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#KeineSchwäche - „Druck ist ein sehr individuelles Empfinden"

29.12.2019, 11:13 Uhr von:  Michael

Anlässlich des 10. Todestages von Robert Enke hat Teresa Enke erneut auf den Unterschied zwischen Depression und Druck hingewiesen. Nach dem Interview mit Sebastian Brückner zum Thema "Depression", haben wir uns für den aktuellen Teil mit Diplom-Psychologin Marion Sulprizio, Geschäftsführerin bei der Initiative „MentalGestärkt“, über "Druck" unterhalten.

Diplom-Psychologin Marion Sulprizio
© Marion Sulprizio

Frau Sulprizio, kurz nach dem Suizid von Robert Enke wurde die Initiative „MentalGestärkt“ gegründet. An wen richtet sich Ihre Initiative und wer steht dahinter?

Die Initiative richtet sich in erster Linie an Leistungssportler. Wir helfen aber auch Trainern, und haben auch schon Angehörigen von Leistungssportlern geholfen. Grundsätzlich stehen unsere Türen offen, es sollte aber schon leistungsorientierter Sport sein. Bei uns ist das Besondere, dass unsere Netzwerkpartner sich alle im Sport auskennen. Die Psychiater in unserem Netzwerk wissen zum Beispiel, welche Mittel auf der Dopingliste stehen und können dementsprechend das richtige Medikament verordnen. Die Psychotherapeuten und Psychologen haben alle einen Sporthintergrund. Deswegen können wir auch gut verstehen, was in einem Sportler vorgeht, wenn er sagt: „Ich möchte unbedingt spielen.“

Finanziert werden wir zu einem Teil durch die Robert-Enke-Stiftung. Außerdem unterstützen uns maßgeblich die gesetzliche Unfallversicherung VBG, die Spielergewerkschaft VDV sowie die Sporthochschule Köln.

Was ist Druck überhaupt?

Druck ist eine Form von Stress. Wie Stress auch, ist Druck multifaktoriell. Es ist nicht Druck, den man bekommt oder Druck, den man sich macht, es ist immer eine Mischung aus den äußeren Faktoren und der inneren Haltung. Bei den Athleten ist es eigentlich so, dass sie besonders dann Druck erleben, wenn eine Situation besonders bedeutsam oder wichtig für sie ist. Wenn sie dann an den Rand ihrer eigenen Ressourcen gelangen und nicht wissen, bewältige ich das jetzt oder bewältige ich das nicht, entsteht Stress. Man hat also zwei Denkprozesse: Ich überlege, ist diese Situation jetzt wichtig für mich und wenn ja, hab ich genug Ressourcen, um damit umzugehen. Und wenn nein, erlebe ich Stress. Es ist immer ein innerer Anteil und es ist die Situation, die eine Rolle spielt. Deswegen ist es dem einen egal, ob es einen Elfmeter zu schießen gibt und der andere wird ängstlich, wird unsicher, macht sich Gedanken. Und die Folge von Druck sind genau diese Gedanken. „Wenn ich jetzt nicht treffe, dann fliege ich aus der Nationalmannschaft oder werde nächste Woche nicht mehr aufgestellt.“ Und dieser innere Dialog, den muss man beeinflussen.

Es gibt ja einmal die Erwartungshaltung an mich selbst, die Messlatte, die ich an meine Leistung anlege und die Erwartungshaltung anderer. Welche Erwartungshaltung wirkt sich aus Ihrer Sicht als Psychologin stärker aus, die interne oder die externe?

Am Ende ist es meine eigene Erwartungshaltung, die sich am ehesten auf meinen Stresslevel auswirkt. Die Erwartungshaltung von außen nehme ich ja zum Teil auf und mache sie damit zu meiner eigenen. Und so ist es dann am Ende die eigene, die die größte Rolle spielt.

Druck ist ja sehr individuell. Der eine freut sich über ein wichtiges Spiel, der andere kann Nächte vorher nicht schlafen. Wie kommt es, dass Menschen Druck so unterschiedlich verspüren?

Man kann das so beschreiben, dass es für jede Person eine optimale Aktivierungslage gibt. Der eine braucht Druck und ein bisschen Stress, dann ist er richtig gut, der andere ist bei einem geringeren Maß an Stress schon an seinem Limit.

Kann man das anhand von Bevölkerungsgruppen charakterisieren? Empfinden Männer eher Druck als Frauen oder umgekehrt? Sind ältere Menschen druckresistenter als Jugendliche?

