Nur eine Nummer - Gedenkstättenfahrt Dachau
Max Mannheimer steht auf. Langsam, wie ein 94-jähriger Mann eben von einem Stuhl aufsteht. Er löst den Knopf vom linken Ärmel seines Jacketts. Undeutlich, doch nicht übersehbar, prangen die Zahlen auch nach Jahrzehnten noch auf seinem Arm: 99728. Immerwährendes Zeugnis seines Aufenthalts im Konzentrationslager Auschwitz.
Wäre Max Mannheimer kein Jude – er hätte statt der Nummer auf seinem Unterarm vielleicht eine auf dem Rücken getragen. Auf einem Fußballtrikot. In der Schule sei er zwar faul gewesen, aber auf dem Fußballplatz, da war er immer ehrgeizig, erzählt er heute. Die linke Seite war seine, selbst an seinem Lebensabend erinnert er sich an die Lieblingsspieler seiner Jugend. Obwohl er selbst nie besonders gläubig war, sagt er rückblickend: „Ich bin froh, dass meine Vorfahren jüdisch sind – sonst könnte ich Ihnen heute nicht meine Geschichte erzählen.“ Uns, einer Gruppe von 50 BVB-Fans, die nach dem Auswärtsspiel in München die KZ-Gedenkstätte Dachau besuchen. Organisiert von den Fanbeauftragten, der Fanabteilung und dem Fanprojekt Dortmund hören wir im Rahmen der Gedenkstättenfahrt auch den eindrucksvollen Bericht des Zeitzeugen Max Mannheimer.
Dabei wollte Mannheimer nie wieder in das Land zurückkehren, das für diesen Horror und die Alpträume in seinem Leben verantwortlich ist. Heute hat er seinen Humor wiedergefunden, hat Enkel und Urenkel. Die Liebe führte ihn nach Deutschland zurück. Sie war es auch, die ihn damals, in Auschwitz, am Leben hielt. Liebe und Fürsorge für seinen jüngeren Bruder Edgar. Aber der Reihe nach.
Geboren wurde Max Mannheimer am 6. Februar 1920 in der ehemaligen Tschechoslowakei, im Sudetenland, das noch vor Kriegsbeginn an das Deutsche Reich angeschlossen wurde. Als in der Pogromnacht 1938 die Synagogen brannten, lebte er mit den Eltern und vier Geschwistern in Neutitschein. Die Nacht veränderte das Leben von Millionen Menschen. Auch das seine. Am nächsten Morgen stand die Schutzpolizei vor dem Elternhaus. Sie nahmen den Vater in Schutzhaft und nur eine Lüge der Mutter, die ihren Sohn als 17-Jährigen ausgab, verhinderte eine weitere Festnahme. Eine Woche lang saß der Vater in Haft, anschließend musste die Familie das Land verlassen. In der Hoffnung auf ein Leben ohne Angst vor Verfolgung floh sie nach Ungarn. Doch auch dort konnten sich die Juden dem wachsenden Einfluss des Nationalsozialismus nicht entziehen. Es gab kein Entrinnen. Max Mannheimer wurde zu Max Israel Mannheimer, hörte kein Radio mehr und ging nach der Acht-Uhr-Sperre nicht mehr aus dem Haus.
An einem kalten Morgen im Januar 1943 musste sich die Familie mit maximal 50 Kilogramm Gepäck, ihren Dokumenten und einer Liste aller Haushaltsgegenstände in einer Schule in Ungarisch Brod einfinden. Für Mannheimer begann eine Zeit der Zahlen, in der sein Name nichts mehr wert war. Er war eine Nummer unter Tausenden: CP510, CU290, 99728, 2281, 87098. Er trug diese Nummern auf einem Stück Stoff, er trägt sie unter der Haut. Er wird sie nie vergessen. Max Mannheimer war 23 Jahre alt, als er ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurde.
Namenlos, hoffnungslos
Ankunft. Ausziehen, Haare rasieren, duschen unter eiskaltem Wasser, neue Kleidung, keine Widerrede. Danach Schlafen auf Pritschen ohne Stroh, Kälte, kein Strom, keine Ahnung, wo die Familie ist. „Wir werden unser eigenes Grab schaufeln“, sagte Max zu Edgar. Dabei wäre es so einfach gewesen: Der Stacheldraht, wenige Meter entfernt. Elektrisch geladen. Lebensgefährlich. Eine Berührung und alles Leid hätte ein Ende gehabt. „Willst du mich alleine lassen?“, fragte Edgar. Er wollte es nicht.
Auf Auschwitz folgte Warschau, auf Warschau Dachau. Im August 1944 standen Max und Edgar Mannheimer an der Stelle, an der wir heute stehen: Vor den Toren des Häftlingslagers Dachau. Im Gegensatz zu damals ist von der SS-Hauptwache zu unserer rechten nur noch das Fundament zu sehen. Jeder Neuankömmling musste hier vorbei, ausgehungert, zu Fuß vom Bahnhof aus. Am 22. März 1933 wurde das Konzentrationslager eröffnet, nur zwei Monate nach der Machtergreifung Hitlers. Es war ein Modelllager für die vielen KZs, die noch folgen sollten. In Dachau gab es aus diesem Grund auch ein SS-Ausbildungslager. SS-Angehörige sollten hier die Leitung eines Konzentrationslagers und den „richtigen“ Umgang mit den Häftlingen lernen. Unter anderem Rudolf Höss, später Kommandant des KZ Auschwitz, hat hier seine zweifelhafte Ausbildung erhalten. Viele Häftlinge wussten nicht, warum sie hierher gebracht wurden, alle mussten sie durch den eisernen Torbogen, der den Eingang des Häftlingslagers markiert. Durch die Tür, über der in stählernen Lettern prangt: Arbeit macht frei.
