Akis Visionen - oder das schleichende Gift eines Wortes, das mit M anfängt
Spät in der finsteren Nacht aus dem diesmal besonders erbärmlichen Sinsheimer Stadion am Autobahnrasthof zurückgekehrt, rumort es in mir wie lange nicht mehr.
Vorab: Es ist nicht alles schlecht, wie viele Facebook-Borussen behaupten, die Welt ist nicht untergegangen, es war kein trauriges Weihnachten, wir sind nicht der neue HSV, sondern überwintern in allen drei Wettbewerben und haben teilweise berauschenden Fußball gesehen.
Die üblichen „Trainer raus“-, „Spieler brauchen Feuer unter dem Hintern“- Parolen helfen nicht wirklich weiter, um Ordnung in eine verwirrende Gedankenwelt, um eine schwer zu deutende Gesamtkonstellation rund um den BVB zu bringen.
Aber nach einer, nicht zum ersten Mal in der Saison, Woche zwischen Himmel und am Ende doch leider wieder Hölle, fragt sich ganz Schwarzgelb:
Woran liegt das? Wer ist für die Situation verantwortlich? Und – ändert sich das denn nie?
Hilfreich für eine Analyse könnte ein Blick in die Vergangenheit sein. Genauer, exakt ein Jahr zurück in die Hinrunde der vergangenen Saison, als der BVB im Herbst Spiele am Fließband gewann, häufig in allerletzter Sekunde. Mal war es ein haltbarer Freistoß in der 96. Minute (Augsburg), mal vergaß der Gegner (Leverkusen) einfach den Sack zuzumachen oder stand beim vermeintlichen Ausgleich hauchdünn im Abseits (Bayern). Und wenn nichts mehr half, wuchtete Piszczek den Ball eben zum Siegtreffer unter die Latte (Mainz).
Die Punktesumme dieser überproportionalen Häufung von Spielglück und der Effizienz einer spanischen Tormaschine ergab entweder die „Wachablösung im deutschen Fußball“, den „Beginn einer neuen Epoche“ oder „endlich wieder auf Klopp-Niveau“.
Dumm nur, dass der so erreichte tabellarische Vorsprung dann in der Rückrunde zusammenschmolz, als das Team eine realistischere und seiner wahren Stärke angemessenen Ausbeute einfuhr.
Auch wenn der BVB das Titelrennen seit langer Zeit mal wieder bis zum letzten Spieltag spannend machte: In der Rückrundentabelle reichte es noch zu Platz vier, hinter Leverkusen, aber vor Werder, das nur zur Einordnung.
Klar, nach der Bosz/Stöger – Saison ein Jahr zuvor war Platz zwei ein grandioses Comeback. Schade trotzdem, dass leider einige Negativerlebnisse in Erinnerung blieben. Besonders die Schlappe im Heimderby, der verdaddelte 2:0-Vorsprung in Bremen, als es im Titelkampf plötzlich wieder richtig ernst wurde und dann waren da noch die 90 Minuten in München, als wir wie eine Schülermannschaft 0:5 untergingen.
Warum also verfiel die ansonsten für ihre sachliche und nüchterne Arbeit zu Recht geschätzte sportliche Führung um Aki Watzke darauf, im Sommer nun plötzlich Titelambitionen radikal offensiv zu vertreten?
Wir werden in die Spielzeit mit der Maßgabe gehen, dass wir ohne Wenn und Aber um die deutsche Meisterschaft spielen wollen.
Warum nicht die üblichen Medienansagen à la „Mannschaft weiterentwickeln“, „Talente fördern“? Dazu eine Portion „harte Arbeit“, ein Schuss „von Spiel zu Spiel denken“, um „wenn sich die Chance bietet, oben anzugreifen“. „Irgendwann noch mal um den Borsigplatz“ fahren zu wollen, wäre als Schlusswort wohl auch gut angekommen. Aber nein, für den Mai 2020 sollte es partout die Deutsche Meisterschaft sein.
