...Taktik-Experte Constantin Eckner: "Alles klappt manchmal, aber nicht durchgängig"
Bereits in den vergangenen Jahren blickten wir auf die taktische Entwicklung des BVB. Die Hinrunde der Saison 19/20 war für Borussia ein Auf und Ab. Siege wechselten sich mit Niederlagen ab, gute Leistungen wurden von schwachen zurechtgerückt, Spieler enttäuschten.
schwatzgelb.de hatte erneut die Gelegenheit, mit Constantin Eckner, einem Autoren des Fußball-Taktik-Blogs Spielverlagerung.de, über die Gründe für den Saisonverlauf, Neuzugang Erling Haaland und die Frage, ob der BVB nochmal in den Titelkampf eingreifen kann, zu sprechen.
schwatzgelb.de: Constantin, wo siehst du in der Hinrunde des BVB die Stärken und Schwächen?
Constantin Eckner: Es war insgesamt eine durchwachsene Hinrunde – angefangen bei den Schwächen im Gegenpressing und der damit verbundenen defensiven Instabilität – bis zum teils harmlosen Offensivspiel, das angesichts der individuellen Klasse im Angriff erschreckend war. Natürlich gab es einige Lichtblicke, aber ebenso viele Rückschläge.
Der BVB hat in allen Bereichen sichtliche Stärken; es gibt keinen Mannschaftsteil ohne hochklassige Spieler und es gibt keine Spielphase, in welcher Dortmund nicht überzeugend agieren kann. Es fehlt jedoch die Konstanz.
Der BVB kann eine Partie nicht über 90 Minuten dominieren, kann nicht über 90 Minuten intensives ganzheitliches Pressing spielen, kann nicht unablässig seine Umschaltangriffe durchdrücken oder die eigene Hälfte in kompakter Defensivformation verteidigen. Das ist das Dilemma. Alles klappt manchmal, aber nicht durchgängig.
schwatzgelb.de: Was hat die Umstellung beim BVB von Vierer- auf Dreierkette auf dem Feld bewirkt? Was sind die Stärken und die Schwächen?
Constantin Eckner: Die Umstellung wirkte nicht wie das Ergebnis eines lange durchdachten Plans, mit dem das Trainerteam gewisse Detailschwächen ausmerzen wollte. Das war keine filigrane Anpassung, sondern ein Wandeinreißen als Akt der Verzweiflung. Vor der Partie gegen Hertha BSC stand Dortmund mit dem Rücken zur Wand. In solchen Situationen neigen nicht wenige im Fußball zu einem „Hail Mary“.
In diesem Fall war es eine komplette Formationsumstellung. Eigentlich hat Lucien Favre ein Talent dafür, aus jeder personellen Konstellation ein 4-4-2 zu stricken. Insofern war diese Umstellung erfreulich, weil damit auch alte Strukturen aufgebrochen wurden. Ob sich Favre auf seine Zeit in Nice zurückbesonnen hat, weiß ich nicht. Klar ist jedoch, dass er der Mannschaft mit dem 3-4-3 mehr Stabilität geben wollte, indem im Spielaufbau zumeist eine Überzahlsituation entsteht und im Defensivspiel wiederum eine zusätzliche Absicherung vorhanden ist.
Normalerweise erfordern Dreierketten mehr Entscheidungsfreude bei den zwei Halbverteidigern, denn sie müssen wissen, wann sie bei Ballbesitz vorstoßen können und wann sie im Defensivspiel ins Mittelfeld aufrücken müssen, um Löcher zu stopfen. Die Dortmunder Verteidiger taten sich anfangs recht schwer mit der Dreierkette – und ob Mats Hummels ein großer Freund dieser taktischen Varianten ist, wage ich mal zu bezweifeln. Aber sie schaffen es zunehmend, die Vorteile des 3-4-3 auszunutzen.
Die linke Seite ist besonders stark, weil sich Dan-Axel Zagadou nach vorn einschaltet, weil Rafa Guerreiro so ein spielintelligenter Flügelläufer ist und weil Julian Brandt ähnlich wie in der Vorsaison in Leverkusen nun in dieser Hybridrolle im Mittelfeld aufblüht.
schwatzgelb.de: Passt das 3-4-3 also wirklich besser?
Constantin Eckner: Das Spielsystem ist in jedem Fall für schnelles Umschaltspiel und ein positionell fluides Spiel geeignet. Damit entfernt sich der BVB also von der taktischen Starre, die einen Großteil des Kalenderjahres 2019 prägten.