Nein, das ist wirklich sehr individuell. Es liegt auch nicht nur an der Person, sondern auch an der Situation. In einer Aufgabe empfinde ich sehr viel Stress, bei einer anderen Aufgabe ist es wieder ganz anders. Jeder muss im Prinzip dann schauen, wie er damit klarkommt und den Stress reguliert.

Ich kann Stress also für mich selbst regulieren?

Genau. Diese Regulationsmaßnahmen sind der zweite Punkt warum Sportler A eine stärkere Stressreaktion zeigt. Sportler B hat den Druck vielleicht auch, hat aber gelernt damit umzugehen. Es gibt Atemtechniken, es gibt verschiedenste Entspannungsmethoden, es gibt Gedankenarbeit, also dass man mit sich selbst diesen inneren Dialog ändert, es gibt Visualisierungsstrategien.

Wie genau laufen diese Regulationsmaßnahmen ab?

Es gibt drei Ansätze. Der erste ist der innere Dialog, um den Gedankengang zu kontrollieren. Bei der Gedankenkontrolle schreibe ich zum Beispiel auf rote Karten, was man alles für negative Gedanken, für schlechte Erwartungen hat und auf den grünen Karten formuliere ich positive Alternativen. Und dann muss ich mein Gehirn trainieren, diesen Switch von rot nach grün hinzukriegen. Das kann ich dann auch während eines Spiels anwenden, um einen negativen Gedankengang zu unterbrechen.

Der zweite Ansatz ist die Visualisierung, ich stelle mir also bestimmte Bilder im Kopf vor. Ich gehe dabei gerne auf den „Moment of Excellence“ ein, meinen besten Sportmoment. Wenn ich mich daran erinnern kann und mir das bildhaft im Kopf vorstelle, dann werde ich automatisch selbstbewusster. Das macht den Athleten häufig auch Spaß, dieses Bild mit allen Sinnen abzurufen. Der dritte Ansatz ist die Handlung. Hier kann ich zum Beispiel entspannende Musik hören, Atemtechniken oder Entspannungsmethoden anwenden.

Wir geben den Athleten einen Werkzeugkasten an die Hand

Wie sieht es mit Athleten aus, die dem sehr negativ entgegentreten?

Ich sage den Sportlern immer, ich gebe euch einen Werkzeugkasten an die Hand. Und nicht für jeden ist der Hammer das richtige Werkzeug. Wenn euch das eine nicht gefällt, probiert eine andere Technik aus. Und in der Regel ist etwas dabei, womit ich den Athleten überzeugen kann.

Gibt es Unterschiede in der Stressregulation zwischen einem „normalen“ Arbeitnehmer und einem Profisportler?

Die Prinzipien sind eigentlich gleich. Da ist es egal, ob ich einen Manager oder einen Sportler coache. Die Ausführungen können dann etwas variieren. Wenn ich einen Manager nach seinem „Moment of Excellence“ frage, wird er sich an etwas anderes erinnern als ein Fußballspieler. Die Inhalte sind unterschiedlich, die Strategien sind gleich.

Gibt es, gerade im Fußball, Unterschiede zwischen einzelnen Positionen? Empfindet ein Torwart einen anderen Druck als ein Stürmer? Und wie sieht es bei Trainern aus? Gerade diese sind in der Regel die ersten, die ihren Job verlieren und haben ja auch im Spiel nur begrenzt Möglichkeiten einzugreifen.

Wir haben mal eine Studie gemacht, in der es um die Stressbelastung für Trainer ging. Wir haben herausgefunden, dass er ein großer Stressfaktor für Trainer ist, dass er am Ende kaum in das Spiel eingreifen kann. Die Unkontrollierbarkeit der Spielerleistung nennt sich das. Das ist ein sehr wichtiger Faktor.

Bezüglich Torwart und Stürmer gibt es schon den Unterschied, dass die Fehler des Torwarts eine größere Konsequenz haben, als die des Stürmers.

Gibt es Unterschiede zwischen Sportarten? Ein Profifußballer steht mehr in der Öffentlichkeit, hat aber dafür eine bessere finanzielle Absicherung als beispielsweise ein Bogenschütze, der seinen Sport auch auf höchstem Niveau ausführt, davon aber in der Regel nicht leben kann.

Das mit dem Geld ist immer so eine Frage. Es ist schnell gesagt „Du kriegst ja Geld dafür, dann musst du auch damit klarkommen!“

Mertesacker im Duell mit Großkreutz

...was aber am Druckempfinden nichts ändert.

