Der stete Tropfen
Während Borussia Dortmund mit aufregenden Spielen und offensivem Fußball rund um die Publikumslieblinge Erling Haaland, Marco Reus und Jude Bellingham auf dem Platz viel Freude bereitet, sorgt der Club vom Rheinlanddamm neben dem Platz immer häufiger für Kopfschütteln. Das wird zunehmend zu einem großen Problem.
Borussia verbindet Generationen, Männer und Frauen, alle Nationen.
Diese berühmte und mittlerweile vielzitierte Textzeile aus Bruno Knusts Hymne „Borussia“ stimmt. Der BVB verbindet seine Fans und Sympathisanten, und das vor allem auf zwei Ebenen. Die erste Ebene ist, na klar, der Sport. Wir alle kommen im Stadion, vor den Fernsehern, Computern oder Radios zusammen, um unseren Männern und Frauen im schwarzgelben Dress zuzujubeln, wenn sie den Sport betreiben, der in Deutschland König ist. Wir wollen sie gemeinsam siegen sehen und leiden gemeinsam in der Niederlage.
Doch schon auf der ersten Ebene wird es zunehmend schwieriger, sich mit dem BVB zu identifizieren. Das liegt nicht am schlechten Fußball – in Krisenzeiten steht man beim BVB traditionell besonders eng zusammen. Es liegt daran, dass die internationalen Top-Talente der Borussia soviel Bindung zu Stadt, Fans und Verein aufbauen wie Öl zu Wasser. Es liegt daran, dass millionenschwere Jungstars in Sphären leben, die mit denen ihrer Fans absolut nichts zu tun haben – für den Urlaub mal kurz in Staaten jetten, die Menschenrechte mit Füßen treten; geschmacklose und vollkommen überteuerte Designer-Klamotten tragen oder zum Abendessen mit Gold verzierte Steaks verspeisen... damit kann sich der gemeine Fan von der Südtribüne nur schwer identifizieren. Erst recht nicht, wenn die Spieler des BVB zunehmend in einer Blase gehalten werden, bei der sich Kontakte zu Fans auf Fotos beim öffentlichen Training beschränken, was in der Form eher an einen Besuch im Zoo mit eingesperrten Tieren als an ehrliche menschliche Begegnung auf Augenhöhe erinnert. Es ist kein Wunder, dass bodenständige Ex-Spieler wie Marcel Schmelzer oder der U-Bahn-fahrende Neven Subotic eine solche Verehrung erfahren, obwohl sie sportlich eben nicht so prägende Ausnahmespieler waren wie es ein Erling Haaland heute ist.
Vor allem für ältere Fans ist das jedoch ein immer kleiner werdendes Problem. Schließlich gilt: Spieler kommen und gehen, Borussia bleibt bestehen! Das heißt auch, dass es eine zweite Ebene der Identifikation mit dem Ballspielverein gibt und geben muss. Für viele Menschen ist der BVB eben nicht nur diese Sportgemeinschaft, der man zujubelt – er ist auch eine Wertegemeinschaft, der man angehört. Eine Gruppe von (vielen) Menschen, der man sich zugehörig fühlt, weil sie das Gleiche denkt, das Gleiche fühlt und der das Gleiche wichtig ist. Und hier wird’s in den letzten Jahren zunehmend problematisch.
Als vor etwas mehr als 15 Jahren bekannt wurde, in welch existenzbedrohender Lage sich Borussia Dortmund befand; als herauskam, dass Verwertungsrechte an Vereinsnamen und -Logo verpfändet worden waren; als dann letztlich die Namensrechte am Westfalenstadion meistbietend verkauft wurden, gingen BVB-Fans buchstäblich auf die Straße. Die Botschaft damals: Es gibt Werte, die stehen nicht zum Verkauf! Als ein ehemaliger Ausrüster ein weiß-gelbes Trikot auf den Markt brachte, gab es Proteste und letztlich eine Satzungsänderung. Als das Zitat einer Vereinslegende am Stadion durch ein Sponsorenlogo ersetzt wurde, gab es Kritik. Aber man muss nicht mal weit in die Vergangenheit blicken, um derartige Vorfälle zu finden: Als der BVB jüngst in der Champions League mit einem Trikot ohne erkennbares Logo auflief, obwohl es schon Monate zuvor massiven Gegenwind gab, musste der Verein zurückrudern und eine erneute Änderung durchsetzen. Als Fans Kritik an der letzten Champions League Reform übten und das Spruchband entfernt werden musste, gab es Kritik. Und nun stößt die Entscheidung, die Zulassungsbedingungen für Besuche im Westfalenstadion während einer Pandemie zu lockern, mindestens auf Kopfschütteln.
Das war nur eine kleine Auswahl der Fehltritte vom Rheinlanddamm. Und man könnte jeden einzelnen wahrscheinlich halbwegs sinnvoll und plausibel erklären, mit einem Kommunikationsfehler begründen oder auch ganz nüchtern betrachtet nicht als Skandal bezeichnen. Stimmt. Außerdem macht der BVB in der Antidiskriminierungsarbeit z.B. auch aufrichtig gute Arbeit und wichtige Fortschritte. Das Problem ist jedoch das Gesamtbild, das unweigerlich entsteht. Denn am Ende jeder der oben genanten Entscheidungen steht immer mehr das Gefühl, dass bei Borussia Dortmund nur noch ein einziger Wert ausschlaggebend ist: Geld. Es scheint nichts mehr zu geben, das heilig ist; nichts mehr, das unantastbar ist. Bei all den Kröten, die wir Fans schon schlucken mussten, ist es wirklich kein Wunder, dass schon Kleinigkeiten dazu führen, dass es uns oben wieder raus kommt.
Nüchtern betrachtet ist Borussia Dortmund ein Wirtschaftsunternehmen, das sein Geld mit Unterhaltungsdienstleistungen und dem Verkauf von Merchandising-Artikeln verdient. Ich bin aber Fan und kein Kunde. Ich will es nicht nüchtern betrachten. Für mich muss Borussia Dortmund in erster Linie eine Wertegemeinschaft sein, mit der ich mich identifizieren kann. Für mich muss Borussia Dortmund etwas verkörpern, das unveräußerlich ist – Haltungen, die man nicht aufgibt, weil man dadurch vielleicht weniger Zuschauer ins Stadion bekommen kann; eine Identität, die diesen Verein von anderen abhebt; Werte, die nicht nur auf dem Konto bestehen.
Wofür steht der BVB? Was verkörpert er? Was unterscheidet ihn von den seelenlosen Investorenclubs im In- und Ausland? Das größere Stadion, die besseren Spieler, x Champions League Teilnahmen in Folge? Gibt’s noch irgendwas, das nicht (mittelbar) käuflich ist und diesen Verein zu dem macht, was er ist?
Ich weiß schon, was als Gegenargument kommen wird: „Ja, aber wir müssen doch konkurrenzfähig bleiben“, wahlweise auch noch international. „Die Engländer rennen uns alle davon!“ Ganz ehrlich: Lass sie rennen. Was ist ein Titel wert, wenn man seine Seele dafür verkaufen musste? Was bringt mir Erfolg, wenn ich den Verein, den ich liebte, dafür nicht mehr ausstehen kann?
Am Rheinlanddamm sollte man sich bei jeder Entscheidung künftig jedenfalls noch genauer fragen, welches Bild und welche Werte man damit vermittelt. Das Fass ist nicht mehr fast voll – es läuft bereits über.