Eine Zäsur
Die Ereignisse am 24. Spieltag haben genügend Zündstoff, um die Causa Dietmar Hopp erneut zur Eskalation zu bringen. Dabei geht es jedoch inzwischen um viel mehr.
Der 24. Spieltag der laufenden Saison hat das Potenzial, eine Zäsur im deutschen Fußball darzustellen. Beleidigende Gesänge und Spruchbänder gegen Dietmar Hopp beim Heimspiel der TSG Hoffenheim gegen den FC Bayern wurden vom Schiedsrichter zum Anlass genommen, das Spiel mehrfach zu unterbrechen. Anschließend einigten sich die Mannschaften darauf, beim Stande von 6:0 für die Münchener die restlichen Minuten des Spiels auszusitzen und sich den Ball zuzuschieben. Zuvor gingen Spieler, Funktionäre und Trainer der Bayern mehrfach vor den Gästeblock, um die Fans vergeblich zur Mäßigung aufzurufen. Gegen Ende skandierte das Hoffenheimer Publikum zusammen mit den Spielern den Namen von Dietmar Hopp, der von einem betroffenen Karl Heinz Rummenigge in den Arm genommen wurde.
In der TV-Übertragung wurde das Verhalten der Gästefans nicht nur – wie üblich – beschrieben als das Fehlbenehmen einiger weniger Unverbesserlicher. Vielmehr wurden wahlweise den Fans das Fan- oder gar Menschsein abgesprochen, der Verfall von Gesellschaft und Demokratie beklagt oder in größter Betroffenheit andere Untergangsszenarien skizziert. Kurz gesagt: man durfte heute Nachmittag Zeuge von absolut absurden Szenen werden.
Hunderte Kilometer entfernt, im Dortmunder Westfalenstadion, lief man vermutlich Gefahr, eine ähnliche Situation zu erleben. Anti-Hopp-Gesänge nahm der Stadionsprecher ebenfalls zum Anlass, die Menge zur Mäßigung aufzurufen und eine Spielunterbrechung bzw. einen Spielabbruch anzudrohen. Quittiert wurde die Durchsage, ganz im Sinne der Mär von den „100 Unverbesserlichen“ von einem gellenden Pfeifkonzert von großen Teilen des Stadions.
So viel zu den Ereignissen.
Worin die Zäsur besteht, dürfte auf der Hand liegen. Erstmalig wurden beleidigende Gesänge einer Fankurve zum Anlass genommen, die reelle Gefahr eines Spielabbruchs in den Raum zu stellen. Offenbar schien man dieses Mittel doch noch so zu scheuen, dass man lieber auf den „Nichtangriffspakt“ auswich, dies war aber sicherlich auch dem klaren Spielstand von 0:6 geschuldet.
Im Ergebnis geht es also um nicht mehr und nicht weniger als den Versuch, die Fankurven der Bundesliga im Auftrag eines Milliardärs mundtot zu machen. Warum dies aus so vielen Gründen eine fatale Entwicklung ist?
1. Oft wird die Problematik lediglich darauf reduziert, die Fanszenen würden so viel Energie in den Kampf reinstecken, andere Menschen beleidigen zu können. Das verkennt natürlich völlig, dass es schon lange nicht mehr um Dietmar Hopp geht. Dietmar Hopp ist schlicht und ergreifend zum Sinnbild geworden. Er steht exemplarisch dafür, dass Verbände, Funktionäre und Mäzene die unliebsamen Kurven nach ihren Vorstellungen in ein Korsett stecken möchten. Niemand wird ernsthaft behaupten, dass es sich bei den Plakaten und Gesängen um besonders kluge oder geschmackvolle Äußerungen handelt. Darum geht es allerdings auch nicht. Es geht darum, dass weder der DFB, noch Dietmar Hopp, noch sonstige Vorstände und Funktionäre festlegen sollen dürfen, was eine Kurve von sich geben darf und was nicht.
