Stell dir vor es ist Meisterfeier
Stell dir vor es ist Meisterfeier, alle gehen hin und keiner freut sich. Was klingt, wie aus einem seltsamen Paralleluniversum, hat unsere Autorin erlebt und freut sich jetzt ein klein wenig darüber, dass es in Dortmund nicht jedes Jahr eine Meisterfeier gibt.
Der Neffe von meinem Freund war als Fünfjähriger ein großer Fan von Messi und in einem Anfall von überschwänglicher Begeisterung hatte mein Freund ihm versprochen, dass er ihn mitnehmen würde nach Barcelona, um Messi einmal live zu sehen. Das war vor etwa sechs Jahren. Das Kind, mittlerweile fast elf, immer noch großer Fußballfan, alles andere als dumm und mit einem guten Gedächtnis ausgestattet, meinte irgendwann im letzten Jahr: „Du, Onkel, der Messi wird langsam alt...“ Wir sahen uns an und kamen zum Schluss, dass es wohl Zeit war für einen Trip nach Barcelona mit ihm und seiner älteren Schwester. Schulferien und alles eingeplant, nicht zu spät buchen, zur Sicherheit auch Freitag und Montag einplanen, weil der Spieltag noch nicht terminiert ist, mit den Eltern alles absprechen, an alles denken. Oder eben an fast alles. Bis wir merkten, dass das Heimderby am gleichen Tag ist, war das Hotel und der Flug gebucht und die Kinder informiert. Und man bricht keine Kinderherzen aus Egoismus und Aberglaube... Dass wir uns selbst in den Hintern gebissen haben, steht auf einem anderen Blatt.
Kurz bevor wir den Trip antraten, wurde zumindest klar, dass wir ne gute Chance haben würden, der Meisterfeier von Barcelona beizuwohnen, alles lief darauf hinaus.
Am Tag vom Spiel gingen wir schon früh zum Stadion, um die entsprechende Kleidung zu kaufen. Im Gegensatz zu meinem letzten Besuch in Barcelona vor 13 Jahren hatte sich einiges verändert. Vor dem Stadion erinnerte die Schlemmermeile aus Shops, Essensgelegenheiten, Ticketverkaufspunkten und Eislaufbahn ein wenig an eine Kirmes. Es war gemütlich, sauber strukturiert und einladend. Tatsächlich ein sehr schönes Konzept, in dessen Zentrum natürlich der überdimensionale Fanshop stand. Zahlreiche Touristen drängten sich durch die Massen an verschiedenfarbigen Trikots (ich glaube, ich habe vier komplett verschiedene Farben an Trikots gezählt – ohne Torwart). Das war soweit nicht überraschend, es unterschied sich sogar vergleichsweise wenig vom Erlebnis im Dortmunder Konsumtempel neben dem echten Tempel, denn auch dort hatte ich bei meinen wenigen Besuchen stets vor allem eine große Masse an Touristen wahrgenommen.
Wir gingen noch einmal zurück in die Stadt, etwas schwimmen und das schöne Wetter genießen, ehe wir gegen 20 Uhr zurück zum Stadion kamen. Das Bild hatte sich in den paar Stunden komplett verändert. Nun drängten sich tausende Menschen auf engem Raum auf und neben den Straßen, die zuvor komplett abgesperrte leere Straße zwischen U-Bahn und Stadionhaupteingang war voll mit Fanbussen und vervollständigte das vertraute Bild von einem Spieltag (ich habe zu diesem Zeitpunkt noch geflissentlich ignoriert, dass es nur etwa 25 Busse waren auf eine Kapazität von 100.000 Zuschauer). Die gefühlt 100 verschiedenen und ums ganze Stadion verteilten Eingänge und die Tatsache, dass wir eine Stunde vor Spielbeginn für spanische Verhältnisse sehr früh dran waren, sorgten dafür, dass wir ohne echte Wartezeit – und eigentlich auch ohne echte Kontrolle – sofort im Stadion waren. Und das Stadion kann was! Eine alte Betonschüssel aus früherer Zeit, alles in echt mit viel zu tiefen Verstrebungen, vielen kleinen und großen Treppen in alle Richtungen und in allen Ecken kleine Verkaufsstände.
