Die BVB-Geschichte

"Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist" - Rückblick auf die Meisterschaft 1994/1995

25.04.2019, 14:37 Uhr von:  Phil
"Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist" - Rückblick auf die Meisterschaft 1994/1995
Marco Kurz, Flemming Povlsen, Marc Arnold, Bodo Schmidt, Ibrahim Tanko, Torwart Stefan Klos, Günter Kutowski und Steffen Freund mit der Meisterschale
© imago images / Horstmüller

21 Spieltage stand Borussia Dortmund in der Saison 1994/95 an der Tabellenspitze, bis Werder Bremen am 29. Spieltag die Führung übernahm. Doch Aufgeben war keine Option. Am letzten Spieltag gewann der BVB mit 2:0 gegen den HSV und Werder Bremen verlor mit 1:3 bei Bayern München. Borussia Dortmund war nach 32 Jahren wieder Deutscher Meister.

Nach dem 28. Spieltag der Spielzeit 1994/95 war die Ausgangslage für das kommende absolute Spitzenspiel der Saison ganz klar definiert. Der BVB hatte im Verlauf der Rückrunde einen (nach damaliger 2-Punkte-Regel) Vierpunkte-Vorsprung mühselig vor deutlich besser in Form befindlichen Bremern verteidigt und konnte mit einem Punkt im Vorteil in das nach weitläufiger Meinung vorentscheidende Spiel um die deutsche Meisterschaft gehen. Die kommenden Wochen sollten schließlich unauslöschbar in den Gedächtnissen jener verbleiben, die daran teilnahmen und stehen bis heute in den Geschichtsbüchern Borussia Dortmunds, da an deren Ende die pure Ekstase der errungenen Meisterschaft stand.

Der 28. Spieltag

Auf dem Weg dorthin war dem BVB bereits sein damals absolut wichtigster Stürmer (und durchaus auch prägendste Spieler der frühen Neunzigerjahre) abhandengekommen. Nach einem mehr als dümmlichen Foul im Training, wohlgemerkt durch den damaligen Co-Trainer Michael Henke, war beim Schweizer Weltklassestürmer Stephane Chapuisat das Kreuzband zerrissen. Und damit auch ein gutes Stück die Zuversicht unter der Anhängerschaft des BVB. Sage und schreibe 32 (wechselhafte) Jahre waren vergangen, als Borussia Dortmund letztmals die deutsche Meisterschaft nach Dortmund holen konnte. Und die schmerzhaften Tage rund um jene unfassbar emotionalisierende Spielzeit 91/92 und Guido Buchwalds Last Minute Knock Out, steckten noch in den Knochen vieler Fans. Für mich fühlte sich jener Tag auf der Tribüne im alten Duisburger Wedaustadion damals so an, als ob mein BVB niemals mehr einer Chance auf eine Meisterschaft so nah kommen würde. Damals war man als BVB-Fan noch eher als tendenzieller „immer mal eine Insolvenz, mit Hang zum Abstiegskampf“- Fan sozialisiert worden. Umso gewaltiger wirkte die Spielzeit 91/92 auf alle, die an ihr teilhaben durften.

Und doch stellte der Klub damals die Weichen derart ambitioniert (und risikoreich), dass in den Jahren danach das Ziel immer wieder hieß, Deutscher Meister werden zu wollen. Man kaufte namhaft und teuer ein: Reuter, Sammer, Riedle, Möller. Immerhin drei Weltmeister von 1990 darunter. Und in M. Sammer den damals absolut herausragenden deutschen Fußballer.

Und doch sollten die Spielzeiten 92/93 und 93/94 eher schwerfällig verlaufen, zwar mit internationalen Highlights erster Güte, aber in puncto Meisterschaft dann doch eher chancenlos. Die Spielzeit 93/94 hätte sogar um ein Haar O.Hitzfeld sein Traineramt in Dortmund kosten können, derart schlecht verlief sie.

In der Spielzeit 94/95 gelang dann endgültig das, worauf alle Arbeit und alle Planungen zulaufen sollten. Man startete fulminant in die Spielzeit und die Mannschaft eilte von Sieg zu Sieg. Man blieb über lange Zeiten der Hinrunde das Maß aller Dinge und stand folgerichtig nach einem grandiosen 4:0 -Auswärtssieg in Hamburg (mit einem Hattrick von Michael Zorc) nach dem 17. Spieltag auf Platz 1 der Tabelle. Mit satten vier Punkten Vorsprung auf Werder Bremen.