Der theoretisch geschulte Marxist in mir vermutet natürlich sofort ökonomische Motive hinter Akis Titelträumen. Etwa ein zu niedriger Börsenkurs? Oder sollte die Braut für die bevorstehenden Langzeitvertrags-Verhandlungen mit Puma aufgehübscht werden. Wir reden hier über 300 Millionen Euro, selbst für BVB- Verhältnisse ein üppiger Betrag.
Möglicherweise näher dran ist die Analyse, dass sich Watzke und Zorc nicht mehr dem Vorwurf der Zauderei aussetzen wollten. Dafür steht die psychologische Lehrmeinung, dass nur offensiv formulierte Zielvorgaben zu erreichen seien.
Was aber bewirkt das „M“-Wort, wenn es erst mal ausgesprochen ist? Beim Trainer? Bei den Spielern? Im Umfeld und bei den Fans?
Das Wort Meisterschaft ist definitiv keine der Lieblingsvokabeln des Lucien Favre. Kommt die Rede darauf, wirkt er wie alle Angestellten, wenn sie auf die anspruchsvollen Pläne der Oberen angesprochen werden. Mit Bekenntnissen nach dem Motto „wenn der Chef das sagt, wird das schon stimmen“, macht man als Trainer zumindest nichts verkehrt.
Bedingungslose Überzeugung oder ein gemeinsamer Spirit sehen anders aus. Interessant zu wissen wäre auch, ob Watzke die öffentliche Bekanntgabe seiner Ambitionen im Vorfeld mit dem Coach abgesprochen hat. Falls nicht, wäre das zwar kein Vertrauensbruch zwischen Trainer und Management, sondern deutet eher auf allgemeine Kommunikationsprobleme hin.
Meisterschaft, was ist das?
Und die Spieler? Es scheint, als wissen die allermeisten Akteure gar nicht, womit ihr Boss sie da unter Druck gesetzt hat. Um Kapitän Marco Reus haben Titel und Pokale bisher auch wegen vieler Verletzungen einen großen Bogen gemacht, Stammkräfte wie Bürki, Witsel, Weigl, Alcacer oder Delaney haben wenig Platz eins-Erfahrung vorzuweisen, Zagadou, Sancho, Hazard, Hakimi, Akanji, Dahoud, Bruun Larsen sind zu jung. Lukasz Piszczek war, lang ist es her, bei den beiden letzten BVB-Meisterschaften dabei. Genau wie Mario Götze, der später in München als regelmäßiger Bankdrücker häufiger auf dem Rathausbalkon winken durfte. Julian Brandt ist wohl der speziellste Kandidat in Sachen Meisterschaft. Da, wo er herkommt, gibt es sowas überhaupt nicht. Es gibt auch niemanden, der ihm davon hätte erzählen können oder zumindest mal davon gehört hätte. Und so spielt er denn auch, mal atemberaubend schön, dann kommt wieder das schlampige Genie hervor, das sowieso nix gewinnt. Ich mag ihn trotzdem, hat man Geduld mit ihm, hat er das Zeug zu einem ganz Großen. Bleibt Mats Hummels mit seiner Erfahrung und Titelsammlung als einziger echter „Winnertyp“ im Kader, weshalb der BVB ihn trotz seines Alters und seiner Geschwindigkeitsdefizite im Sommer auch verpflichtet haben dürfte.
Aber mal ganz ehrlich, reichen diese Teamstruktur und der gewagte Mix aus Erfahrung und jungen Wilden aus für ganz oben? Sind die Spieler schon reif für den Titel oder fehlen ein echter Mittelstürmer und eine „Drecksau“ im defensiven Mittelfeld? Warum nicht mal auf Zeit spielen und mauern, um auswärts einen knappe Führung über die Zeit zu bringen?
Viel ist auch über „mit dem Druck umgehen“ diskutiert worden, auch wenn die Mannschaft in Hoffenheim sogar ohne Druck des Gegners den Sieg aus der Hand gab.
