...Constantin Eckner: 188 Tage Lucien Favre - Ein taktisches Zwischenfazit
Herbstmeister mit nur einer Niederlage - bei Borussia Dortmund lief in der Hinrunde vieles richtig. Wir blicken mit Taktik-Analyst Constantin Eckner zurück und schauen darauf, was die Mannschaft unter Lucien Favre taktisch so stark macht.
In den vergangenen Jahren haben wir bereits mehrfach auf die taktische Entwicklung in der Zeit nach Jürgen Klopp geblickt. Thomas Tuchel konnte zwar den DFB-Pokal gewinnen, war aufgrund interner Zerwürfnisse aber nicht zu halten. Auf ihn folgten Peter Bosz und Peter Stöger, die es nicht vermochten, Borussia Dortmund eine taktische Identität und Kontinuität zu vermitteln. Mit dem Schweizer Lucien Favre steht der Verein nun nach einer Halbserie an der Tabellenspitze der Bundesliga und spielte über weite Strecken berauschenden Offensivfußball, der taktisch phasenweise seinesgleichen suchte.
Schwatzgelb.de hatte die Gelegenheit, nun erneut mit Constantin Eckner, einem der Autoren des Fußball-Taktik-Blogs Spielverlagerung.de, über die taktische Entwicklung in dieser Saison und die Stärken und Schwächen des Favre-Fußballs zu sprechen.
schwatzgelb.de: Constantin, was macht Borussia Dortmund 2018/2019 taktisch auf dem Feld so viel besser als unter Peter Bosz und Peter Stöger? Wie würdest du den Spielstil charakterisieren?
Eckner: Lucien Favre hat eine defensive Stabilität erzeugt, wie es sie in dieser Form seit langem nicht im Dortmunder Team gab. Er kam mit seiner Vorstellung von Fußball genau zum richtigen Zeitpunkt, denn der BVB wirkte nicht mehr ausbalanciert und schoss sich zu häufig mit defensiven Fehlleistungen in den eigenen Fuß. Favre sorgt für eine sattelfeste Abwehr ohne allzu aggressives und risikoreiches Pressing, was die Erfolgskonstanz erhöht, und überlässt seinen talentierten Angreifern den Rest.
Oftmals ist es am besten, Könnern wie Marco Reus und Mario Götze einfach das Zepter zu überlassen. Das sehen selbst Kontrollfreaks wie Pep Guardiola so.
schwatzgelb.de: Der Kader ist immer noch sehr breit. Siehst du dennoch eine bestimmte Position, bei der der Bedarf besteht, noch einen Spieler zu verpflichten?
Eckner: Die Außenverteidigung könnte noch eine Ergänzung vertragen. Jeremy Toljan spielt keine Rolle und Raphaël Guerreiro ist zu defensivschwach für die Linksverteidigerposition. Die Außenverteidigung wird sowieso in ihrer Wichtigkeit unterschätzt. Die meisten Spieler auf diesen Positionen spulen die immer gleichen Läufe und Aktionen ab. Sie sind athletisch, aber ausrechenbar. Achraf Hakimi ist der Beweis, was ein etwas anderer Spielstil bewirkt.
Er ist einer der wenigen Außenverteidiger, der Diagonalität ins Spiel bringt – weil er als Rechtsfuß auf der linken Seite auch quasi dazu gezwungen wird. Wer macht das sonst in Europa? Marcelo, Kyle Walker und eine Handvoll andere. Vielleicht findet der BVB auch einen Sechser, den Favre umschulen kann. Außergewöhnlichkeit kann sich auszahlen.
schwatzgelb.de: An die Frage anknüpfend: Gibt es Spielertypen, die für Favres System hinzugeholt werden müssten? Inwiefern wäre die Verpflichtung eines anderen Stürmertyps sinnvoll, um gegen tiefstehende Gegner besser gerüstet zu sein? Paco Alcácer braucht offensichtlich Raum für sein Spiel.
Eckner: Ich kann mich noch erinnern, dass im Sommer unbedingt ein großer, physischer Mittelstürmer geholt werden sollte. Nun trägt der eher kleine Paco Alcácer das Trikot der Borussia und ihm wird bescheinigt, er brauche viel Raum. Ein Hüne bringt nichts gegen tiefstehende Gegner. Halbfeldflanken sind weitestgehend nutzlos; das zeigt jede Statistik. Eventuell wäre ein schneller, athletischer Stürmer eine gute Ergänzung. Eine Art Alexander Isak 2.0. Vielleicht lässt Ajax mit sich reden. Kasper Dolberg hat bei seinem Kurzeinsatz gegen die Bayern vor wenigen Wochen seine Visitenkarte hinterlassen.
schwatzgelb.de: Im Verlauf der Hinrunde war festzustellen, dass sich ein Großteil der BVB-Gegner immer tiefer stellt und sich hauptsächlich auf das Verteidigen konzentriert. Wird deiner Meinung nach zwangsläufig eine Modifikation des BVB-Stils notwendig sein, um solche Abwehrreihen dauerhaft zu knacken? Wie kann sich das Team noch besser auf dem Feld positionieren, um zwei tiefe und eng gestaffelte Abwehrketten zu überspielen?