Genau. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Im Gegenteil, es kann dazu führen, dass der Druck noch steigt. Ich kriege Geld dafür, also muss ich auch liefern. Ich bin auf dem Präsentierteller, jeder kann meine Leistung bewerten. Per Mertesacker hat sich ja sehr deutlich dazu geäußert.

Stichwort Mertesacker. Er hat ja sehr deutliche Symptome beschrieben, von Erbrechen vor dem Spiel über Schlafstörungen. Wann wird Druck gefährlich, wann ist der Punkt erreicht, ab dem man sagen muss: Hier müssen unbedingt Gegenmaßnahmen eingeleitet werden?

Es gibt keinen festen Punkt, ab dem man unbedingt eingreifen muss. Bei Mertesacker kam erschwerend hinzu, dass er ja psychologische Unterstützung hatte, sich aber nicht getraut hat, diese wirklich in Anspruch zu nehmen, weil er eine Stigmatisierung befürchtete.

Es wird gefährlich, wenn jemand leidet, wenn er wirklich massive psychosomatische Symptome entwickelt. Bei Mertesacker würde ich dies bejahen, bei den beschriebenen Symptomen wäre Hilfe wirklich nötig gewesen. Und natürlich, wenn es wie bei Enke dann in eine psychische Erkrankung geht. Dann braucht der- oder diejenige auch unbedingt Hilfe.

Keiner muss auf dieser Erde Leistungssport treiben.

Ist Druck gut behandelbar oder gibt es auch Fälle, wo es besser ist, mit dem Leistungssport aufzuhören, weil der innere Druck so hoch ist, dass keine Gegenmaßnahmen wirksam sind?

Grundsätzlich kann man immer etwas machen. Aber wir haben auch schon Athleten gecoacht, wo wir gesagt haben, okay, das ist nichts für dich. Verlass lieber dieses Feld, keiner muss auf dieser Erde Leistungssport treiben. Das Problem ist bei vielen, dass sie oft keinen Plan B haben. Die versteifen sich auf die Sportkarriere. Wichtig ist in dem Fall, dass es alternative Handlungspläne gibt, damit der Ausstieg aus dem Leistungssport nicht zu einem totalen Identitätsverlust führt.

Verstehen die Sportler so etwas?

Es ist ja nicht so, dass ich als Psychologin eine Diagnostik mache und am Ende steht da „Nicht geeignet.“ Der Zweifel kommt ja in der Regel aus dem Athleten selbst und in der Regel wägt er auch für sich ab, was denn passiert, wenn er den Sport aufgibt. Ich gehe nicht proaktiv hin und schaue, wer in einer Fußballmannschaft nicht mehr weiterspielt. Selektion ist immer ein sehr schwieriges Thema. Das wollen die Trainer häufig gerne, dass ich ihnen sage „Der und der sollte nicht spielen“, aber das ist natürlich voll am Thema vorbei, daher machen seriös arbeitende Sportpsychologen das nicht.

Kann man bei den Symptomen, wie beispielsweise bei Mertesacker, akut mit Medikamenten helfen?

Ich wäre da sehr skeptisch. Das kann vielleicht in einer akuten Situation mal helfen, dass ich zum Beispiel eine Schlaftablette nehme, wenn ich nicht einschlafen kann. Aber das darf keine Dauerlösung sein. Dann schaffe ich mir den nächsten Tablettenabhängigen.

Nehmen wir mal das Thema Jugendleistungssport. Im Rahmen unserer Serie haben wir auch mit Bartosz Maslon gesprochen, der den Jugendleistungssport sowohl von Spieler- als auch von Trainerseite kennt. Er beschrieb uns, dass im Jugendfußball der Spaß häufig auf der Strecke bleibt, da einfach der Druck enorm ist. Wie können ein Verein und auch ein Jugendspieler selbst diesem Druck entgegenwirken?

Im Grunde kann es auch hier über die Multiplikatorenebene gehen. Als erstes muss ich meine Trainer in die Pflicht nehmen. Und wir haben da immer noch das Problem, dass Trainer da häufig nicht gut genug ausgebildet sind, was das gesunde Führen von Jugendlichen angeht. Die kennen ihre eigene Ausbildung von früher, wo noch ein rauer Umgangston herrschte und auch wenig wertschätzendes Führungsverhalten. Da muss ganz stark dran gearbeitet werden, da gibt es noch ein Riesenpotenzial, wenn man es positiv ausdrücken will. Dann muss auch die Akzeptanz steigen, dass ein Trainer zusammen mit einem Sportpsychologen arbeiten kann. Trainer sind häufig ganz offen, was Athletiktrainer angeht. Physiotherapeuten werden auch akzeptiert, aber die Sportpsychologen nehmen sie nicht so gerne mit. Und das muss auch verbessert werden.