Aber die Rückrunde stotterte dann ab dem 20. Spieltag gewaltig. Fortan konnte der BVB nur noch 7:9 Punkte bis zum 27. Spieltag erringen und Werder Bremen war es somit gelungen den Anschluss herzustellen. Und in jene äußerst schwache Phase der Rückrunde fiel unter anderem auch jene legendär gewordene „Schutz-Schwalbe“ von Andreas Möller, ohne welche die Punktausbeute wohl noch schlechter ausgefallen wäre.

Am Abend des beendeten 28. Spieltags stand somit Borussia Dortmund mit einem Punkt Vorsprung vor Werder Bremen. Fußball-Deutschland erwartete mit Spannung den 29. Spieltag mit dem „Endspiel um die Meisterschaft“ im Weserstadion in Bremen.

Der 29. Spieltag

Der DFB hatte sich für den 29. Spieltag dazu durchgerungen, das Spiel am Sonntagabend auszutragen und dies extra im damals noch relativ neuen Privatfernsehen zu übertragen. Was für mich, als damals jugendlicher Schüler, durchaus ein Problem war, da mir nicht ganz klar war, wie ich am nächsten Tag wieder pünktlich zu Hause sein sollte.

Und so kam der Abend des „großen Spiels“ und schon damals konnten die noch nicht so üppig vertretenden Medien (das Internet war ja noch nicht abschließend „erfunden“) dies entsprechend orchestrieren. Und es kam, wie es viele Experten schon prophezeiten. Der BVB blieb in diesem Spiel weitestgehend chancenlos gegen fulminante Bremer, die von Rehhagel, Basler, Herzog u.a. in Richtung Meisterschaft gepeitscht wurden und das Spiel souverän 3:1 gewannen. Werder Bremen übernahm damit erstmals nach dem 7. Spieltag wieder die Tabellenführung.

Spielzeit 1994/95 - Stolz: Jubel nach dem Spiel von Andy Möller vor der Südtribüne
© imago images / WEREK

War es dem BVB bis zu diesem Spiel trotz der dargelegten, durchaus üppigen Ergebniskrise (3 Siege aus 9 Spielen zwischen dem 20ten und 28ten Spieltag) irgendwie gelungen, die Tabellenführung zu verteidigen, war dies nun vorbei. Und damit einhergehend schienen auch alle Hoffnungen auf die so sehr ersehnte Meisterschaft begraben. Ich für meinen Teil erlebte damals im Anschluss an dieses Spiel zum ersten Mal in meinen Leben, dass man von Alkoholkonsum auch tagelang außer Gefecht gesetzt werden konnte. Die Frustration war riesengroß und überall begann ein langsamer Abgesang auf den BVB, der erneut mit seiner inzwischen millionenschweren Mannschaft nicht seine Ziele erreichen würde.

Aufstellung
Klos - Sammer-Cesar, Schmidt, Kree - Reuter ,Freund ,Zorc , Möller- Riedle, Ricken.
1:0 A.Herzog (54.), 2:0 Basler (59.), 3:0 Basler (87.), 3:1 Möller (90.).

Tabelle 29. Spieltag 1994/95:

1.Werder Bremen55:29 Tore42:16 Punkte
2.Borussia Dortmund57:28 Tore41:17 Punkte
3.SC Freiburg60:40 Tore39:19 Punkte

Der 30. Spieltag

Zum nächsten Spiel am 30. Spieltag erschien der im Abstiegskampf befindliche VfL Bochum im Westfalenstadion. Der BVB musste zu allem Überdruss und zusätzlich zu Chapuisat in diesem Spiel auch auf Julio Cesar und M. Sammer verzichten. Dennoch gelang mit viel Mühe, einiger Not und definitiv noch mehr Glück, ein 3:1-Erfolg über den Reviernachbarn. Da gleichzeitig aber auch Werder Bremen in Stuttgart den VfB mit 4:1 wegfegte, blieb die Situation in der Tabelle unverändert, aber ein weiterer Spieltag war verstrichen.

Aufstellung
Klos - Reuter – Schmidt, Kree – Reinhardt, Freund, Zorc, Möller, Ricken – Riedle, Tanko.
1:0 Zorc (54.), 2: Möller (57.), 2:1 U.Wegmann (64.), 3:1 Reuter (81.)