So wie das System im Moment ausgelegt wird, kann Dortmund damit jedoch keine absolute Dominanz erzeugen, wenn der Gegner nicht gerade so komplett zugriffslos wie etwa Mainz ist.
Die Mannschaft möchte schnell nach vorn stoßen, dabei Brandt als eine Art „Durchlauferhitzer“ nutzen und die drei Angreifer im vorderen Zwischenlinienraum einsetzen. Das ist die grundsätzliche Ausrichtung und diese kann funktionieren. Sollte der Gegner allerdings recht systematisch seinen eigenen Ballbesitz aufziehen, fallen die Schwächen im Pressing zur Last.
Das hat wenig mit der Formation und vielmehr mit gruppen- und kollektivtaktischen Problemen zu tun. Natürlich wäre es möglich, anhand der Grundformation auch die Defensivstaffelung an die Ballbesitzstrukturen des Gegners anzupassen, um etwa im Zentrum Überzahl zu kreieren und diese Überzahl dann konsequent in die Halbräume zu transferieren. Aber ich bleibe, ob der gezeigten Leistungen in den vergangenen Monaten, skeptisch.
schwatzgelb.de: Wie kann sich Erling Haaland in das neue System einfügen? Stellt Lucien Favre wegen der Neuverpflichtung gar um?
Constantin Eckner: Haaland kann sowohl im 3-4-3 als auch im 4-4-2/4-2-3-1 eine wichtige Rolle übernehmen. Seine Qualitäten kommen vor allem bei schnellen Umschaltangriffen zum Tragen, bei denen er einen optimalen Zielspieler darstellt, der im Übergang zum letzten Spielfelddrittel einen Spielzug weiter vorantreiben kann.
In Salzburg hatte er gerade mit Takumi Minamino einen quirligen Schattenstürmer um sich herum, der ihn vielfach in Szene setzte. In Dortmund wird er mit Jadon Sancho, Thorgan Hazard oder Marco Reus gleich mehrere Unterstützungsspieler in seinem Umfeld vorfinden. Haaland lebt natürlich von seiner Bulligkeit, mit welcher er den Ball nach Flachpässen gut abschirmen kann. Trotz seiner Größe und dieser Bulligkeit verfügt er aber zudem über eine ausgesprochene Antrittsstärke. Er mag nicht elegant wie Thierry Henry über den Platz schweben, aber er kann viel Tempo entwickeln, was sich wiederum im Umschaltspiel auszahlen sollte.
Als statischer Zielspieler ist er weniger gut geeignet, weil er dann diese Attribute weniger gut ausnutzen kann und von seinem Naturell sowieso am und im Strafraum eher den Weg hinter die Abwehr sucht. Diese Orientierung im Ausspielen von Angriffen kann aber auch den anderen Offensivkräften helfen, denn damit werden sie schneller zu Steckpässen gezwungen, anstatt einen Ablagenball zu viel zu spielen. Ob Favre aufgrund von Haaland nun taktisch großartige Änderungen vornimmt, wage ich zu bezweifeln. Der Favre-Fußball wird bleiben und Haaland könnte angesichts seines Profils gut dazu passen.
schwatzgelb.de: Stichwort Julian Weigl: Ist sein Abgang ein großer Verlust für den BVB?
Constantin Eckner: Weigl war für mich immer die deutsche Light-Version von Sergio Busquets. Er hatte mit Thomas Tuchel einen Guardiola-ähnlichen Förderer. Er strahlte eine ähnliche Spielintelligenz aus, die gepaart war mit dieser besonderen Subtilität. Und er war nicht besonders schnell, was ihm mehr schadete als dem großen Katalanen, weil ihm ein wenig die notwendige Antizipation und Vororientierung fehlte, um rechtzeitig in Defensivzonen zu verschieben.
Angesichts der vielen Ähnlichkeiten hatte ich mir schon mehr versprochen. Nun darf er zusammen mit Florentino das Mittelfeld von Benfica beleben. Für ihn persönlich hoffe ich eigentlich, dass wir es hier mit einem Mikel-Merino-Déjà-vu zu tun haben, was allerdings bedeuten würde, dass der Abgang einen schmerzlichen Verlust für den BVB darstellt.
Aus meiner Sicht muss die Vereinsführung die Lücke im Kader aber in jedem Fall schließen. An sich fehlt es an einem variablen Defensivakteur, der sowohl auf der Sechs als auch in der Dreierkette spielen kann.
schwatzgelb.de: Wie siehst du die Rolle von Roman Bürki im Spiel der Borussia?