Eckner: Das alte Klopp’sche Modell, das eine leichte taktische Veränderung nach sieben bis neun Spielen vorsieht, funktioniert wohl am besten. Ein radikaler Umbruch zerstört die Automatismen und bringt gerade jene Spieler mit weniger Instinkt und Auffassungsgabe in die Bredouille. Die Bayern haben in dieser Saison mit ihrer kleinen Umstellung nach dem Remis gegen Düsseldorf gezeigt: Manchmal reicht ein Kniff. An sich macht es der BVB in vielen Partien schon sehr gut. Der Knackpunkt ist das Bespielen der offensiven Halbräume. Die meisten gefährlichen Torchancen aus dem Spiel heraus entstanden, wenn ein Offensivspieler den Ball im Halbraum führte und die Abwehr mit einem Pass durchstach.
Deshalb ist auch Jadon Sancho so wichtig.
Nicht seine Außenbahnläufe, sondern seine Halbraumdribblings sind
enorm wertvoll. Warum Christian Pulisic teilweise derart an der
Seitenlinie klebt, verstehe ich nicht. In seinen Tagen als
Jugendspieler war er noch ein fast schon Özil-hafter Zehner.
Eventuell fehlt ihm das Selbstvertrauen. Denn für Dribblings durch
die Halbräume braucht es genau das. In diesen Zonen wird der
Ballführende von mehreren Seiten attackiert und der Ballverlust
droht zu jeder Sekunde.
schwatzgelb.de: Für wie variabel hältst du den BVB? Einmal hinsichtlich der taktischen Anpassung innerhalb eines Spiels, andererseits hinsichtlich der taktischen Veränderungen von Spiel zu Spiel. Es ist auffällig, dass Favres Joker vermehrt treffen. Wie gut ist das Ingame-Coaching also?
Eckner: Favre profitiert natürlich von der hervorragenden Bank. Wer regelmäßig Götze, Guerreiro oder auch Mahmoud Dahoud einwechseln kann, der darf sich über diesen Luxus freuen. Gelegentlich wählt Favre das falsche Personal für bestimmte Gegner – oder, um es vorsichtiger zu formulieren, ich kann seine Personalwahl nicht immer ganz nachvollziehen. In der ersten Hälfte der Hinrunde bügelte er diese Fehlentscheidungen oftmals zur Halbzeitpause oder nach einer Stunde aus. Er kann mit Götze zum Beispiel einen spielstärkeren Neuner bringen, der Reus und Sancho vor allem zuarbeitet.
Mit Alcácer hat er den klassischen Torjäger, der gegen eine müde Abwehr Wirkung zeigt. Dahoud ist wertvoll, wenn die beiden defensiveren Sechser, also Thomas Delaney und Axel Witsel, nicht druckvoll genug nachstoßen. Guerreiro ist ein cleverer Flügelläufer, der sich gerne ballfern davon schleicht. Und das ist noch nicht das Ende der Fahnenstange. Favre bleibt meist bei seinem System und ändert die Ausrichtung übers Personal.
schwatzgelb.de: Der Sportjournalist Christoph Biermann hat in einem erhellenden Artikel bei den 11Freunden darauf hingewiesen, dass Favre-Teams regelmäßig die Expected Goals (Statistik zur qualitativen Messung von Torchancen im Fußball) torpedieren. Das konnte man auch in der Hinrunde beim BVB mehrfach beobachten. Hast du eine Erklärung, woran das liegen könnte?
Eckner: Es geht dabei vor allem um die erzielten Tore, die 11,65 über den Expected Goals liegen. Bei den Gegentoren ist die Diskrepanz minimal. In Diensten von Borussia Mönchengladbach war dies noch anders. Damals ließen die Fohlen den Gegner oftmals nah an den Strafraum und zwangen ihn in schlechte Abschlüsse, die aber aufgrund der Position trotzdem eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit hatten. Deshalb war Favre damals wie auch in seiner Zeit in Nizza eine Art Expected-Goals-Anomalie. In dieser Saison ist die offensive Diskrepanz auf zwei Faktoren zurückzuführen: Dortmund unternimmt sehr wenige Flanken – die wenigsten der Liga – und steht in der Schusstabelle auch nur auf Rang zwölf trotz des vielen Ballbesitzes.
