Brief an Arnes Sohn (von Frank Fligge)
Ich habe Deinen Vater kennengelernt, da war er selber gerade erst erwachsen. Jedenfalls laut Altersangabe in seinem Ausweis. In Wahrheit hat er wahrscheinlich schon sehr viel früher erwachsen gedacht als die allermeisten Erwachsenen es je tun. Andererseits war er manchmal störrischer und dickköpfiger als pubertierende Teenager es je sind. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte oder wenn es darum ging, seine Meinung und seine Überzeugung zu vertreten, war er nie erwachsen. Dann war er Arne. Arne, der Überzeugungstäter.
Ich schweife ab.
Lass uns die Zeit zurückdrehen. Bis ins Jahr 2001. Arne hatte kurz zuvor mit einigen anderen BVB-Fans, unter ihnen auch Reinhard Beck, der später – ebenfalls gemeinsam mit Deinem Vater – eine treibende Kraft bei der Gründung der BVB-Fanabteilung war und ihr erster Vorsitzender wurde, das Online-Fanzine schwatzgelb.de ins Leben gerufen. So etwas war damals noch selten und innovativ und überhaupt ziemlich cool. Ich wiederum war Redakteur in der Dortmunder Lokalredaktion der Westfälischen Rundschau und habe über die Schwatzgelb.de-Truppe berichtet. Ein sehr sympathischer, enthusiastischer, fußballbegeisterter, aber eben auch kritischer Haufen mit dem schwarzgelben Herz am richtigen Fleck.
2003, als die Stadt Schwerte Deinem Vater die Stadtmedaille verlieh, bat man mich, die Laudatio auf ihn zu halten. Er hieß damals noch Kazperowski – es war lange bevor er Deine Mama heiratete und ihren Namen annahm. Was war passiert: Arne war mit dem BVB beim Auswärtsspiel in Hamburg gewesen. Nach dem Spiel hatten sich HSV-Fans untereinander geprügelt. Einer war schwer verletzt. Für Deinen Vater als ausgebildeten Rettungssanitäter war es völlig klar, dass er Erste Hilfe leisten musste. Er rief die Polizei hinzu, doch die behinderte ihn nur und drohte ihm sogar mit Festnahme. Als alles vorbei war, formulierte Arne eine Dienstaufsichtsbeschwerde an Hamburgs Ersten Bürgermeister Ole van Beust. Ich weiß gar nicht mehr, wie das damals letztlich ausgegangen ist. Das ist aber auch nicht wichtig.
Wichtig ist zweierlei: Erstens, dass Deinem Vater die Auszeichnung durch die Stadt Schwerte eher unangenehm war, weil er seiner Ansicht nach ja nichts Besonderes, sondern etwas ganz und gar Selbstverständliches getan hatte. Und zweitens: Diese kleine Anekdote sagt so viel über Arne und seinen Charakter aus. Er gehörte zu der Kategorie Mensch, von der es viel zu wenige gibt. Er hatte, obwohl er ja nun wirklich nicht der Größte war, ein breites Kreuz, ein starkes Rückgrat. Er hatte, wie man hier bei uns im Revier sagt, einen Arsch in der Hose. Er hatte Haltung und er hatte zu vielen wichtigen Dingen eine glasklare Meinung. Die bildete er sich nicht leichtfertig. Arnes Meinung war immer fundiert. Sie war nicht immer bequem, wirklich nicht, aber sie war immer zu 100 Prozent SEINE EIGENE Meinung. Und er gab immer alles, um andere von ihrer Richtigkeit zu überzeugen. Er war dabei immer ehrlich und geradeaus.