2. Ein paar Worte noch zu den Gesängen und Plakaten zum Mitschreiben: Kein Mensch möchte Dietmar Hopp in seiner körperlichen Unversehrtheit beeinträchtigen. Das Fadenkreuz als Symbol hierfür zu interpretieren ist genauso sinnbefreit wie zu sagen, dass jedes Mal, wenn es in den Medien heißt „Der Angeklagte geriet ins Fadenkreuz der Behörden“, damit gemeint wäre, dass die Behörden jemanden erschießen wollen würden. Meine Güte, das Fadenkreuz-Logo war ursprünglich mit einem Spruch aus einem gottverdammten Arnold Schwarzenegger-Film versehen („Hasta la vista Hopp“). Wie viel mehr Symbolik und wie wenig tatsächliche Drohung kann man noch mit reinpacken? Ungeachtet des Umstandes, dass in den vergangenen Jahren auch zig „harmlose“ und „lustige“ Spruchbänder zu der Thematik gezeigt wurden (wie etwa: „Dass dich keiner leiden kann stand wohl nicht im Businessplan“ oder das Dortmunder „Du Sohn einer Hupe“). Dass durch die Maßnahmen von Hoffenheim / Hopp natürlich in das „geschmacklose“ Horn geblasen wird, kann man schlecht finden, ist aber ein völlig normaler Streisand-Effekt. Entscheidend ist: hätte er die Gepflogenheiten genauso akzeptiert, wie alle anderen Akteure im Fußballsport, dann wäre das Thema schon längst erledigt. Schließlich wird die TSG Hoffenheim als Verein aus dem Reagenzglas inzwischen lange nicht mehr so angefeindet wie etwa RB Leipzig.
3. Darüber hinaus geht es vor allem um Verhältnismäßigkeit. Wo war die Solidarität und kollektive Betroffenheit von Spielern und Verantwortlichen bei rassistischen Vorfällen in der jüngeren Vergangenheit, etwa im DFB-Pokal in Gelsenkirchen bei den Beleidigungen gegen den Berliner Jordan Torunarigha? Oder, um die Absurdität der heutigen Ereignisse aufzuzeigen: brechen wir zukünftig auch ein Spiel ab, wenn Oliver Kahn mit Bananen beworfen wird? Wenn Uli Hoeneß als Gottweißalswaserschonallesbeleidigtwurde bezeichnet wird? Was ist mit Timo Werner? Jens Lehmann? Was ist mit den „BVB Hurensöhnen?“. Die Liste ließe sich endlos fortführen. Sie soll kein Plädoyer dafür sein, dass Beleidigungen und Schmähgesänge der wichtigste Aspekt einer lautstarken Fankurve sind. Aber sie sind zumindest eine Seite der Medaille und eine Form der Auseinandersetzung zwischen zwei Vereinen an einem Spieltag. In einem Raum, auf dem naturgemäß andere Umgangsformen herrschen, als in einer Universität oder einem Arbeitsplatz.
4. Wo ziehen wir also die Grenze? Das muss jede Fankurve in einem Prozess für sich selbst ausloten. Entscheidend ist allerdings, dass weder der DFB als Institution, noch irgendein einzelner Funktionär oder ein Verein diese Grenze festlegen darf. Sollten beleidigende Spruchbänder oder Gesänge rechtliche Relevanz besitzen, dann muss sich ein Gericht damit befassen (wenngleich die Gerichtsprozesse im Falle Hopp einer Farce gleichen). Rassistische Äußerungen sind selbstverständlich nicht zu tolerieren, allerdings haben auch hier die Fankurven dafür gesorgt, dass diese weitgehend aus den Stadien verbannt wurden. Die genannten Institutionen hingegen haben diesbezüglich jahrzehntelang geschwiegen und geben auch heutzutage nur Lippenbekenntnisse von sich. Laut und für alle sichtbar wurden sie erst jetzt, als Anwalt eines Milliardärs, der mit Anzeigen, Sirenen, Stadionverboten die Eskalation selbst mit herbeigeführt hat.
Was kommt also als Nächstes in diesem Kampf zwischen den Kurven und den Verbänden? Streng genommen müssten die Fans konsequent bleiben, und die Drohung des DFB, Spiele abzubrechen, auf ihre Durchsetzung testen. Was passiert, wenn in allen Bundesligastadien in den kommenden Wochen lautstark beleidigende Gesänge gegen Hopp skandiert werden? Wird jedes Spiel abgebrochen? Wird der Spielbetrieb komplett eingestellt werden? Es bleibt zu hoffen, dass die Kurven verstehen, dass es hier um viel mehr geht, als um Dietmar Hopp.
Ach übrigens: bald ist Derby. Ich für meinen Teil möchte dann träumend im Gras liegen, ohne mir von irgendeinem heuchlerischen Verband vorschreiben zu lassen, dass ich damit irgendeine Etikette verletze und anschließend mit Spielabbrüchen, Stadionverboten oder dergleichen bestraft zu werden. Absurd? Nach dem heutigen Tag ist dieses Szenario nicht mehr allzu unrealistisch.