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Die schwatzgelb.de WM-Kolumne 2002 - Teil 8: Morgengrauen, das Imperium schlägt zurück - Ordem e progresso: Linkinho, Jeremieso e Schneider da Silva

27.06.2002, 00:00 Uhr von:  Arne
Die schwatzgelb.de WM-Kolumne 2002 - Teil 8: Morgengrauen, das Imperium schlägt zurück -  Ordem e progresso: Linkinho, Jeremieso e Schneider da Silva
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La Repubblica (Italien): Auch wenn die schlechtesten Schiedsrichter pfeifen. Auch wenn alle großen Teams in der Krise sind. Auch wenn es die komischste WM aller Zeiten ist. Mitten im Chaos gibt es immer eine Sicherheit: Deutschland!"

Irgendwo im Grenzgebiet müssen sie aufgewachsen sein, besser gesagt gezüchtet. Dort wo Kirch Media, Axel Springer und Bravo Sport aufeinander treffen, wo die Eventquelle entspringt und der Zauberfluss irgendwann in den Spaßsee mündet. Da wo man den Kindern die Märchen vom Rumpelfußballer und den sieben Technikern erzählt, bevor man sie gut behütet mit der Brasilienfahne zudeckt. Ja, da irgendwo müssen sie herkommen, die Ästhetik-Fans!

Es ist gar nicht so lange her, da war das deutsche Fußballvolk zufrieden. Spiele wurden gewonnen, Titel errungen und irgendwie war es den Leuten egal, wie dies zustande kam. Ein unattraktives Unentschieden über die Zeit gerettet und dann im Elfmeterschießen den hoch überlegenen Gegner bezwungen, dem Gegner das Spiel zerstört und sehenswerte Dribblings kurzerhand mit der Blutgrätsche beendet - das war der Fußball, für den Deutschland bekannt war, und das war auch gut so, denn damit war man erfolgreich.
In manchen Regionen des Landes - in Dortmund beispielsweise - wurden diese Zerstörer, diese Fußballarbeiter gar mehr geliebt als die Schnörkelkicker, deren Spiel zwar schön anzusehen, die aber niemals ihr letztes Hemd gaben und daher immer uneffektiv blieben.

Heute ist alles anders: Nachdem urplötzlich die Ästheten über das Land kamen und den Fußballsport für sich entdeckten, ist ein Sieg noch lange kein Sieg. Spaßfußball will man hierzulande nun auf einmal sehen und folgerichtig küren Presse und Öffentlichkeit nun in schöner Regelmäßigkeit neben dem offiziellen - aber unwichtigen - DFB-Titel auch noch den wahren, den verdienten, eben den "Meister der Herzen".
17 Hackentricks, 11 Volleyschüße, 5 Fallrückzieher und 3 schön anzusehende Dribblings mit Übersteiger - nur wer diese Vorgaben des Volkes erfüllt, darf sich als (moralischer) Sieger eines Fußballspiels fühlen.

Und so verwundert es dann auch nicht, dass eine deutsche Fußballnationalmannschaft im Endspiel der Weltmeisterschaft steht und dennoch von vielen Seiten an der unattraktiven Spielweise herumgemäkelt wird: Schlecht würde man spielen, unattraktiv und eigentlich habe man es auch nur durch Glück und leichte Gegner so weit geschafft, so die Berufsnörgler und Schönspielfetischisten der Nation. Zugegeben, die ganz großen Brocken blieben der Nationalelf bisher erspart. Aber auch gegen Kamerun, Paraguay, USA und Südkoreas muss man erst einmal gewinnen. Und waren es nicht gerade diese Dauermeckerer und Haar-in-der-Suppe-Sucher, die unsere Jungs vor diesem Turnier auf einer Stufe mit eben diesen Teams gesehen haben? Die schon die Vorrundengegner als zu große Hürde für Rudis Truppe glaubten und ihr bestenfalls das Achtelfinale zugetraut hatten?
Nun steht diese Mannschaft im Finale, und vermutlich würde selbst ein deutscher Titelgewinn von einigen hierzulande als Niederlage für den Fußball gewertet werden.

