die Werkstatt, 2011. (Bestellink: Affiliate)

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