Die Nachwuchsleistungszentren (NLZ) haben mittlerweile die Pflicht, einen sportpsychologischen Experten oder Betreuer anzustellen. In der ersten Liga muss er Vollzeit anwesend sein, in der zweiten und dritten Liga geht es dann sukzessive runter. Ansonsten erhalten die NLZ keine Zertifizierung. Das ist ein sehr guter Schritt in die richtige Richtung. Allerdings hat die VDV kürzlich eine Befragung gemacht und bislang haben nur 7 Vereine in der Bundesliga eine eigene sportpsychologische Abteilung.

Wie sind die NLZ aus sportpsychologischer Sicht zu betrachten? Ich reiße ja einen Jugendlichen erstmal aus seiner familiären Umgebung raus und gebe ihn in ein Internat.

Für den Fußball kann ich das gar nicht so genau beurteilen. Ich mache selbst in einem Jugendinternat für mehrere Sportarten die sportpsychologische Sprechstunde, da ist Heimweh immer ein Thema. Da kommen die Athleten häufig und es geht gar nicht um Sport, sondern um soziale Prozesse. Andererseits ist natürlich die optimale sportliche Förderung wichtig, die ich in einem heimatnahen Sportverein vielleicht gar nicht gewährleisten kann. Es ist also wieder sehr individuell. Ich finde es nicht gut, wenn es über den Kopf des Kindes entschieden wird. Aber wenn das Kind es selbst entscheidet, warum dann nicht?

Wenn der Trainer erwartet, dass der Psychologe ihm die Aufstellung macht, dann ist das nicht die eigentliche Funktion.

Wie ist denn ihr Kontakt zum Trainer? Wenn ein Sportler ihnen seine Probleme schildert und sie informieren den Trainer, kann es ja durchaus karriereschädigend sein.

Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Viele Sportler suchen wegen dieser Befürchtung keinen Psychologen auf. Sie haben Angst, dass es ihnen als Schwäche ausgelegt wird und sie dann nicht aufgestellt werden. Aber zunächst einmal haben alle Psychologen, die beispielsweise über unser Netzwerk „MentalGestärkt“ arbeiten, eine Schweigepflicht. Sie reden also nur mit den Athleten, aber nicht mit den Trainern über den Athleten. Ausnahme natürlich, der Athlet bitte ihn darum. Es darf auf keinen Fall zur Selektion genutzt werden.

Prof. Dr. Bär von der Uni Jena, der ebenfalls eine Sprechstunde für Leistungssportler anbietet, äußerte in einem Interview die Vermutung, dass vereinseigene Psychologen eher darauf aus sind, den Spieler spielfähig zu halten, anstatt wirklich zur psychischen Gesundheit beizutragen. Sehen Sie diese Gefahr auch?

Dem kann ich so nicht zustimmen. Bei Sportpsychologen, die von unserer Dachorganisation, der asp, ausgebildet werden, ist Leistungsoptimierung natürlich ein Ziel, aber nicht um jeden Preis. Es gehören auch Persönlichkeitsentwicklung und psychische Gesundheit dazu. Klar ist Leistung wichtig. Ich will ja auch gut Fußball spielen und Tore schießen, aber nicht um jeden Preis. Zudem hängen Leistungsoptimierung und psychische Gesundheit ja sogar zusammen. In der Regel, bin ich leistungsbereiter, wenn ich psychisch gesund bin. Robert Enke war ja beispielsweise ein herausragender Spieler, aber so wie seine Frau berichtete, hat er in den Krankheitsphasen sich überwinden müssen, morgens aus dem Bett aufzustehen.

Coaching einer Sportlerin
© Marion Sulprizio

Das heißt aus ihrer Sicht ist ein Vereinspsychologe sinnvoll?

Klar, auf jeden Fall. Es muss nur klar sein, was seine Aufgaben sind. Wenn der Trainer erwartet, dass der Psychologe ihm die Aufstellung macht, dann ist das nicht die eigentliche Funktion. Weil dann natürlich die Spieler sehr schnell merken, dass eine Thematisierung ihrer Probleme negative Folgen hat. Das muss geklärt sein. Aber ich habe das Gefühl, dass es in eine richtige Richtung geht.