Nun ist es nicht so, dass Dein Vater und ich die allerdicksten Freunde gewesen und ständig miteinander um die Häuser gezogen sind. Da gab es andere, die ihm viel näher standen und die bestimmt auch ihre Erinnerungen aufschreiben. Aber während all der Jahre zwischen 2001 und 2015 haben sich unsere Wege immer wieder gekreuzt. Als ich, mittlerweile Reporter bei den Ruhr Nachrichten, zwischen Dezember 2003 und Frühjahr 2005 über die Finanzkrise des BVB berichtete, haben wir oft miteinander gesprochen – und ich wusste stets: Wenn ich wissen wollte, wie die schwarzgelbe Fanseele tickt, dann konnte ich mich auf Arnes interne Kenntnisse und sein Gespür verlassen. Er war in dieser Phase und auch in den Jahren danach eine große Hilfe.
Dass sich schwatzgelb.de sehr schnell zu einem der Top-Fanzines in der deutschen Fußballszene entwickelte, daran hatte er großen Anteil. Noch größer aber ist sein Anteil daran, dass sich die Plattform über viele Jahre hinweg etabliert hat – als unabhängige, meinungsstarke und qualitätvolle Instanz außerhalb des Vereins und mittendrin in der Fanszene. Für viele Anhänger wurde schwatzgelb.de die allererste, weil glaubwürdigste Anlaufstelle im Internet.
Mit den Jahren war Borussia allein Deinem Vater aber wohl zu eindimensional. Er engagierte sich darüber hinaus für soziale Projekte. Er engagierte sich für eine tolerante, weltoffene Gesellschaft. Jede Form von Diskriminierung und erst recht Fremdenfeindlichkeit und Rassismus waren ihm – auch das verband uns im Geiste – zuwider. Er hat sich gegen Rechts eingesetzt, und dass er den Rechten ein Dorn im Auge war, ist vermutlich eines der größten und schönsten Komplimente, die er erfahren durfte.
Ich empfinde den Tod Deines Vaters, bitte verzeih' mir die Wortwahl, als scheiße ungerecht. Aber ich habe mich gefreut – für ihn, für Deine Mama und letztlich auch für Dich –, dass die Kirche bei seiner Trauerfeier so prall gefüllt war wie das Westfalenstadion bei Heimspielen des BVB. Ich habe mich gefreut, dass Borussia tags darauf vor dem Spiel gegen Augsburg für ihn und den fast zeitgleich verstorbenen Rüdiger Raguse, ebenfalls ein langjähriges aktives Mitglied der Fanszene, eine Gedenkminute gehalten hat. Es war mucksmäuschenstill im Stadion, und viele Fans hielten Transparente hoch, auf denen sie sich bei den beiden bedankten. Es gibt Fotos davon – Du wirst Sie schon gesehen haben und erstmals sehen, wenn Du auch diesen Text und die sicher vielen anderen Texte liest. Es war an beiden Tagen, in der Kirche und im Stadion, der respektvolle Abschied, den Dein Vater verdient hatte.
Wie sehr er gegen die Krankheit angekämpft hat, auch und gerade für Dich, das können andere Dir besser erzählen als ich. Ich kann Dir sagen, dass ich ihn nie habe jammern hören. Er hat sich die Freude am Leben von diesem verschissenen Krebs nicht nehmen lassen. Er hat sich auch seine Pläne nicht kaputtmachen lassen. Noch zwei Wochen vor seinem Tod erzählte er mir, dass Deine Mama und er ein Projekt „am Start“ hätten und fragte mich, ob ich ihm einen Kontakt zur Dortmunder Stadtspitze herstellen kann. Ich bat ihn, mich anzurufen oder mir im BVB-Presseraum zu berichten, worum genau es ging. Er schrieb mir zurück, und das war das Letzte, was ich von ihm hörte: „Geht klar. Eins von beidem kriege ich hin.“
Wenn Du diese Zeilen liest, wird Arne schon einige Jahre nicht mehr bei uns sein. Vergessen haben werden wir ihn nicht, da darfst Du sicher sein.
Liebe Grüße, Frank Fligge
Frank Fligge, 10. November 2015
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