Der BVB sucht nach hochwertigen Torchancen und bricht lieber noch
einmal ab, wenn eine Situation festgefahren ist. Damit wirkt die
offensive Produktivität geringer und der Expected-Goals-Wert
schwillt über die 90 Minuten nicht so stark an. Favre trickst
gewissermaßen das Modell aus, was ihm wohl reichlich egal sein
dürfte. Es ist einfach Teil seiner Philosophie, welche die
Mannschaft innerhalb weniger Wochen verinnerlichte.
schwatzgelb.de: Hakimi, Delaney, Witsel, Alcácer, Diallo, irgendwie auch Akanji - die Transfers von Borussia sind durch die Decke gegangen. Welche Spieler haben dem Favre-BVB bisher den größten Stempel aufgesetzt und wer wäre bei einem langfristigen Ausfall nicht zu ersetzen?
Eckner: Nahezu alle der genannten. Der BVB setzt sich momentan aus ein paar älteren Stammkräften wie Reus, Piszczek und Götze und ansonsten fast nur aus Spielern zusammen, die erst seit kurzem im Kader sind. Manuel Akanji organisiert die Abwehr, Witsel kontrolliert den Sechserraum und Reus sowie Sancho können jede Verteidigung auseinanderspielen. Allein diese vier dürfen sich auf gar keinen Fall schwer verletzen.
Reus oder Sancho sind unersetzlich. All die genannten würden in jedem Spielsystem ihren Wert haben. Das hat wenig mit Favre zu tun. Der BVB steht nicht nur an der Tabellenspitze, weil Favre ein guter Trainer ist, sondern auch weil der Club einen Kader für die Top 10 in Europa besitzt.
schwatzgelb.de: Wie müssen BVB-Gegner am ehesten spielen, um ihm das Leben schwer zu machen?
Eckner: Fortuna Düsseldorf und Atlético Madrid haben Anschauungsmaterial geliefert. Ein Team muss es schaffen, die Kontersituationen gut auszuspielen – das erste Modell. Das würde vor allem bedeuten, dass der Ball im Umschaltmoment direkt durch die Mitte geht und dort der oder die Angreifer einen Tempovorteil haben. Geht der Ball erst über die Außenbahn, kann der BVB das sehr schnell zuschieben. Dafür sind Witsel und Delaney viel zu clever.
Ein zweites Modell, der Atlético-Ansatz, sieht vor allem aggressives Angriffspressing vor. Das funktioniert aber nur mit den entsprechenden Spielern, die in der Bundesliga allenfalls die Bayern besitzen. Die Doppelsechs des BVB ist nicht die pressingresistenteste und momentan scheint Favre wenig Vertrauen in Julian Weigl oder Dahoud zu haben.
schwatzgelb.de: In den letzten Monaten machte es den Eindruck, als sei dem BVB etwas die Luft ausgegangen. Kündigt sich ein Einbruch an, oder wurden schlicht Kräfte gespart?
Eckner: Es gab wenig Rotation und zum Schluss häuften sich die Muskelverletzungen. Obwohl Favres Fußballphilosophie nicht krass fordernd für den Körper ist, ging der BVB bis auf das Spiel in Monaco immer mit einer A-Elf bis an die 100 Prozent. Vielfach musste sich die Mannschaft lange gedulden und konnte erst spät einen Gang zurückschalten.
Der Dezember und der März sind die
problematischsten Monate in einer Saison. Die Winterpause ist vor
allem für Regeneration und taktische Arbeit da. Manche Teams machen
im Winter ein kleines Sommertrainingslager, aber das ist beim BVB
wohl nicht angebracht.
schwatzgelb.de: Als furchtbarer Pessimist noch eine Abschlussfrage: Die Meisterschaft ist kein Sprint, sondern ein Dauerlauf. Wird Borussia Dortmund im Sommer Meister?
Eckner: Ja. Das war meine Prognose vor der Saison. Nach dieser Hinrunde rücke ich sicher nicht davon ab.
schwatzgelb.de: Wir bedanken uns für das Gespräch.
Zur Person: Constantin Eckner ist Analyst beim Fußball-Taktik-Blog Spielverlagerung.de und leitender Redakteur der englischen Version Spielverlagerung.com. Außerdem schreibt er als freier Journalist über Taktik, Statistik und Trainingslehre für T-Online.de, n-tv.de, Sport1, ZEIT Online und andere.