Alle, oder keiner
Der BVB testet wegen Corona. Nein, diesmal nicht die Spieler, sondern die Einlassbedingungen. Zum Spiel gegen die TSG Hoffenheim will man prüfen, ob man technisch die Bedingungen für einen Spielbetrieb mit einer begrenzten Zuschauerzahl auf Basis eines Hygienekonzepts mit Verfolgbarkeit eventueller Infektionsketten schaffen kann. Automatische Temperaturmessung, vollständig personalisierte Eintrittskarten und 3D-Sensoren zur Überwachung des Abstandes auf den Tribünen. Klingt wie der feuchte Traum eines jeden Einsatzleiters der örtlichen Polizeibehörden und kann sich im Nachgang auch genau dazu entwickeln. Aber wofür eigentlich? Was meint man, damit retten zu können?
Niemand wird bestreiten, wie beschissen die Bilder sind, die die Geisterspielkulissen liefern. Das Knallen des Balles, die Kommandos der Trainer und die Zwischenrufe der Ersatzspieler von den Tribünen – für einen oder zwei Spieltage lang war das eine durchaus interessante Erfahrung, aber sehr schnell war dieses Bild eigentlich nur noch eines: traurig. Fußball in großen Stadien funktioniert einfach nur, wenn diese Betonschüsseln lebendig sind, brodeln und mit Gesängen gefüllt werden. Selbst die Spieler und die Funktionäre geben unumwunden und in größerer Anzahl zu, dass die Fans auf den Tribünen fehlen und die Leere beklemmend wirkt. Insofern ist der Antrieb, wieder Fans in die Stadien zu lassen, verständlich und basiert nicht nur auf rein kommerziellen Interessen – auch wenn sich der Fußball mit Sicherheit besser vermarkten lässt, wenn er nicht mehr wie ein rein technischer Akt zu Erfüllung der TV-Verträge wirkt.
Wer aber dennoch glaubt, dass es ausreichend ist, einfach für 10.000 oder 20.000 Leute die Tore zu öffnen und schon hat man wieder „richtigen“ Fußball, der beweist zwei Dinge: Erst einmal, dass er noch nie ein Spiel der deutschen Nationalmannschaft verfolgt hat und zum Zweiten, dass er kein Verständnis von Fankultur hat. Die Fußballatmosphäre ist mehr als nur die Summe vieler tausend Einzelpersonen, die sich zufällig an einem Ort versammeln. Sie ist das Ergebnis gewachsener Strukturen auf den Tribünen. Das bezieht sich nicht nur auf die aktiven Fanszenen, die alteingesessenen Fanclubs und diese legendären Typen, die schon zu Zeiten Kaiser Wilhelms Allesfahrer waren. Diese Strukturen bestehen auch aus den unzähligen Stadiongemeinschaften von Leuten, die außerhalb des Fußballkosmos überhaupt keine Berührungspunkte zueinander haben, aber alle zwei Wochen zusammenkommen und sich dort herzlich und mit großem Hallo begrüßen, um gemeinsam über das Spiel zu diskutieren, anzufeuern, zu meckern, zu jubeln, zu pöbeln und zu singen.
Es ist auch nicht egal, wo die Leute sind. Wenn man regelmäßig ins Stadion geht, hat man nicht irgendeinen Platz, sondern seinen Platz. Natürlich, manchmal geht man diesem Platz auch fremd, weil man vielleicht mal eine Einladung in den Stammtischbereich bekommen hat und ein Spiel lang freie Kost und Logis genießen will. Und sehr selten wechselt man seinen Platz auch, weil man sich z.B. mittlerweile zu alt für die Stehplätze fühlt und in den Sitzplatzbereich wechselt. Oder weil der Verein den Block, in dem man schon seit Jahren sitzt, im Rahmen einer „geringfügigen Preisangleichung“ zum stadionarchitektonischen Äquivalent eines noblen Villenvororts erklärt hat und man sich eine preisgünstigere Bleibe suchen muss – aber in der Regel bleibt man seinem Platz treu. Nur er bietet diese eine Perspektive auf das Spielfeld, an die man sich gewöhnt hat. Nur von ihm aus kann man die Wege zu den Versorgungsständen und zum Toilettenbereich auch mit geschlossenen Augen zielsicher gehen und mit einem schnellen Blick in die Runde klassifizieren, wer im Umkreis von 20 Metern immer da ist und wer ein Tagesticket hat. Es ist ein Gefühl von Heimat, die dieser Platz erzeugt. Das Gefühl, genau dort richtig zu sein, wo man gerade ist.
Wer wahllos einige tausend Zuschauer auslost und sie willkürlich im Stadion verteilt, erzeugt keine Fußballatmosphäre, sondern nur ein weiteres, trauriges Zerrbild von dem, was für einen Fan das Wochenende richtig liebenswert macht. Es sind dann einfach 10.000 Leute, die um das Feld herum sitzen und Fußball gucken. Es fehlt all das, was einen Stadiongang zu den Erlebnissen machen kann, über die man sich noch viele Jahre später Geschichten erzählt.
Die Vereine haben entschieden, unter den aktuellen Bedingungen weiterzumachen, um Einnahmen zu generieren. Das ist absolut legitim, allerdings müssen sie dann auch die vollen Konsequenzen (er)tragen, statt krampfhaft zu versuchen, eine lahme Karikatur des Normalzustandes zu erzeugen. Die Tribünen haben eine Seele, ein Eigenleben, die beachtet und geachtet werden sollte. Das, woran die Vereine jetzt arbeiten, ist nichts anderes als eine Verneinung dieser Seele und die Reduzierung ihrer unzähligen und bunten Facetten auf den Aspekt des zahlenden Zuschauers. Es wäre kein Schritt in eine „neue Normalität“, sondern eine Respektlosigkeit gegenüber der jahrzehntelangen Geschichte der Fankultur.
Deshalb kann es nur eine Lösung geben: Alle oder keiner!