Doch richtig toll wird es, sobald man den Innenraum betritt: eine gigantische Schüssel mit drei bis vier Rängen und ohne Dach, dafür mit den Fahnenmasten obendrauf. Es war atemberaubend von der Tribüne aus. Mehr noch als die paar Mal, als ich mit der obligatorischen Führung im leeren Stadion war. Leer war es jedoch auch dieses Mal. Bis wir alle Snacks geholt, unsere Plätze gefunden und es uns gemütlich gemacht haben, war es noch eine halbe Stunde bis Spielbeginn und so gut wie keiner da. Das änderte sich, je näher der Anpfiff rückte. Doch womit sich das Stadion füllte, das störte mich je länger je mehr. Ich hatte Touristen erwartet, keine Frage, wir waren auch welche. Doch ich hatte auch noch etwas anderes als Touristen erwartet, zumal wir in der Kurve über der Heimtribüne im zweiten Ring jetzt nicht gerade die typischen Touristenplätze hatten. Doch ich hatte mich getäuscht. Links neben uns waren Franzosen, hinter uns Engländer, daneben Holländer. Eine Reihe weiter oben ein paar Skandinavier. Als kurz vor Anpfiff das Vereinslied gespielt wurde (mit Text auf den Anzeigetafeln, sonst wäre es ja viel zu schwer!), schaffte es der Großteil der Zuschauer nur, bei einem Wort mitzusingen. „Barça“ war scheinbar das einzige, was man sich noch kurz hatte einprägen können. Größtenteils war man vor allem enttäuscht, dass Messi nicht von Anfang an spielte, was bei der Mannschaftsaufstellung doch ziemlich deutlich wurde.
Die Spanier selbst kamen irgendwann zwischen der 1. und der 15. Minute eingetrudelt, die meisten davon mit Motorradhelmen unter dem Arm. Auch der Stehplatzsektor hinter dem Tor füllte sich dann langsam, aber sicher. Er hält Platz für irgendwas um die 1.500 Fans, schätzungsweise, und war am Ende auch tatsächlich einigermassen voll. Und vor allem war es der einzige Ort in dem mittlerweile fast vollen Stadion, aus dem sowas wie Anfeuerung kam. Über das ganze Spiel schaffte es der harte Kern vielleicht dreimal, einen nennenswerten Teil des Stadions zum Mitmachen zu animieren. Und das Mitmachen bestand dann aus ein paar Sekunden rhythmischem Klatschen. Die vereinzelten Spanier außerhalb des harten Kerns haben manchmal dann sogar mitgesungen. Der Rest klatschte ab und zu bei Torchancen, doch die waren ziemlich rar gesät.
So verging eine auf und neben dem Platz ziemlich ereignislose erste Halbzeit bei einem Spiel, in dem es um nichts weniger als die spanische Meisterschaft ging, ohne irgendwelche Anspannungen oder Emotionen. Richtig laut wurde es dann zum ersten Mal gegen Ende der Pause, als deutlich wurde, dass die Touristen ihren Willen bekamen. Messi wurde zur zweiten Halbzeit eingewechselt und entsprechend jubelnd empfangen. Die gegnerischen Verteidiger waren dann auch erst mal etwa 10 Minuten zu Salzsäulen erstarrt, wenn Messi den Ball hatte und man bekam einen gewissen Eindruck davon, welchen Stellenwert er in dieser Liga hat. Gerade als dem Gegner so langsam bewusst wurde, dass Messi wohl auch nur mit Wasser kochte, hatte der den einzigen genialen Moment des Spiels und erzielte mit einer guten Bewegung und einem platzierten Schuss die Führung. Jetzt jubelte wirklich das ganze Stadion und man bekam einen ganz kurzen Moment einen Einblick in die Kraft, die 92.000 Menschen hätten, würden sie tatsächlich mit dem Verein mitfiebern, dessen Spiel sie gerade schauten.
Unser Nachbar zur Rechten posierte für seine Frau, mit der er seit Spielbeginn ununterbrochen am Facetimen war, in Jubelpose, während die ältere Spanierin vor uns ihr Telefonat mit ihrer Schwester Zuhause auf dem Sofa bereits nach 45 Minuten beendet hatte und sich daher voll und ganz den drei Sekunden Torjubel widmen konnte. Über uns machte Selfieman (er war früh im Stadion und hatte daher alle Zeit, aus etwa 56 verschiedenen Positionen in 87 verschiedenen Posen Selfies zu machen) natürlich ein Selfie von sich beim Torjubel. Der Franzose neben mir checkte auf der App von L’Equipe kurz die Aufstellung vom Gegner (ich bewunderte ihn dafür, er war wohl der Einzige weit und breit, der für den Fußball gekommen war). Zu diesem Zeitpunkt war mir bereits ziemlich die Begeisterung vergangen und ich hoffte inständig, dass Levante den Ausgleich schießen würde. Tatsächlich war das gar nicht mal so abwegig. Das großartigste – abgesehen vom Stadion – an diesem Spiel (vor allem für einen Fan aus der Bundesliga) war jedenfalls die Tatsache, dass sich der Tabellensechzehnte auswärts beim designierten Meister keinesfalls versteckte. Sie kombinierten im allgemeinen gut aus der Verteidigung heraus, auch in brenzligen Situationen, ein einfaches Ballwegschlagen gab es nur in absoluten Ausnahmefällen. Zudem spielten sie mutig nach vorne und hatten einige Chancen. Je länger das Spiel dauerte, umso größer wurden die Chancen, die Levante sich herausspielte, während vom großen FCB eigentlich nichts mehr zu sehen war.