Bartosz Maslon hatte in unserem Interview die Befürchtung geäußert, dass Trainer sich noch mehr aus der Kommunikation mit den Spielern herausziehen könnten, wenn ein Psychologe im Team ist. Sehen Sie die Gefahr auch?

Das wäre mal eine interessante Studie, wie sich das in der Kommunikation auswirkt. Ich glaube nicht, dass es grundsätzlich so ist. Aber er hat natürlich Recht, dass die Gefahr besteht. Ich denke, man muss es mehr wie ein Team betrachten. Alle, die da arbeiten, auch die Psychiater, die jetzt in diesem Feld mit Einzug gehalten haben, sollen sich als Team für den Athleten fühlen und nicht unbedingt als Konkurrenten, die sich gegenseitig vom Feld schubsen wollen. Und wenn dann wirklich jemand eine psychische Krankheit hat, nehmen wir zum Beispiel Depressionen, dann muss er ja auch zum Therapeuten. Dann ist der Sportpsychologe gar nicht mehr der Richtige. Da muss man nochmal unterscheiden, Sportpsychologen sind Menschen, die Psychologie studiert haben, aber nicht unbedingt Psychotherapeuten, das ist eine Zusatzausbildung. Psychiatrie ist eine Facharztrichtung und alle haben da natürlich ihren Teil am Athleten, was ich völlig in Ordnung finde. Sie sollen nur versuchen, den Teamgedanken nach vorne zu stellen, das ist das Schwierige in diesem Feld.

Dann ist Zurückhaltung besser, auch wenn es den Fan nicht immer zufriedenstellt.

Kommen wir mal zum Thema „Öffentlichkeit“. Die Reaktion von Fans, die Arbeit der Medien, alles das beeinflusst das Druckempfinden. Wenn ich in großen Buchstaben in der Zeitung lese, dass ich ein Volltrottel bin, dann macht das was mit mir. Was wäre aus Ihrer Sicht ein vernünftiger Umgang mit Fehlern und schlechten Leistungen?

Fehler gehören dazu, aus Fehlern lernt man und ohne Fehler könnte man sich nicht verbessern.

Klingt abgedroschen, aber diese Denkweise ist draußen noch nicht angekommen. Wenn ich mit Athleten arbeite, dann sprechen wir ganz viel über Fehlerkultur und Fehlerverarbeitung. Und die Öffentlichkeit sollte das auch so sehen. In den Medien hat es sich in den letzten Jahren verschärft, die Medien stürzen sich immer sehr auf die negativen Dinge. Da kann man natürlich auch besser drüber schreiben. Und dass einer super drauf ist und über Wochen gute Leistungen bringt, wird häufig nicht wahrgenommen. Aber wenn er danebenschießt oder schwierige Situationen nicht entsprechend meistert, dann steht es sofort in der Zeitung.

Haben wir in dem Bereich eine Kultur der Schadenfreude?

Ja, schon ein bisschen.

Es gibt ja auch unzählige Videos, mit Pannen und Kuriosem aus der Sportwelt und zugegeben, ich amüsiere mich ja auch darüber. Aber für den Athleten ist es nicht unbedingt eine schöne Sache, permanent an den eigenen Fehler erinnert zu werden. Gibt es Athleten die sich bei so etwas gedanklich komplett abschotten können? Oder ist es gelogen, wenn Sportler sagen „Es interessiert mich nicht, was die Zeitungen schreiben.“?

Auch das ist sehr unterschiedlich. Aber es gibt mittlerweile Medientrainings, damit die Spieler damit umgehen können, dass sie ständig bewertet, ständig gezeigt und eventuell auch mal ausgelacht werden. Alle diese Dinge kann man üben. Ich weiß, dass die Nationalmannschaft so etwas macht. Ich persönlich komme aus dem Handballbereich, da ist es sehr auffällig, dass seit einigen Jahren plötzlich fast alle Spieler sehr souverän in die Kamera sprechen können. Da ist sicher auch ein gewisser Übungseffekt bei.

Im Gegenzug führt das natürlich dazu, dass Spieler vor der Kamera nichts aussagekräftiges mehr sagen, weil sie Angst haben, einmal durch den Boulevard gezogen zu werden.

Das stimmt natürlich, aber in meinen Augen ist das dann auch der richtige Weg. Wenn die Presse auf meinen nächsten Fehler wartet, ist das natürlich ein gefundenes Fressen, wenn ich dann Thorsten Legat-mäßig daher komme. Dann ist Zurückhaltung besser, auch wenn es den Fan nicht immer zufriedenstellt.