Constantin Eckner: Bürki ist für mich in diesen Aspekten ein überdurchschnittlicher Bundesliga-Torhüter, aber auch nicht mehr. Mit ihm wird es wohl nie eine „Torwartkette“ geben. Und die braucht es gerade im 3-4-3 auch überhaupt nicht, denn mit drei Verteidigern verfügt der BVB gegen fast jede erste Pressinglinie über eine natürliche Überzahl.
Bürki sollte allenfalls als Sicherheitsnetz für seine Vordermänner fungieren, wenn diese sich zu einem Rückpass genötigt sehen. Seine Mitspieler müssen gleichzeitig darauf achten, dass sie ihren Torwart bei Anspielen nicht grundlos in Bedrängnis bringen. Jemand wie Bürki fordert das richtige Timing, die richtige Wahl des Passwegs hin zum starken Fuß und auch eine optimale Passgewichtung.
So gut wie kein Torwart in Europa vereint alle Elemente des modernen Spiels auf absolutem Höchstniveau. Bürki ist ein Schlussmann mit einer recht klassischen Fähigkeitenpalette, der zudem momentan wenige Fehler begeht.
schwatzgelb.de: Julian Weigl wurde bereits angesprochen, wo muss sich der BVB unbedingt verstärken?
Constantin Eckner: Dortmund sollte darüber nachdenken, den Abgang von Julian Weigl klug zu kompensieren. Es besteht keine Notwendigkeit, einen Spieler zu verpflichten, der ausschließlich für die Sechserpositionen in Frage kommt, denn der BVB sollte ein gewisses Vertrauen in die Entwicklung von Tobias Raschl haben.
Ein variabler Defensivspieler, der sich auch in die Dreierkette einfügen kann, muss eine Überlegung wert sein. Emre Can erfüllt genau dieses Anforderungsprofil. Er kann auf die Sechs gehen, aber genauso gut den Halbverteidiger spielen. Sollte Favre planen, längerfristig beim 3-4-3 zu bleiben, muss der BVB unbedingt über die Personalsituation in der Dreierkette nachdenken. Neben den drei etatmäßigen Verteidigern bilden momentan nur noch Łukasz Piszczek und Leonardo Balerdi Alternativen, wobei mir immer noch nicht klar ist, wie viel Vertrauen die sportliche Führung wirklich in Letzteren hat.
Die Personalsituation ist auch auf den Halb- und Flügelstürmerpositionen arg überschaubar. Julian Brandt wurde zu Recht ins Mittelfeld transferiert; Mario Götze wandert umher ohne feste Position und Jacob Bruun Larsen kann qualitativ mit Sancho und Hazard nicht mehr mithalten. Eine hochkarätige Verstärkung für den Flügelsturm wird es im Winter wohl nicht geben, aber im Sommer muss diese Position – unabhängig von einem möglichen Sancho-Abgang – bei der Kaderplanung in den Blick genommen werden.
schwatzgelb.de: Zum Abschluss: Was muss sch ändern, damit der BVB nochmal ins Titelrennen eingreift?
Constantin Eckner: Um die angesprochene Konstanz zu erzeugen, um erfolgsstabiler zuspielen, muss der BVB vor allem taktisch variabler werden und sich auf Gegner spezifischer einstellen sowie auf Spielsituationen entscheidungsfreudiger reagieren.
Zu oft befindet sich die Mannschaft während einer Partie nur auf dem Beifahrersitz und ist gerade zu passiv, wenn sie selbst in Führung liegt. Wird sie einmal – beispielsweise bei einem klaren Halbzeitrückstand – zum Handeln gezwungen, dann stellen sich auch umgehend Verbesserungen ein.
Die großen Konkurrenten um die Meisterschaft sind den Dortmundern in diesen Gesichtspunkten um einiges voraus. Borussia Mönchengladbach fokussiert sich auf spezifische Schwachstellen beim Gegner; RB Leipzig ist dezidiert anpassungsfähig im Spiel; und Bayern München kann den Druck oftmals so hoch halten, dass sie eigene Schwachstellen kaschieren.
schwatzgelb.de: Wir bedanken uns für das Gespräch.
Eine neue Folge Auffen Punkt zur Neuverpflichtung von Erling Haaland könnt Ihr hier hören. Dort ebenfalls zu Gast: Constantin Eckner.