Dachau war keines der Vernichtungslager, in denen Menschen durch Gaskammern systematisch ermordet wurden. In Dachau geschah die Vernichtung durch Arbeit. Sinnlose Arbeit. Das Auf- und wieder Abtragen von Sandhügeln im Renntempo. Das Einschlagen und wieder Entfernen von Nägeln in ein Brett. Einzelne gelbe Blätter aus den Baumkronen der Pappeln zupfen, die den Weg entlang der Häftlingsbaracken säumen. Arbeit, die zermürbt. Arbeit, die den Geist und den Widerstand erschöpft. Heute stehen nur noch zwei Modellbaracken auf dem Gelände. Die ursprünglichen Gebäude mussten wegen akuter Einsturzgefahr abgerissen werden. Dennoch genügen die engen Räume mit den Bettgestellen aus Holz, jeweils drei Betten übereinander, um ein Gefühl für die beklemmende Wohnsituation der Insassen zu bekommen. An den Wänden prangen ihre Worte: Unerbittlich, furchtbar, eiskalt, feindlich, bedingungslos gefährlich. Jede der 34 Baracken bot Platz für 200 Personen – in den letzten Jahren des Krieges war das KZ mit 30.000 Häftlingen völlig überfüllt.
Ein Schritt zurück: Durch das Eisentor treten wir auf den Appellplatz. Links die Behausungen, rechts das ehemalige Wirtschaftsgebäude. Davor eine Gedenktafel und ein Mahnmal: Eine gigantisch anmutende Skulptur zeigt ausgemergelte, bizarr verdrehte Körper im Stacheldraht. Menschen, die vor lauter Verzweiflung „in den Zaun“ gegangen sind. Unser Weg führt in den Schubraum. Dorthin, wo Neuankömmlinge wie Max Mannheimer ihren Namen gegen eine Nummer tauschten. Wo zwischen den Jahren 1933 und 1945 rund 206.206 Häftlinge im KZ Dachau eintrafen. 8.352 davon kamen wie Mannheimer aus der Tschechoslowakei. Wir gehen durch das Sträflingsbad und den Bunkerhof, Ort tausender Exekutionen. Anschließend ins einstige Lagergefängnis, das auch leerstehend für Beklemmung und Unruhe sorgt. Nur hinaus, zurück ins Licht.
„Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“
Der Frühling verschleiert den Blick auf die letzten Gebäude unserer Führung. Hinter einem lauschigen Strom, zwischen Bäumen und Vogelgezwitscher. warten das alte Krematorium und die „Baracke X“. In ihnen die Verbrennungsöfen des KZ Dachau. Mehrere Hundert Tote forderten die Flammen in den ersten Jahren jeweils, bis 1943 waren es knapp 11.000. Zum Ende des Krieges stiegen die Zahlen der Ermordeten dramatisch an. Ungefähr 41.500 sollen es gewesen sein, die in Dachau den Tod fanden.
Edgar und Max Mannheimer waren nicht unter ihnen. Sie wurden am 30. April 1945 von den Alliierten befreit. Max Mannheimer war von Typhus gezeichnet, wog 38 Kilogramm. Aber er hat überlebt. Heute bezeichnet Mannheimer seine Vorträge vor Gruppen und die Bücher, in denen er seine Erlebnisse niedergeschrieben hat, als „Lebensabendbeschäftigungen“. Seit 28 Jahren spricht er über die Vergangenheit. Für die Zukunft hat er vor allem einen Wunsch: Mit 100 Jahren in Rente zu gehen.
Wir verabschieden uns von Max Mannheimer. Es fällt schwer zu begreifen, was dieser Mann in seinem Leben aufgrund der fehlgeleiteten Ideologie und Grausamkeit der Menschen seinerzeit durchleiden musste. Was er auch nach seiner Befreiung durchgemacht hat. Umso beeindruckender ist es, dass er heute bereit ist, seine Erfahrungen mit uns zu teilen – wie er selbst sagt, nicht als Ankläger, sondern als Zeuge der Zeit: „Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“
Auf dem Weg zurück zum Eingangstor, das für uns – im Gegensatz zu so vielen – gleichzeitig auch ein Ausgang ist, kommen wir an einer weiteren Gedenktafel vorbei. Darauf stehen nur zwei einfache Worte in den Sprachen der Inhaftierten: „Nie wieder“. Mehr braucht es nicht.
Am Ende bleibt für uns noch, danke zu sagen für eine weitere gelungene Gedenkstättenfahrt, die allen Beteiligten sicher noch lange in Erinnerung bleiben wird. Danke an Fanbetreuung, Fanabteilung und Fanprojekt für die gute Organisation und Betreuung. Danke an unsere Guides von der Gedenkstätte Dachau und dem Münchener Fanprojekt und natürlich ein riesiges Dankeschön an Max Mannheimer, der uns an seiner beeindruckenden Geschichte teilhaben ließ.