Soziale Medien verstärken die Reaktionen noch einmal extrem. Viele Spieler nutzen sie aber gleichzeitig auch, um sich als Marke zu präsentieren. Welchen Stellenwert nimmt der Umgang der sozialen Medien in psychologischen Gesprächen ein? Raten Sie einem Sportler davon auch mal ab?

Ich persönlich habe mit jüngeren Spielern noch nicht drüber gesprochen, weiß aber, dass es in den Sportinternaten in der Regel sehr genaue Regeln gibt, wann und wie man da aktiv sein darf. Wichtig ist hier die Dosis. Es sollte auf jeden Fall Soziale-Medien-freie Zeiten geben. Ich finde es nicht gut, wenn es komplett verboten wird. Weil das gerade im Jugendbereich natürlich auch wieder zu einer Ausgrenzung führen kann. Aber der Umgang damit muss kontrolliert sein.

Die Gefahr, dass es da zu Beleidigungen und Angriffen kommt, ist natürlich gegeben. Da muss man dann gegen arbeiten.

Bei einem Kreuzbandriss akzeptiert jeder, dass es bis zur Heilung bis zu einem Jahr dauern kann, das sollte bei einer psychischen Krankheit nicht anders sein.

Unsere Serie heißt #KeineSchwäche, um zu zeigen, dass psychische Probleme keine Schwäche sind. Gleichzeitig erwarten viele noch von Sportlern, dass sie keine Schwäche zeigen. Wie hat sich das in den letzten Jahren geändert? Per Mertesacker hat sich nicht getraut, in psychologische Behandlung zu gehen. Ist es heute offener geworden?

Ich glaube schon, dass es vor allem in der Hinsicht offener geworden ist, dass die Menschen sich eher Hilfe suchen. Früher hat man das gar nicht gemacht und sich mit anderen Krankheiten abgemeldet. Enke hat beispielsweise gesagt, dass er einen Infekt hatte, als er wegen seiner Depressionen nicht spielen konnte. Das Hilfeholen ist salonfähiger geworden, dass Outen, das nach Außentreten, da sind wir noch nicht. Da ist aber auch die Frage, ob das oberstes Ziel sein sollte. Es muss jetzt nicht jeder durch die Gegend laufen und seine psychischen Krankheiten ausbreiten. Aber die Entstigmatisierung ist wichtig. Bei einem Kreuzbandriss akzeptiert jeder, dass es bis zur Heilung bis zu einem Jahr dauern kann, das sollte bei einer psychischen Krankheit nicht anders sein. So dass man einfach die Rehabilitationsphase auch zulässt. Da können wir noch besser werden.

Würden Sie es denn jemandem empfehlen, es öffentlich zu machen? Also zu sagen „Der Spieler ist an Depressionen erkrankt und fällt 6 Monate aus.“?

Ich kenn jetzt natürlich nur die Fälle, wo es so gemacht wurde. Andrés Iniesta von Barcelona, Kevin Love, Basketballer aus den USA, das sind Beispiele, wo es gut gelaufen ist. Die haben das gesagt und wurden dann auch wieder ganz normal in ihren Sportalltag integriert. Das ist natürlich gut, wenn es so läuft. Es gibt aber auch Fälle, zum Beispiel Andreas Biermann, der es auch öffentlich gemacht hat und danach keinen neuen Vertrag mehr bekommen hatte. Dadurch haben sich die Depressionen noch verschlimmert, was dann zum Suizid führte. Man kann also keine Generalempfehlung geben. Als Psychologe muss ich schauen, wie geht der Typ damit um und welche Konsequenzen kann das haben, sowohl positiv, aber auch negativ. Aber einem Verein wie Hannover wird so etwas sicherlich nicht nochmal passieren. Nach Enke hatte ja auch Markus Miller die gleiche Krankheit, da hat der Verein hervorragend reagiert.

Wissen Sie, ob Spieler bei der ärztlichen Untersuchung auf psychische Krankheiten untersucht werden?

Das wird in der Regel nicht durchgeführt. Es gibt eine medizinische Untersuchung, aber keine psychologische. Und das ist auch eine Sache, wo wir mit der VBG, die ja die Athleten alle versichert, überlegen, ob man das nicht auch mit in die Untersuchung nehmen kann.

Aber kann das nicht auch zum Gegenteil führen? Dass dann genau wie bei Biermann der Vertrag nicht zustande kommt?