Mein Freund und ich fieberten mittlerweile ganz offen mit dem Außenseiter (der unterstützt wurde von einem sensationellen Auswärtsfan – vielleicht war es aber auch nur ein Security, der sich in den Gästeblock verirrt hatte) und begleiteten jede verpasste Torchance mit „Ah“ und „Oh“, während der Rest des Stadions darauf wartete, dass endlich fertig ist. Oder wie es der Neffe formulierte – und damit wohl für alle anderen sprach: „Noch 10 Minuten, dann ist Barça Meister“. Auf die Idee, dass der Gegner tatsächlich noch etwas daran ändern könnte, kam er nicht. Und sonst auch niemand. Und leider sollten sie recht behalten.
Mit Abpfiff brach wiederum Jubel aus. Ich bekam den Gedanken nicht los, dass die Meisten sich vor allem darüber freuten, dass sie jetzt posten konnten, bei der Meisterfeier von Barcelona dabei gewesen zu sein. Nicht etwa, weil sie sich freuten, dass Barça Meister war. Ich hatte mich vor dem Anpfiff gefragt, wie eine solche Meisterfeier wohl aussehen würde und hatte spätestens zur Halbzeit definitiv ausgeschlossen, dass es einen Platzsturm geben könnte. Auf die weiteren Ereignisse war ich dennoch nicht vorbereitet. Es brachen ein paar „Campions“ Gesänge im ganzen Stadion aus, die Mannschaft ging in Richtung Fanblock und blieb im Sechzehner stehen. Die „Ultras“ stimmten ein Lied an, zu dessen Refrain die Mannschaft und alle anderen im Stadion die Hände über dem Kopf zusammen klatschten. Das Lied hatte drei Strophen und dauerte etwa zwei Minuten. Dann gingen die Spieler zu ihren Kindern und dem Präsidenten des Fußballverbands, die sich zusammen mit dem Pokal auf dem Feld vor der Spielerbank eingefunden hatten. Messi bekam den Pokal überreicht, reckte ihn in die Höhe und sorgte damit zum dritten Mal für Jubel an diesem Abend. Dann wurde es dunkel, der Stadionsprecher übernahm das Zepter und erzählte, was so toll an dem Team ist, eine Dame durfte was singen, die Spieler bekamen die obligatorischen T-Shirts mit Slogan übergezogen (natürlich am nächsten Tag im Fanshop und online käuflich zu erwerben) und die einzigen, die sich aufrichtig zu freuen schienen, waren die Kinder der Spieler, die am Mittelkreis herumtobten. Nach einer Lasershow gab es noch ein Feuerwerk, das passenderweise hinter der Tribüne des harten Kerns (wir sprechen hier über ein 3 Ränge hohes Stadion) abgefeuert wurde und für diesen daher nicht sichtbar war. Dann ging das Licht wieder an und die Spieler machten sich auf eine Ehrenrunde, begleitet von relativ peinlichen Animationen des Stadionsprechers, die nicht einmal ansatzweise auf fruchtbaren Boden fielen. Man musste schon genau hinschauen, um überhaupt Leute klatschen zu sehen.
Sobald die Mannschaft vorbei war, machten sich die jeweiligen Tribünen auf den Nachhauseweg. Zuletzt erreichte das Team nochmal den harten Kern, der durch die ganzen Feierlichkeiten hindurch mehr oder weniger weiter gesungen hatte. Der Applaus wurde etwas größer, doch die Spieler blieben nicht einmal stehen. Bis ganz zuletzt Piqué kam, der die Welle anstimmte, immer und immer wieder, und damit tatsächlich einen großen Teil der Tribüne hinter dem Tor (über alle Ränge hinweg) zum Mitmachen bewegte. Ein Spieler, der gerade zum achten Mal spanischer Meister geworden war und bereits drei Mal die Championsleague gewonnen hat, musste also für die Stimmung sorgen. Für wenigstens ein klein wenig Stimmung. Ich konnte meine Enttäuschung nicht verbergen, auch nicht vor den Kindern. Wir hatten gerade eine Meisterschaft gesehen, die weniger gefeiert wurde, als mancher Heimsieg im Westfalenstadion. Der Gedanke machte sich breit, dass ich es eigentlich nicht erleben möchte, irgendwann so oft Meister gewesen zu sein, dass ich mich nicht mal richtig darüber freuen kann. Der Slogan „Lieber nicht Meister werden, als falsch Meister werden“ kam mehrfach in meinen Kopf. Letztendlich wollte ich aber dann doch lieber auf den etwas positiveren Gedanken zurückgreifen, dass es schön ist, Fan eines Vereins zu sein, der immer mal wieder die Chance hat Meister zu werden. Ganz ohne Gefahr zu laufen, es zu einer Routine verkommen zu lassen. Und ich schwelgte den Rest des Abends in Erinnerungen an 2011 und 2012. An echte Meisterfeiern, die ich live im Stadion erlebt habe.