Eua Senf

Es hätte alles ganz anders kommen können...

22.12.2014, 10:58 Uhr von:  Gastautor
Es hätte alles ganz anders kommen können...

Im Frühjahr 2005 stand der BVB, unser Verein, kurz vor der Insolvenz. Nur 6 Jahre später fluteten wir erst den Rasen des Westfalenstadions und einen Tag später die Dortmunder Straßen zwischen Borsigplatz und B1. 2012 wiederholten sich die Bilder, einziger Unterschied war die zweite Trophäe in Händen der Mannschaft. Nur knapp wurde 2013 der große Henkelpott verpasst. Hört sich an wie ein Märchen, ist aber schwatzgelbe Realität. Der Verein ist auferstanden und hat sein Potential beinahe maximal abgerufen. Auch 2014 war ein Titel für Borussia greifbar. Einige Borussen, angeführt von Stammkraft Hummels, haben sich in Brasilien im Kreis der Nationalmannschaft den größten Titel dieses Sports gesichert. Vor einem halben Jahr war das. Und plötzlich wird alles was man sich aufgebaut hat in Frage gestellt? Selbst unser Trainer, Jürgen Klopp(!), ist manchem Fan nicht mehr heilig. Zugegeben: Die Liga-Talfahrt ist bei der vorhandenen sportlichen Qualität kaum zu erklären und dementsprechend schwer nachzuvollziehen. Aber angesichts der Situation vor knapp 10 Jahren, können und wollen viele Fans nicht verstehen, warum diese Lage ausreicht, um eine Grundsatzdiskussion auszulösen.

Denn es hätte alles ganz anders kommen können...

Scheiße, dachte ich auf dem Klo sitzend, in grundsätzlichen Gedanken verloren. Borussia gibt es nicht mehr! Mein Verein, einfach weggewirtschaftet. Ein surreales Gefühl. Noch vor kurzem erklangen die altbekannten Gesänge auf der Süd im Westfalenstadion. Jetzt gluckern dort die Tauben friedlich vor sich hin. Keine verschwitzten Kerle mehr, die sie alle zwei Wochen einem Ball hinterherjagend aufscheuchen. Ob den Tauben auch so langweilig ist wie mir? Wie soll es denn nun weitergehen? Heute ist Bundesliga. Ob ich mal nach zur Arminia fahre? Lieber nicht, dann wird mir nur wieder schmerzlich klar, wie sehr ich meinen BVB vermisse. 1909 gegründet, 2005 viel zu früh von uns gegangen. Ich verstehe nicht wie die anderen Fanclub-Kollegen, die Stehplatznachbarn das schaffen. Der Herbert, der schon inne Roten Erde in der Kurve stand, der fährt jetzt sogar zu den Blauen. Die wären von der Mentalität her so ähnlich wie wir. Wat? Als er zum ersten Mal in der Nordkurve stand, wurde er gefragt, wo er denn wech sei, man hat ihn da noch nie gesehen. Da hat er denen brühwarm erzählt, er sei seit er denken kann Blauer, aber konnte erst jetzt, wo er eine kleine Summe im Lotto gewonnen hat, zu den Spielen reisen. Er kommt ja aus dem Süden. Der Verräter kommt vonne Süd aus Dortmund! Was soll ich sagen. Nicht nur die Borussia existiert nicht mehr, auch viele Freundschaften gingen in die Brüche. Die Jungs und Mädels haben sich in verschiedene Richtungen verteilt. Viele fahren jetzt zu RWE. Durchaus ein sympathischer Verein. Habe auch mit dem Gedanken gespielt. Aber von Minden, ohne Fanclub, ganz allein...auch nicht das Gelbe vom Ei. Apropos gelb: Meine ganze Bude ist voll mit alten Erinnerungen.

Was waren das noch für Zeiten als wir Meisterschaften feierten, oder damals in München die Championsleague? Wobei sich meine Freude darüber im Nachhinein in Grenzen hält. Das war ja quasi der Anfang vom Ende. Erkauft. Auf Pump. Die Gründungsväter werden sich im Grab umdrehen. Und jetzt? Klopft meine Freundin an die Badezimmertür. Es ist Samstag. Ich sitze seit einer Stunde auf dem Scheißhaus und bin am Grübeln. Ob ich mit nach Bielefeld komme, shoppen? Was würde ich dafür geben, wieder beim Bierchen mit meinen schwatzgelben Freunden auf der Süd im Westfalenstadion zu stehen. Scheiß auf Meisterschaften und Pokale. Ich nehme auch Abstiegskampf. Hauptsache BVB!

Glücklicherweise ist es nicht so gekommen. Die Meisterschaften und der Pokalsieg waren sensationell und keineswegs selbstverständlich. Zu verdanken haben wir das in erster Linie einem Großteil dieser Mannschaft und dem Trainergespann. Der überraschende Erfolg hat bei einigen, und dazu zählen auch die Verantwortlichen, die Ansprüche gesteigert. Zeichnete den BVB 2010/2011 noch die Maxime "von Spiel zu Spiel denken" aus, so sah man sich zwischenzeitlich als ernsthafter Konkurrent der Bayern. Der Schund muss ein für alle Mal und für immer aus den Köpfen aller Borussen raus. Das führte zur Situation 2005 und ist auch an der momentanen Talfahrt nicht unschuldig. Wir müssen unseren Weg gehen, unabhängig von den anderen Vereinen. Von Spiel zu Spiel und im Optimalfall von Sieg zu Sieg. Gelingt uns dieser "Reset", sollten wir den Abstieg verhindern können. Namen sind aktuell egal. Jeder muss seine Rolle im Verein annehmen und alles dafür tun, aus dieser beschissenen Lage rauszukommen. Ärmel hochkrempeln und kämpfen. Die Mannschaft auf dem Platz, wir Fans auf der Tribüne. Wir halten auch im Abstiegskampf fest und treu zusammen. Denn es hätte alles ganz anders kommen können...

geschrieben von Tim Stratmann

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