Genau das muss ich als Sportpsychologin dann auffangen. Wenn so etwas diagnostiziert wird, dann muss ich auch sofort ein Angebot haben, welche Maßnahmen ich ergreifen kann, damit der Spieler normal weiterarbeiten kann und gleichzeitig Hilfe bekommt. So ist ja auch MentalGestärkt entstanden. Wir sind eine Netzwerkinitiative, die viel über das Thema informiert, aber wenn jemand Hilfe braucht, dann vermitteln wir ihm auch Hilfe. Das ist der Grundgedanke. So viel wie möglich im präventiven Bereich tun aber wenn der Moment überschritten ist, wo das Problem klinisch wird, dann auch konkrete Hilfe anbieten.

Wenn man den Leistungssport mit der Gesellschaft vergleicht, ist der Stand der Akzeptanz da ähnlich?

Was auf jeden Fall stimmt, dass es von der Prävalenz, also dem Auftreten einer Depression, gleich ist. Das Outen ist im Sport in meinen Augen noch weniger salonfähig, weil einfach die „Stärke“ die mit Sport verbunden wird, dadurch vermeintlich geschwächt wird. Das passt ja wieder zu Ihrem Motto, dass es beim Sport noch nicht so angekommen ist, dass es kein Zeichen von Schwäche ist. Ziel ist einfach, dass sowohl der Sport als auch die Gesellschaft bei psychischen Krankheiten sagt „Ist nicht schlimm, kann man haben“. Für den Patienten ist es natürlich auch gut, wenn er merkt, dass er mit dem Problem nicht alleine ist, sondern dass es eine Krankheit ist, die jeden treffen kann.

Das heißt, ein Netzwerk außerhalb des Fußballs, Familie, Freund, Menschen, die nichts mit dem Sport zu tun haben, ist für einen Sportler wichtig?

Ja klar. Familie, Freunde, andere Interessen, andere Hobbys, all das ist ganz wichtig und empfehlen wir auch. Gerade damit kann man einen Erholungseffekt erzielen. Professor Kellmann aus Bochum sagt immer: „Es ist ja nicht schlimm, wenn ich hochbelastet bin. Aber ich muss wissen, wie ich mich erhole.“ Und nur dieser Rhythmus zwischen Sport und anderen Dingen hilft mir dann, dass ich wieder auf dem entsprechenden Level performen kann.

Wie sieht das mit dem Spielrhythmus aus? Viele Trainer und Spieler beklagen sich über die vielen Spiele. Ein Eishockeyspieler lacht darüber, weil er alle zwei Tage spielt. Gibt es da einen optimalen Rhythmus?

Da müsste man mal die Trainingswissenschaftler fragen. Ich komme aus dem Handball, wo der Spielrhythmus noch höher ist...

Man erinnere sich an die Rhein-Neckar Löwen, die 2018 quasi zeitgleich antreten mussten...

Genau. Ein Spiel in der Champions League und eines in der Bundesliga.

Im Handball gibt es mittlerweile eine Kampagne namens „Don‘t Play the Players“. Da geht es darum, entweder die Ligen kleiner zu machen oder den Modus zu verändern, um einfach die Belastung zu verringern. Denn diese Belastung führt ja auch wieder zu einem erhöhten Verletzungsrisiko. Gerade im Moment sind in der Handball-Bundesliga Kreuzbandrisse ganz modern. Es fällt auf, dass viele junge Spieler betroffen sind. Das kann natürlich auch auf die hohe Belastung zurückzuführen sein.

Wenn ich körperlich überlastet bin, dann gibt irgendwann der Kopf auf. Es geht aber auch andersrum.

Also kann eine psychische Belastung auch zu physischen Verletzungen führen, weil der Kopf einfach nicht auf der Höhe ist?

Richtig, das spielt alles zusammen. Physisch, psychisch, sozial, all diese Faktoren machen das Gesamtpaket aus. Und klar, wenn ich körperlich überlastet bin, dann gibt irgendwann der Kopf auf. Es geht aber auch andersrum.

Welche Auswirkungen haben gerade längere Verletzungspausen auf die Psyche eines Spielers? Wo setzen Sie als Sportpsychologin da an?

Ich arbeite im Internat viel mit verletzten Sportlern zusammen. Und meine Lieblingsstrategie ist, dass derjenige weiter mit seinem Team zusammen sein darf. Häufig ist ja der erste Gedanke, den Verletzten rauszunehmen und zur Physio zu schicken. Klar, wenn der Verletzte ins Krankenhaus muss, dann geht es erst mal nicht. Aber dann ist es für die Athleten superwichtig, wieder schnell zur Mannschaft zu stoßen. Die müssen ja nicht mitmachen. Aber man kann mental trainieren, wenn man auf der Bank sitzt. Man kann im Kopf Spielzüge durchgehen, wenn man daneben auf dem Trimmrad sitzt. Es gab mal ein Foto von einem Handballer der Rhein-Neckar Löwen, wo er auf dem Trimmrad in der Halle sitzt und unten die Mannschaft ihr normales Training macht. Aber er war da, er war weiter Teil des Teams. Zudem bleiben so auch im Kopf bestimmte Verknüpfungen und Impulse erhalten, tatsächlich bauen die Muskeln bei einem solchen mentalen Training weniger ab.

