Ein Fan-Leben Meine Mama
Meine Mama ist ein großer Fußballfan. Gewesen. Wie jeder enthusiastische Fan hat sie um die Spiele herum geplant, die Frage war immer: Wann ist das Spiel? Also nur logisch, dass sie auch ihren Tod in eine Länderspielpause gelegt hat.
Der Auslöser
Großpapi Jakob hatte Ende der 20er des letzten Jahrhunderts schon stur seine kleinen Töchter mit zum Fußball genommen. Da hat er noch selbst gespielt und seine Mädchen brachten ihm den Spitznamen “Papa” im Verein, so hatten sie ihn angefeuert. Die große Tochter wird 103 dieses Jahr.
Natürlich hat er auch seine Enkelin mit zum Fußball genommen, dann als Zuschauer. Dass ihn alle am Platz “Papa” riefen, hat meine Mama schwer irritiert und ich glaube, das Spiel war anfangs gar nicht so wichtig. Sie hat es einfach geliebt, Zeit mit ihrem Großpapi zu verbringen.
Dieser Großpapi ist auch aus der Schweiz nach Dortmund gekommen, um Borussia in der Roten Erde gegen Benfica zu erleben: “Das muss ich sehen!” 1.070 Kilometer für dieses Spiel, ich würde sagen, das kann man Begeisterung nennen.
Leider hat meine Mama den Welpen, der ‘ihre Haare geerbt’ hat und nach ihrem lieben Großpapi benannt ist, nicht mehr persönlich kennengelernt, nur noch auf einem Handydisplay.
Jedenfalls hat dieser Beginn, hat diese Verbindung dafür gesorgt, dass meine Mama Fußballfan wurde, so sehr, dass selbst jede Radtour unterbrochen werden musste, wenn sie an einem Fußballplatz vorbei führte, auf dem ein Spiel lief. “Nur ein paar Minuten zuschauen”, das musste immer sein.
Dank an die Südtribüne
Letztlich war es meine “Schuld”, dass meine Mutter auf der Südtribüne landete. Ich wollte ins Stadion und nachdem ich die Süd gesehen hatte, wollte ich dorthin. Die ersten Male begleitete der Papa den Teenager, das war ja üblich. Aber dann kam der Job auch am Wochenende dazwischen und meine schüchterne Mama, die eine sehr strenge, religiöse Erziehung bekommen hatte, als Kind bestraft wurde, wenn sie sich auch nur ein bisschen dreckig gemacht hatte, nie ausgelassen und aufgedreht sein, nicht tanzen durfte, keine Schimpfworte benutzen konnte, Angst hatte anzuecken und immer heftig zusammen zuckte, wenn jemand laut wurde, landete mitten drin:
Zwischen den großen, lauten, (anscheinend) aggressiven Schreihälsen, in der Enge der springenden Menge, im Matsch aus Staub, Bier und dem Müll auf den Stufen, unter den Bierduschen und einmal unter dem Strahl des Löschwassers der Feuerwehr. (Das war aber auch ein verflucht heißer Tag.) Sie hat sich sogar den Aberglauben erlaubt, dass jeder Cent, den wir finden, nicht nur Glück bringt, sondern auch ein Tor für Borussia bedeutet.
Ich möchte mich bei der Südtribüne im Namen meiner Mama bedanken:
Ihr habt ihr mit eurer Hilfsbereitschaft die Angst genommen, als sie im zweiten Spiel gesehen hat, wie sich gekümmert wird, wenn es jemandem nicht gut geht. Die Geschichte hat sie immer wieder erzählt, besonders wenn jemand meinte, das "wäre doch gefährlich". Ihr habt ihr den Glauben an eine Gemeinschaft gegeben, die wirklich zusammenhält, über alle sonstigen Differenzen hinweg.
Ihr habt ihr Ausgelassenheit und Freiheit geschenkt, sie konnte schreien, springen und loslassen auf den Betonstufen zwischen euch. Sie hat gelernt, wütend zu sein, Schimpfworte zu benutzen, gut, Pfeifen hat nicht geklappt, aber ungeniert Buh-rufen.
Es waren wunderbare Jahre mit euch.
Dank an Borussia und das Stadion
Ihr wart ein Ziel für meine Mama, nach dem ersten Tumor und dem Eingriff vor drei Jahren war noch komplett Corona, aber es zu Fuß zur Abfahrt vom Bus zum Hotel zu schaffen, war ihr Training. Es folgten noch zwei gutartige und zwei bösartige Tumore, alle brauchten Eingriffe, es gab (schwere) Komplikationen. Es zurück ins Stadion, zurück auf die Tribüne zu schaffen, war immer wieder ihr Ansporn. Sie hat die Spiele genossen, egal wie sie ausgingen. Seit Anfang dieser Saison hat es dann erstmal nicht mehr geklappt, dann war es nur noch das Netradio und ReLive. Trotzdem danke, dass ihr meine Mama mit einer Siegesserie verabschiedet habt! Natürlich war sie traurig nach Niederlagen, natürlich war auch ihr Wochenende ruiniert, wenn alles schief ging. Aber das gehörte dazu, in guten wie in schlechten Zeiten und die guten waren eben so viel besser zu feiern nach den schlechten. Und eine Niederlage, ein verpasstes Ziel, konnte nicht das Schlimmste sein, das Schlimmste wäre gewesen, nicht zurückkommen zu können.
Ihr letzter Tag
Dieser letzte Tag war nicht mehr wirklich schön, Morphium nimmt Schmerzen, allerdings auch sonst alles. Aber wir haben - wie im Stadion auch, wie sie immer gesagt hat - das Beste daraus gemacht: Durchhalten, Support bis zum Schluss, bleiben bis zum Abpfiff, “damit man sich nichts vorwerfen muss, damit man wirklich alles versucht hat”.
Musik hat sie noch erreicht, hat noch eine Reaktion ausgelöst, also habe ich ihre Lieblingslieder gespielt und wir haben “getanzt”. Die Borussia-Playlist war schwerer, aber ich wusste ja, das waren ebenso ihre Lieblingslieder. Also habe ich auch “You'll Never Walk Alone” nicht ausgelassen. Und es hat sich gelohnt: Meine Mama, die eigentlich die Nacht nicht mehr überleben sollte, hat am Nachmittag auch ihre kleine Schwester noch gesehen, die morgens in der Schweiz losgefahren war. Wir waren beide bei ihr, als sie am frühen Abend endgültig loslassen musste. Ihr letztes Lied war
Der Diamant
Meine Mama hatte zwei letzte Wünsche, für beide haben weder Zeit noch Kraft gereicht: Nochmal zum Spiel ins Stadion und noch ein Stück Kuchen mit Sahne und einen Cappuccino in der Sonne.
Wir hatten weit vorher schon darüber gesprochen, dass es Erinnerungsdiamanten als Form der Bestattung gibt und ich habe so leichthin gesagt: “Dann könnte ich dich weiter mit ins Stadion nehmen, dann könntest du weiter immer dabei sein ” und meine Mama meinte, das würde ihr sehr gefallen.
Also dauert es jetzt zwar noch eine Weile, aber dann kommt meine Mama wieder mit auf die Tribüne und dieser Wunsch wird erfüllt.
Ich mache mir jetzt einen Cappuccino, esse ein Stück Kuchen und hoffe, das gilt auch. Die Sonne scheint gerade, der BVB hat nach zehn Jahren in München gewonnen… Das hätte Mama ausgesprochen gut gefunden.