Wenn Turban und Gesichtsmasken an Karneval erinnern
Mehr als 45000 leichte Schädel-Hirn-Verletzungen durch Sportunfälle werden jährlich in Deutschland diagnostiziert. Dies geht aus einem Bericht des Berufsgenossenschaftlichen Universitätsklinikums Bergmannsheil in Bochum hervor. Da diese oft unerkannt bleiben ein Grund mehr für uns sich diesem Thema zu widmen.
Die Anzahl der Kopfverletzungen im Profifußball ist sicher geringer als in Sportarten wie American Football, Rugby oder Eishockey. Die Spätfolgen sind aber die gleichen und werden häufig auch durch betreuende Ärzte unterschätzt. Im Wesentlichen sind es Kopf-an-Kopf und Ellenbogen-an-Kopf-Kontakte die für das Verletzungsmuster verantwortlich sind. Dies hat mehr oder weniger gravierende Folgen. Neben eher harmlosen Folgen wie Kopf-und Gesichtsprellungen bzw. Schürf-und Platzwunden beschäftigen uns aber auch Brüche (Jochbein-, Nasenbein und Kieferfrakturen) und Schädel-Hirn-Traumen (engl.: Concussion). Sehr häufig haben wir es auch mit sogenannten Kombinationsverletzungen zu tun.
Statistiken, zum Teil auch aus der Bundesliga, zeigen einen Anteil der Platzwunden und Schürfverletzungen von ca. 25%. Der Anteil der Gehirnerschütterungen und Schädel-Hirn-Traumen liegt in der gleichen Größenordnung! Kopf-und Gesichtsfrakturen haben einen Anteil von ca. 12%.
Man muss davon ausgehen, dass aufgrund primärer Diagnosedefizite die Dunkelziffer weitaus höher ist als vermutet wird. Dies ist unter anderem auch darin begründet, dass die Terminologie hinsichtlich Kopfprellung, Gehirnerschütterung, Kopfverletzung und Schädel-Hirn-Trauma immer noch ein wirres Durcheinander darstellt. Alle Begriffe beschreiben jedoch die Krafteinwirkung auf den Kopf.
Es kann zu Übelkeit und Benommenheit kommen, aber auch Kopfschmerzen und Konzentrationsstörungen sowie Gedächtnisprobleme können auftreten. Nicht selten findet man Stimmungsveränderungen in Verbindung mit einem veränderten Schlaf-Wach-Rhythmus.
In diesem Zusammenhang wird eine Baseline-Untersuchung empfohlen. Dadurch erhält man vor Saisonbeginn definierte Ausgangswerte um nach einem Schädel-Hirn-Trauma einen Vergleich mit dem individuellen Leistungsniveau vor der Kopfverletzung zu haben. Insbesondere die Defizite im Bereich Aufmerksamkeit, Konzentration und Gedächtnis sind so erkennbar.
Um die unterschätzte Gefahr der Gehirnerschütterung mehr in den Focus zu rücken hat die GSNP (Gesellschaft für Sport-Neuropsychologie e.V.) sogenannte zertifizierte Concussion Center in Hamburg und Würzburg ins Leben gerufen. In diesen Zentren will man sich für eine bessere Diagnostik und Therapie von Schädel-Hirn-Traumen im Sport einsetzen.
Aber nicht nur akute Kopfverletzungen stellen ein Problem dar. Diverse Untersuchungen, unter anderem am sportmedizinischen Institut Paderborn, weisen auf die Problematik immer wiederkehrender Mikrotraumen durch die Vielzahl von Kopfbällen hin. Dabei kann ein entsprechender Zusammenhang mit dem Entstehen einer Demenz nicht ausgeschlossen werden. Auch wenn die Fallzahlen dieser Studien zum Teil sehr gering sind, ist man sich einig, dass selbst Kopfbälle eines Fußballers ausreichen könnten, die geistigen Fähigkeiten des Sportlers zu mindern.
Im September 2014 hat auch zuerst die UEFA und zeitnah die Fifa wenigstens in Teilen die Problematik erkannt. Man beschließt die Drei-Minuten-Pause: Beim Verdacht auf eine Gehirnerschütterung muss ein Fußballspiel bis zu drei Minuten lang unterbrochen werden damit der Spieler in Ruhe untersucht werden kann. Nach der Untersuchung durch den Mannschaftsarzt gestattet der Schiedsrichter dem betroffenen Spieler nur das Weiterspielen, wenn die Zustimmung des Mannschaftsarztes vorliegt. Fakt und generelles Handling, an jedem Spieltag am Bildschirm zu beobachten, führt uns aber vor Augen, dass der Fußballprofi aktuell nach einem Trauma beileibe nicht komplett durchgecheckt wird. Man spielt hier mit der Gesundheit des Spielers und lässt Langzeitfolgen außer Acht.