"Wieviel Franz steckt in Rudi?"

Weitaus weniger Leistung als die Träger der schwarzweißen Trikots vermochten im fernen Asien die Berichterstatter von ARD/ZDF und der Kirch-Gruppe abzurufen. So enttäuschte Heribert Fassbender auch in diesem Jahr all jene Zuschauer, die sich seit Jahrzehnten, WM für WM, selbst Mut zu sprechen und auf eine natürliche Lösung des Reporterproblems hoffen. Doch da auch fortschreitende senile Demenz für die Verantwortlichen offenbar keinen Grund dafür darstellt, einem Kommentator das Mikrofon abzunehmen, durfte uns Heribert auch in diesem Jahr mit lustigen Phantom-Torschreien, heiterem Spielerraten und allerlei weiteren Gimmicks erfreuen. Beispiel gefällig? "Die Fans schreien ‚Turkiye, Turkiye', was so viel heißt wie ‚Türkei, Türkei'."

Aber auch die ZDF-Kollegen des Faselfürsten sorgten bei dieser Weltmeisterschaft wieder für zahlreiche Highlights. So überraschte uns Johannnes Babtist Kerner im USA-Spiel mit seinen laut gewordenen Überlegungen zu den sexuellen Vorlieben unserer Ex- und immer-noch-Teamchefs: "Wieviel Franz steckt in Rudi?" fragte sich der Latenight-Talker - eine Frage, deren Antwort wir eigentlich gar nicht wirklich wissen wollen. Viel interessanter wäre da hingegen eine Auflösung jener Frage, die sich für die deutschen Fans bei dieser Weltmeisterschaft einmal mehr aufwarf: "Wieviel Grips steckt eigentlich in Kerner?"

Bei so vielen Fehlern seiner Free-TV-Kollegen wollte offenbar auch Marcel Reif sich nicht zweimal bitten lassen und kämpfte verbittert um seine Vormachtsstellung als unbeliebtester Fußball-Kommentator in diesen Breiten. Hatte er bereits im zweiten Gruppenspiel den durchweg starken Christoph Metzelder als allein Schuldigen für Hunger und Elend in der Welt, die Terroranschläge vom 11. September und nebenbei auch das 1:1 gegen Irland ausgemacht, prophezeite die Koryphäe der Sportberichterstattung im Viertelfinale gegen die USA gar den Untergang des Abendlandes und wähnte den deutschen Fußball niveaumäßig schon "unter der Brücke".

Vielleicht sollten die deutschen Fernsehsender einfach mal mit ausländischen Fernsehkommentatoren verhandeln. Bei denen bekommt man als Zuschauer wenigstens nicht gleich mit, was für einen Blödsinn sie verzapfen und zumindest die Herren aus den großen Schönspiel- und Vorbildnationen Argentinien, Frankreich, Portugal und Niederlande dürften sehr schnell verfügbar sein...

Der DFB und die Fans

Dass neben Kommentatoren aber auch ein ganzer Verband außer Form sein kann, bewies der DFB unter der Woche eindrucksvoll. Während portugiesische Fans auf Verbandkosten nach Asien geflogen wurden, um dort die eigene Mannschaft zu unterstützen, hält es der DFB nicht einmal zum Finale für nötig, verbilligte Flüge für die Fans zu organisieren. Schlimmer noch: Eigeninitiativen der Anhänger - der Münchner Fanclub Nr. 12 hatte beabsichtigt, einen Jumbo nach Tokio zu chartern - werden vom Verband solange hinausgezögert, bis die Organisatoren diesen absagen müssen (schwatzgelb.de wird darüber noch ausführlich in einem gesonderten Artikel berichten).

Überflüssig zu erwähnen, dass man in der Frankfurter Verbandszentrale für VIPs schon längst einen Flieger organisiert hat...

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