Tabelle 30. Spieltag 1994/95:

1. Werder Bremen59:30 Tore44:16 Punkte
2. Borussia Dortmund60:29 Tore43:17 Punkte
3. SC Freiburg62:41 Tore41:19 Punkte

Der 31. Spieltag

Für den 31. Spieltag musste der BVB nun ins Breisgau nach Freiburg reisen. Dort hatte Volker Finke eine Mannschaft geformt, welche taktisch derart weit ihrer Zeit voraus war, dass dies ein weiteres Spitzenspiel um die deutsche Meisterschaft war. Der SC Freiburg spielte damals nicht nur den begeisterndsten Fußball, sie standen auch nur drei Punkte hinter Tabellenführer Werder Bremen und damit einen Punkt hinter Borussia Dortmund. Jeder, der in jenen Tagen auf dieses Spiel hinfieberte, wird sich erinnern, dass das Gefühl absolut vorherrschend war, dass dieser Tag der Schlusspunkt in den Meisterschaftsbemühungen sei. Denn kurz zuvor war das Undenkbare passiert: Auch Karl-Heinz Riedle war das Kreuzband gerissen und der BVB stand vier Spiele vor dem Abschluss der Saison, mitten im Meisterschaftskampf, ohne seine Stürmer da (denn auch F.Povlsens Knie hatte ja schon lange zuvor nicht mehr wirklich gehalten). Hoffnung hatte da kaum noch jemand. Der „Babysturm“ war geboren.

Ich konnte damals nicht nach Freiburg reisen, weshalb ich mich – wie schon einige Male zuvor – in Richtung einer der wenigen „Premiere-Abonnenten“ machte, um dieses Spiel live verfolgen zu können. Donnerstags hatte der Kicker verkündet, dass Premiere auch dieses Spiel live zeigen würde.

Das Spiel verlief ebenfalls zäh, aber der BVB rang mit sich und diesen taktisch exzellenten Freiburgern. Ein wenig Hoffnung machte sich breit, dass dies noch nicht der Schlussakkord sein müsste. Und urplötzlich traf tatsächlich der obligatorische Michael Zorc. Der BVB führte. Da störte es auch erst einmal nicht, dass Werder Bremen bereits deutlich gegen Uerdingen (übrigens trainiert von Friedhelm Funkel) führte. Man blieb dran. Bis dann jener unglückliche Moment, neben all den Verletzungen und anderen Pechsträhnen, kam und M. Sammer ein Eigentor der spektakuläreren Sorte gelang, so dass es nach 75. Minuten 1:1 stand. Und dabei sollte es auch bleiben. Nunmehr war der BVB zwei Punkte hinter Werder Bremen, bei noch zu vergebenden sechs Punkten.

Aufstellung
Klos - Sammer - Schmidt, Kree, Cesar – Reuter, Freund, Zorc, Möller - Ricken, Tanko.
0:1 Zorc (48.), 1:1 Sammer (75./Eigentor).

Tabelle 31. Spieltag 1994/95:

1. Werder Bremen65:31 Tore46:16 Punkte
2. Borussia Dortmund61:30 Tore44:18 Punkte
3. SC Freiburg63:42 Tore42:20 Punkte

Mit Blick auf die Tabelle und den vorhandenen dauerhaften Ausfällen von Chapuisat und Riedle wirkte der BVB und sein gesamtes Umfeld mehr als angeschlagen. Und der nächste Gegner sollte nunmehr kein geringerer als der Tabellenvierte aus Mönchengladbach sein, während Werder Bremen zu den im Mittelfeld der Liga dahindümpelnden Blauen reisen musste.

In diesen Tagen war es vor allem O.Hitzfeld, der keinerlei Ausreden zuließ und immer wieder darauf hinwies, dass auch mit dem damaligen „Jahrhunderttalent“ Lars Ricken und dem eher unbekannteren Ibrahim Tanko weiter die Chance auf die Meisterschaft vorhanden sei und man alles dafür geben wolle, dies noch zu erreichen.

Der 32. Spieltag

Der 32. Spieltag brachte dabei auch die Besonderheit, dass Werder Bremen bereits Samstagsnachmittag spielen musste, während das Spiel des BVB daheim gegen Mönchengladbach am Sonntagnachmittag gespielt werden sollte. Überall in meinem Umfeld herrschte die klare Ansicht, dass man also mit vier Punkten Rückstand (Bremen würde eher locker in Gelsenkirchen gewinnen) in das eigene Spiel gehen würde. Aber nun kam es zu einer weiteren Steigerung dieser bereits mehr als spektakulären Spielzeit. Der FC Schalke überrannte Werder Bremen nach allen Regeln dieser Spielkunst. Zweimal Stefan Kohn, Ingo Anderbrügge und Jiri Nemec schossen unsere verhassten Nachbarn mit 4:0 in Front und überall in Dortmund und bei jenen, die es mit dem BVB hielten, konnte man „Jubeltänze“ vor Premiere-Decodern oder der guten alten WDR2-Konferenz sehen. Es war ein fantastischer Sommertag und ich sehe mich noch im Garten meiner Eltern, jubelnd in ihren Armen und mit Freunden bis spät in den Abend „feiernd“, dass uns auf einmal diese kleine Tür zur Meisterschaft unerwartet wieder geöffnet wurde. Nun galt es, am kommenden Sonntag das Westfalenstadion in ein Tollhaus zu verwandeln und diese Chance gemeinsam mit der Mannschaft zu nutzen. Und so stand ich mit meinen Freunden im Block 13 auf der Südtribüne und schrie und feuerte an, was die Kräfte so hergaben. Aber Borussia Mönchengladbach dieser Tage war eine mehr als unangenehme Mannschaft und man merkte dem BVB an, dass er in diesem Spiel neben Chapuisat und Riedle auch noch den Lenker des Spiels, Andreas Möller, ersetzen musste.