Viel intensiver widmet sich hier die NFL der Concussion Problematik. Hier greift ein sogenanntes Concussion Protokoll wenn ein Spieler sich offensichtlich eine Kopfverletzung zuzieht. Durch zwei sogenannte Spotter mit Fernglas und Video-Replays wird die Szene beobachtet und per Funk das Medizinteam informiert. Es kommt zur Medical Timeout und intensiven Untersuchung. Der Mannschaftsarzt aber auch ein neutraler Neurologe entscheidet über die Spielfähigkeit. Regelbrüche werden bestraft.
Kann der Spieler nicht mehr auf das Spielfeld zurückkehren, ist auch in der Folge die Rehabilitation und spätere Freigabe zur Teilnahme an Training und Spiel strengen Regularien ausgesetzt. Wenn man davon ausgeht, dass gerade bei Gesichtsfrakturen oft Kombinationsverletzungen wie ein Schädel-Hirn-Trauma vorliegen erscheint es schon mehr als fragwürdig wenn bei uns Spieler nach kurzer Zeit mit Masken auf dem Spielfeld auftauchen, die den venezianischen Masken gleichen und seit 900 Jahren nur den Zweck haben Anonymität zu bieten.
Zusammenfassend kann man sagen, dass wir aktuell hinsichtlich der Gesamtproblematik im Profifußball von ärztlicher Seite aber auch von Betreuerseite noch in den Kinderschuhen stecken. Dies betrifft sowohl das Verhalten auf dem Platz als auch neben dem Platz. Wir sollten uns allerdings bei unserem Handeln immer vor Augen führen welche Gesamtverantwortung wir gegenüber dem Spieler haben und niemals Verletzungen bagatellisieren um oft nicht unerhebliche Langzeitfolgen zu vermeiden.
Sollten wir deswegen aber das Kopfballspielen verbieten? Es gibt durchaus Veröffentlichungen und Presseberichte die sich mit dieser Thematik beschäftigen. Schließlich ist es wie mit dem Plastikmüll. Es macht keinen Sinn die Folgen zu diskutieren sondern vielmehr die Produktion bzw. die Entstehung in den Griff zu bekommen. Und so ist auch ein Umdenken über Kopfverletzungen im Fußball dringend geboten.
Es mutet grotesk an, dass es ein breites Risikobewusstsein bei Muskel-, oder Knochenverletzungen gibt, nicht aber bei Schäden am Kopf. Spürt ein Spieler ein Stechen im Oberschenkel, signalisiert er häufig von selbst, dass eine Auswechselung notwendig ist. Trainer nehmen Spieler als „Vorsichtsmaßnahme“ vom Platz, wenn sie befürchten, dass sich eine überschaubare Einschränkung in eine Langzeitverletzung ausweiten könnte. Diese Maßnahme ist auch bei Fans und Medien absolut akzeptiert. Bei Kopfverletzungen dagegen, wird es heldenhaft angesehen, wenn die Kicker auf dem Feld bleiben und das Spiel bandagiert zu Ende bringen. Beispielhaft sei hier das Rückspiel der Relegation zwischen Union Berlin und dem VfB Stuttgart genannt, in dem die beiden Stuttgarter Innenverteidiger Holger Badstuber und Ozan Kabak mit sichtbar blutenden Kopfverletzungen einen großen Teil der ersten Halbzeit bestritten.
Um Langzeitschäden möglichst zu verhindern, sind Änderungen im Verhalten und im Regelwerk notwendig. Zuerst einmal muss ein Bewusstsein für die Problematik geschaffen werden. Nach dem WM-Finalspiel erntete Christoph Kramer manchen Schmunzler dafür, dass er im Anschluss an einen Zusammenstoß den Schiedsrichter fragte, ob das gerade tatsächlich das WM-Finale sei, bei dem er auf dem Platz stehe. Es sollte einem aber das Lachen im Halse stecken bleiben, wenn man darüber nachdenkt, was dieser Zusammenstoß in seinem Kopf ausgelöst haben muss, dass er vergessen konnte, gerade das wichtigste Fußballspiel seiner Karriere zu bestreiten. Dabei ist es natürlich wichtig, dass Fans und Vereine die Ernsthaftigkeit dieser Verletzungen erkennen und angemessen beurteilen, vor allem aber müssen die Spieler selber ein Bewusstsein dafür entwickeln, was sie für ein Risiko eingehen. Die möglichen Folgen wurden hier bereits angesprochen und es sind die Spieler, die sie möglicherweise bis zum Ende ihres Lebens ertragen müssen.
