Warum es richtig ist, dass der BVB kein Saisonziel verkündet
Vor etwas mehr als einem Jahr habe ich in meinem Laufblog darüber geschrieben, was ich vom BVB und seinen Spielern erwarte. Fast alles in diesem Text würde ich heute wieder genau so schreiben. Der einzige Unterschied: Damals forderte ich, der BVB müsse Meister werden wollen und das auch offiziell verkünden. Heute sehe ich das anders.
Warum? Die kurze Antwort: Weil es ohnehin keinen Zweck hat, Bayern wird eh Meister. Punkt.
Die ausführliche Antwort ist etwas komplexer.
Nachdem ich vor gut einem Jahr meinen Text veröffentlicht hatte, schien es, als hätte Aki Watzke mich erhört, denn der BVB verkündete tatsächlich, in der Saison 2019/2020 Meister werden zu wollen. Ich war entzückt.
Jetzt bin ich ernüchtert. Die Saison ist (endlich) vorbei, wir sind wieder einmal Zweiter und damit auch ziemlich genau dort gelandet, wo wir hingehören. Denn seien wir mal ehrlich: Um zu ermitteln, wer am Ende auf den Champions-League-Plätzen steht, braucht man keine 34 Spieltage, sondern lediglich einen Blick auf die Bilanzen der Klubs zu werfen. Sportlicher Wettbewerb findet nur noch um den vierten CL-Platz (wenn überhaupt), um die Europa-League-Plätze und um den Klassenerhalt statt. Bayern wird Meister, die anderen Champions-League-Kandidaten wollen nicht Fünfter werden. Gähn.
Ziele, habe ich als leistungsorientierter Hobby-Sportler gelernt, müssen realistisch sein. Wenn dein Laktattest sagt, dass du den Marathon in 3:45 Stunden läufst, hilft es nicht, ihn in 3:15 Stunden laufen zu wollen. Siehst du das nicht ein, vergeht dir bald die Lust. Sind die Ziele zu tief gesetzt, verlierst du Spannung. Sind sie zu hoch gesetzt, resignierst du irgendwann. Was ist also der Grund dafür, dass Borussia ohne offizielles Saisonziel in die kommende Spielzeit gehen will? Resignation? Kapitulation? Einsicht?
Aki Watzke hat ja nicht gesagt, der BVB wolle komplett ohne Ziel antreten. Man wolle es lediglich nicht nach außen kommunizieren. Intern gebe es sehr wohl ein Ziel. Das hat mich aufhorchen lassen. Ich glaube bzw. hoffe, der Verzicht auf ein offizielles Ziel ist das Ergebnis eines Umdenkens. Denn wir haben das Problem, dass unser realistisches Saisonziel - die CL-Qualifikation - mit einer Mannschaft in Normalform quasi von alleine erreicht wird. Zweiter zu werden ist ein Ziel für Loser, motiviert also auch nicht wirklich. Welches Ziel sollte der BVB sich also setzen, das gleichzeitig ambitioniert, sexy und einigermaßen realistisch ist? Mir fällt spontan keins ein.
Es tut mir leid, aber ich muss mal kurz in die schönste aller schönen Zeiten zurückspringen, in die Zeit 2010 bis 2013.
Was war das Schönste an der Saison 2010/2011? Der Meistertitel an sich? Oder die Art und Weise, wie der Meistertitel gewonnen wurde? Ich glaube, es war die Art und Weise. Wer sich mal anschaut, wie zahlreiche Tore in dieser Saison zustande gekommen sind, dem muss auffallen, mit was für einem blinden Verständnis die Mannschaft zusammengespielt hat. Das war eine Mischung aus purer Spielfreude und Gier. Das ging 2011/2012 so weiter. Diese Mentalität, Spiele nicht einfach gewinnen zu wollen, sondern dabei auch noch Spaß zu haben und Freude auszustrahlen, hat uns Fans bis heute geprägt, ist aber aus der Mannschaft verschwunden.
Dann kam der Bruch, und ich habe eine Theorie, warum er kam. Zwei Jahre hintereinander wurde man Meister, was soll man da noch erreichen wollen? Klar, noch mal Meister werden. Immer das Maximum. Neue Spieler kamen, Spieler, die nicht zum BVB kamen, um sich an sich selbst und tollem Fußball zu berauschen, sondern um Meister zu werden. Und wenn sie sahen, dass sie mit dem BVB nicht Meister werden konnten, hatten sie auch keinen Bock mehr. Auch bei Spielern im Meister-Kader kamen neue Gedanken auf. Andere Dinge wurden wichtiger, und so waren dann Sahin, Götze und Lewandowski weg.
Das Sinnbild für Spieler, die spielen, weil sie Bock haben, war für mich immer Marcel Schmelzer. Und sinnbildlich für alles, was den BVB bis 2013 ausgemacht hat, war diese Szene im Spiel gegen Malaga, in der Schmelzer vor dem entscheidenden Tor mit einer Körperhaltung dem Ball nachrennt, die ich davor selten und danach nie wieder bei einem Borussen gesehen habe.
Danach gab es beim BVB von Saison nur noch verkrampfte Versuche, endlich wieder irgendein Ziel zu erreichen: die Meisterschaft, den DFB-Pokal, die Qualifikation für die Champions League, das dortige Viertelfinale. Zumindest zwei dieser Ziele sind nichts, worüber man sich als Spieler wirklich freuen kann. Der Glamour fehlt total.
Wenn also die Meisterschaft eh unerreichbar ist, was soll man da noch glaubwürdig als Saisonziel ausgeben?