Teresa Enke hat immer darauf hingewiesen, dass der Druck im Fußball für Robert Enke erst durch die Krankheit schwierig wurde. Was ist die Herangehensweise bei einem Sportler mit Depressionen? Versucht man den Druck möglichst gering zu halten? Oder trennt man das?

Das ist eine schwierige Frage. Das grundlegende Denkmuster ist erst einmal, dass es eine Vulnerabilität, also eine Verletzlichkeit gibt. Dann kommen da verschiedene Stressoren hinzu. Jetzt ist bei dem einen Athleten die Vulnerabilität sehr niedrig, der kann mit immensem Stress umgehen und beim anderen ist sie sehr hoch, da kommt eine kleine Stresssituation und bringt mich sofort in einen depressiven Zustand.

Ich glaube, es ist schwierig, den Druck zu reduzieren. Das würde ja zum Beispiel bedeuten, ihn vor einem wichtigen Spiel rauszunehmen, was aber auch wieder Stress für den Spieler bedeutet, weil er das wichtige Spiel verpasst. Am besten spricht man mit dem Athleten, was er selbst meint.

Also nicht in Watte packen und keinen zusätzlichen Druck?

Nein, auf keinen Fall. Angenommen wir nehmen ihn zu sehr raus, dann fehlt ihm ja das, was ihn zu einem gewissen Teil definiert. Und wie Teresa Enke ja auch sagt, Depressionen sind eine Stoffwechselkrankheit. Und da kann der Sport ja auch viele gute Dinge tun. Endorphine werden ausgeschüttet, es geht dem Sportler besser, das würde ich ihm dann wegnehmen. Aber man kann zum Beispiel an der Zielstellung arbeiten. In vielen Therapien üben die Sportler, eben nicht immer das Maximalziel im Blick zu haben, sondern die Zielsetzung auch mal bewusst tiefer zu setzen.

Wie können Leistungssportler, die Hilfe benötigen, Sie kontaktieren?

Auf unserer Homepage findet man eine Mailadresse und eine Telefonnummer, über die man uns erreichen kann. Wir haben keine Hotline, die immer besetzt ist, weil wir das nicht leisten können. Wenn jemand ganz akut Hilfe braucht, dann kann er sich an die Notfallnummer 116117 wenden. Die RWTH Aachen bietet beispielsweise auch eine Beratung an 5 Tagen die Woche an, bei der zwei Sportpsychiaterinnen ein entsprechendes Telefon betreuen.

Frau Sulprizio, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für uns genommen haben!

WICHTIG: Depressionen können jeden treffen. Sie sind keine Einbildung, sondern eine Krankheit, die mittlerweile gut behandelt werden kann. Wenn ihr akut Hilfe braucht, wendet euch an die Telefonseelsorge unter 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222 (kostenlos).

In unserer Reihe #KeineSchwäche sind bereits erschienen:

Teil 1: SG Spezial: #KeineSchwäche – 10 Jahre nach Robert Enkes Tod

Teil 2: Ciriaco Sforza: "Ich würde es begrüßen, wenn jeder Verein dieses Thema professionell behandelt."

Teil 3: #KeineSchwäche – "Gemeinsam das Leben festhalten." Die Robert-Enke-Stiftung

Teil 4: #KeineSchwäche: "Das ist der Balanceakt" – Im Gespräch über Depressionen im Profisport mit Sportpsychologe Sebastian Brückner

Teil 5: #KeineSchwäche - Babak Rafati: "Im Fußball wird Druck generell unterschätzt"

Teil 6: #Keine Schwäche - Die große Leere. Über Depressionen.

Teil 7: #KeineSchwäche - "Als seien die Kinder eine Ware." Bartosz Maslon über Druck im Jugendfußball (Teil 1)

Teil 8: #KeineSchwäche - "Sollten Jugendliche wirklich einen Psychologen brauchen, um ihren Lieblingssport zu betreiben?" Bartosz Maslon über Druck im Jugendfußball (Teil 2)

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