Ganz konkret sollte die DFL eine ärztliche Beurteilung analog des „Concussion Protocol“ der NFL einführen. Diese Entscheidung sollte einem unabhängigen Arzt obliegen und nicht dem Betreuerteam der Mannschaft. Auch dort ist nämlich der Druck enorm, Spieler möglichst einsatzbereit zu halten. Mittlerweile gibt es viele Schilderungen von Ex-Spielern, die nach ihrer Karriere regelmäßig Schmerzmittel nehmen, um den Alltag zu bestreiten. Auch eine Folge einer Behandlungsweise, bei der häufig nicht langwierig die Ursache einer Verletzung behandelt wird, sondern nur deren Symptome. Spieler werden nicht in erster Linie gesund gepflegt, sondern spielfähig gemacht. Ein deutliches Beispiel für den Zielkonflikt zwischen Mannschaftsärzten und Trainern war der Zwist zwischen Pep Guardiola und Dr. Müller-Wohlfahrt. Insofern ist es wichtig, dass unabhängige Ärzte darüber befinden, ob ein Spieler weiter spielen darf, oder den Platz verlassen muss. Wird bei einem Kicker attestiert, dass er ausgewechselt werden muss, muss im weiteren Verlauf auch die Erlaubnis zur Wiederaufnahme des Trainingsbetriebs von unabhängiger Stelle kommen.
Darüber hinaus wäre es sinnvoll, die Regeln derart zu ändern, dass eine angeordnete Auswechselung nicht das Wechselkontingent belastet, um den Arzt nicht in einen inneren Konflikt zu bringen, mit seiner Entscheidung das Spiel maßgeblich zu beeinflussen. Im Falle des Relegationrückspiels hätte eine entsprechende Entscheidung unter Umständen bedeutet, dem Trainer noch Mitte der ersten Halbzeit zwei von drei Wechseloptionen zu nehmen und die Herausnahme beider Innenverteidiger anzuordnen. Wenn eine Mannschaft bereits alle drei Wechsel erschöpft hat, würde eine derartige Entscheidung bewirken, dass ein Team das Spiel in Unterzahl beenden muss. Der beurteilende Arzt muss jedoch frei von derartigen Gedanken sein, die seine Entscheidung beeinflussen könnten. Eine weitere Erleichterung könnte sein, die Zahl der zum Spiel gemeldeten Kicker von üblicherweise 18 um eine oder zwei Personen zu erhöhen.
Zu guter Letzt muss berücksichtig werden, dass nur ein geringer Teil des „Fußballerlebens“ in den 90 Minuten stattfindet, in denen es um Punkte, Siege und Meisterschaften geht. Der Großteil seiner Arbeit liegt im alltäglichen Trainingsbetrieb, in dem Kopfballspiel und Zweikampfführung ebenfalls intensiv trainiert werden. Insofern muss auch, vielleicht sogar vor allem hier, dem Risiko von Schädel- und Hirnverletzungen Rechnung getragen werden. So könnte man es zum Beispiel zum Teil der Lizensierungsrichtlinien machen, dass Vereine interne Verfahrensweisen zur Überwachung, Diagnose und Dokumentation von Kopfverletzungen im Training erstellen und einreichen. Natürlich verbunden mit regelmäßigen und unangemeldeten Kontrollen, die sicherstellen, dass diese Maßnahmen nicht nur auf dem Papier existieren.
Die Durchsetzung solcher Maßnahmen sollte auch im Interesse der Spielergewerkschaft sein. Es geht hierbei um die geistige Gesundheit der Spieler und um ein Leben nach Karriereende möglichst ohne Beeinträchtigungen. Hier muss von dieser Seite aus Druck auf die Vereine und Verbände ausgeübt werden, um diesem Thema eine angemessene Bedeutung zu verleihen. Die möglichen Folgen sportbedingter Kopfverletzungen sind erschreckend. In Amerika sind krankheitsbedingte Todesfälle, Selbstmorde und schwere, geistige Schädigungen von ehemaligen Footballspielern dokumentiert. Kein Sport ist das wert. Jeder Fußballspieler sollte sich über diese Risiken intensive Gedanken machen.