Eine (mögliche) Antwort liefert das Buch „Limit Skills“ des Sportpsychologen Michele Ufer. In dem Buch geht es um Sportler und andere Menschen, die in ihrem jeweiligen Bereich immer wieder mit Situationen konfrontiert werden, in denen sie an körperliche oder mentale Grenzen stoßen.
Besonders interessant ist das Beispiel der Extrem-Skifahrerin Lorraine Huber. Immer wieder ging sie mit größtem Ehrgeiz in Wettkämpfe und verkrampfte regelmäßig, verpatzte Sprünge, geriet in Lebensgefahr. Erst zwei tödliche Unfälle in ihrem Umfeld und ein ausgedehnter Urlaub führten zu einem Umdenken. Statt verkrampft am Ziel zu arbeiten, Weltmeisterin zu werden, konzentrierte sich Lorraine nun darauf, ihre Wettkämpfe zu genießen und beim Fahren in den Flow zu kommen, einen Zustand also, in dem die Dinge irgendwie von alleine zu funktionieren scheinen. Flow - für mich ist das das Thema der Spielzeiten 2010 bis 2012.
„Es geht nicht um Resultate, sondern um das Lernen“, sagt Lorraine in „Limit Skills“. Fortan ging sie wesentlich lockerer in ihre Wettkämpfe und gewann zum ersten Mal seit drei Jahren wieder ein Rennen. Es folgten weitere Spitzenplatzierungen und Siege - am Ende der Saison wurde sie Weltmeisterin. Und das ausgerechnet in der Saison, in der sie eben nicht das Resultat „Weltmeisterschaft“ als Ziel hatte, sondern den Prozess „Spaß haben“. Sportpsychologen unterscheiden entsprechend in Prozessziele und Ergebnisziele.
Seit Mai beschäftigt der BVB den Ex-Profi Philipp Laux als Sportpsychologen. Vielleicht hat der Verzicht auf ein klares Saisonziel ja genau damit zu tun. Vielleicht hat Laux erkannt, dass es im Kader zu viele Spieler gibt, die unter dem Druck, ein konkretes Titel-Ziel erreichen zu müssen, verkrampfen und bei der Zielformulierung, nicht Fünfter zu werden, die Spannung verlieren. Und was läge dann näher als das Ziel weg vom Ergebnis, hin zum Spaß am Spiel als solches zu lenken?
Jetzt stelle man sich mal vor, Aki Watzke würde auf einer Pressekonferenz verkünden, Ziel des BVB sei es, dass die Mannschaft Spaß habe. Gelächter wäre programmiert. Ich sehe schon, wie die Blöd-Zeitung lästert, dass die Herren Millionäre betonen müssen, dass sie neben dem ganzen Geld jetzt auch noch Spaß haben wollen. Ganz davon abgesehen, ist die Weigerung, eine Platzierung als Saisonziel auszugeben, ein wunderbarer Stinkfefinger in Richtung „Ihr müsst euch halt mehr anstrengen“-Uli aus München. Der BVB ist jetzt dort angekommen, wo ich schon lange bin, wenn Bayern meinen, mit mir über Fußball sprechen zu wollen: Man lässt sie reden und stellt die Ohren auf Durchzug.
In meinen Augen kann das aber der einzige Weg sein, den ein Verein wie der BVB gehen kann. Wer sich die letzten Auswärtsspiele unserer Borussia gegen die Bayern angesehen hat, kann nicht im Ernst behaupten, die Borussen könnten sich auf diese Begegnungen gefreut haben. Vielmehr hatte man immer das Gefühl, die Bayern hätten schon vor dem Anpfiff richtig Bock darauf gehabt, den BVB nicht bloß zu schlagen, sondern richtig aus dem Stadion zu schießen. Diese Gier zeigt man als Sportler nicht, wenn man nicht mit Spaß bei der Sache ist.
Die nächste Fragestellung beim BVB wäre dann die nach dem Trainer. Offenbar will der Vorstand mit Lucien Favre auch in die kommende Spielzeit gehen. Das wird von vielen kritisch gesehen, aber möglicherweise ist Favre für das Ziel, prozessorientiert zu arbeiten, statt auf Titel fixiert zu sein, genau der Richtige. Die Spieler, so ist immer wieder zu lesen, mögen Favres Art und seine Qualitäten als Trainer. Unser Problem als Fans mit ihm ist, dass er in der Crunch Time der Saison verkrampft wirkt, zaghaft aufstellt und mit seiner Kauzigkeit Erfolge gefährdet. Dass die Mannschaft aber gerade mit Favre auch wunderbaren Fußball zeigen und gierig sein kann, hat sie sehr oft bewiesen. Wenn es Favres Stärke ist, Fußballern den Spaß am Spiel zu vermitteln, dann soll man halt auch genau diese Stärke in den Mittelpunkt rücken.
Es kann also gehen, ohne den Titel als Ziel auszurufen, erfolgreich zu sein. Der BVB hat das 2011 und 2012 bewiesen. Oder wie es Lorraine Huber formuliert: „Mein Leben ist nicht durch den Titel, sondern durch den ganzen Weg dorthin um ein Vielfaches reicher geworden.“
Gastautor Stefan ist vormals langjähriges Mitglied der Redaktion gewesen, hat dann festgestellt, dass Laufen auch ohne Ball am Fuß Spaß macht und treibt das mittlerweile auf Distanzen, die andere mit dem Auto nicht zurück legen wollen.