Aversion gegen Akis Vision
Fakt ist: für die Spieler waren Watzkes Ansagen zum Titel bisher ein Hemmschuh. Unerklärliche Leistungsabfälle, gerne auch innerhalb von 90 Minuten, erwecken den Eindruck, als habe das vom Chef überschätzte Team eine regelrechte Aversion gegen Akis Visionen entwickelt.
Möglicherweise hat man sich mit der M-Forderung auch um eine der Stärken gebracht, die den Verein groß gemacht haben. Die Geduld, junge oder neu verpflichtete Spieler in Ruhe aufzubauen, ihnen wie einst bei Lewandowski oder Gündogan ein durchwachsenes Einstandsjahr zuzugestehen. Was nützt ein hervorragendes Scouting, wenn Youngster wie Zagadou sehr lange auf der Bank schmoren oder gar nicht erst im Kader stehen?
Dummerweise hat die Forderung nach dem Titel auch im Umfeld Illusionen genährt, die nun bei Nichterfüllung zu großer Enttäuschung und Unruhe führen. Ein paar Punkte hinter Platz eins, ein Unentschieden zu viel und schon wird Woche für Woche die Krise ausgerufen. Die unsägliche und leider bald wohl wieder aufflammende Trainer-Diskussion ist logische Konsequenz der Chef-Vorgaben.
Gott sei dank hat sich wenigstens dort, wo sonst viel geträumt wird, ein gewisser Realitätssinn erhalten. Auch wenn Paderborn und München unterirdisch schlechte Spiele waren, steht die Südtribüne hinter dem Team, wie zuletzt mit der beeindruckenden Stimmung gegen Leipzig.
Aber weiter weg von der Süd und erst recht bei Menschen, die die Partien eher im TV sehen, gelingt der Spagat zwischen Watzkes Anspruch und dem Blick auf die Tabelle immer weniger.
Was da bei vielen Facebook-Kommentatoren über Bürki nach seinem ersten und einzigen Fehler der Saison oder über Sancho nach einigen Fehlschüssen kommentiert wird, ist oft kaum zu fassen. Von der Häme über Trainer Favre gar nicht erst zu reden.
Ist zwei mal vier gleich eins oder lügt die Tabelle?
Dabei gibt es im Jahr 2019 inmitten all des Auf und Ab doch tatsächlich eine Konstante, in der uns die Geschichte wieder vor die Füße fällt.
Wir sind nach der Hinrunde auf Platz vier. Da standen wir auch in der Rückrundentabelle der Vorsaison. Zwischen Bayern und Leipzig hat sich an der Spitze was verändert und Gladbach hat Leverkusen in den CL- Rängen ersetzt. „So what“, könnte man meinen.
Tatsächlich fühlt es sich für viele BVB-Fans zum Jahreswechsel sehr viel schlechter an, als es eigentlich ist. Die bittere „Der Zweite ist der erste Verlierer“- Mentalität frisst sich gefährlich tief in die schwarzgelbe DNA ein.
Was kann dagegen helfen?
Einfach mal ganz bescheiden auf dem Teppich bleiben.
Ich möchte nach einem 1:0-Heimsieg gegen den Tabellenzwölften feiern und nicht mehr hören, dass man schlecht gespielt habe, gegen so einen Gegner doch bitte schön höher zu gewinnen habe. Und wenn wir wie in Barcelona 1:3 verlieren, möchte ich nicht lesen, man habe endgültig die Schnauze voll und jetzt reiche es aber wirklich mit dem Trainer.
Wer mit Platz vier, drei oder zwei nicht mehr zufrieden sein kann, soll sich eine Lederhose kaufen und Bayern-Fan werden.
Für das neue Jahr wünsche ich mir deshalb wieder eine Portion Demut, eine realistische Einschätzung der Stärken und auch der Schwächen sowie bedingungslosen Support der eigenen Elf. Wie heißt es doch in einem unserer schönsten Lieder „Was auch immer geschieht, wir stehen Dir bei!“
Wenn am Saisonende die Schale wieder im Süden ankommt, und für uns nur die EuroLeague raus springt, wäre das kein Super-GAU.
Dann folgen wir der Borussia eben nach Rasgrad statt nach Paris.
Roger - 03.01.2020