Spielzeit 1994/95 - Kampf: Matthias Sammer mit blutender Wunde an der Augenbraue und blutverschmiertem Trikot im Hinspiel bei Bor. Mönchengladbach
© imago images / Uwe Kraft

Und so geriet man in der 49. Minute auch folgerichtig in Rückstand. Heiko Herrlich traf für die falsche Borussia und all die großen Hoffnungen und Freuden des Vortags schienen verraucht. Aber dies war einer jener Momente, wo ein Stadion eben zeigte, welch Kraft und Wechselwirkung es erzielen kann. Die Stimmung blieb oben, die Mannschaft wurde weiter angetrieben. Jedem war klar, dass hier eine von Verletzungen / Ausfällen gebeutelte Mannschaft auf der letzten Rille unterwegs war. Die Uhr lief unaufhaltsam voran und es schien erneut klar: Nun wird es verdammt eng.

Dann traf Freund. Mit diesem legendären, aber unter den wichtigen BVB-Toren der Historie nicht immer genannten Ferngewaltschuss mitten aufs Tor der Gladbacher. Freund schien nach diesem Tor geradezu zu platzen. Das Stadion flog auseinander. Es sollte kein Sieg werden, aber es wurde ein Meilenstein auf dem Weg zu dem, was am Ende der Spielzeit stehen sollte.

Aufstellung
Klos - Sammer - Schmidt, Cesar, Reuter – Reinhardt, Freund, Zorc, Tretschok – Ricken, Tanko.
0:1 Herrlich (49.), 1:1 Freund (72.)

Tabelle 32. Spieltag 1994/95:

1. Werder Bremen67:35 Tore46:18 Punkte
2. Borussia Dortmund62:31 Tore45:19 Punkte
3. SC Freiburg63:43 Tore42:22 Punkte

Der 33. Spieltag

Die Situation war nun wieder so wie nach dem 28. Spieltag. Der BVB hatte einen Punkt Rückstand auf Werder Bremen. Nunmehr mussten die beiden letzten Spieltage eine Entscheidung bringen. Während Werder Bremen gegen den damals immer zu allem fähigen Karlsruher SC daheim spielen musste, führte die Reise des BVB am 33. Spieltag erneut zu einem Reviernachbarn. Zum quasi schon abgestiegenen MSV Duisburg (mit Co-Trainer Seppo Eichkorn). Jenem Ort, wo ich 1992 heulend auf den Tribünenstufen saß und einer Meisterschaftschance nachtrauerte, die ich nie mehr wieder kommen sah. Also ausgerechnet Duisburg. Während ich 1992 noch ohne eigene Karte in das Stadion gelangt war, was damals immer mal wieder möglich war, hatte ich für dieses Spiel ganz einfach – trotz der großen Euphorie und Nachfrage – regulär Karten für den Auswärtsblock erwerben können. Und es sollte einer jener Tage werden, die für immer in meinem Gedächtnis eingebrannt sein werden und mir für alle Zeiten gelehrt haben, dass im Fußball immer alles möglich ist und es „erst vorbei ist, wenn es vorbei ist“.

Im Einzelnen war die Ausgangslage klar. Verliert der BVB und gewinnt Werder Bremen zeitgleich sein Spiel, ist die Meisterschaft entschieden. Im Falle eines Unentschieden, bei einem Sieg von Werder Bremen, wäre noch eine Chance vorhanden, wenngleich eher kleineren Formats. Angesichts des Gegners fuhren damals aber tausende Dortmunder Fans gen Duisburg und waren mehr als guter Hoffnung. Insbesondere auch, dass W. Schäfers Karlsruher in Bremen schon etwas mitnehmen würden.

Im Einzelnen war die Ausgangslage klar. Verliert der BVB und gewinnt Werder Bremen zeitgleich sein Spiel, ist die Meisterschaft entschieden. Im Falle eines Unentschieden, bei einem Sieg von Werder Bremen, wäre noch eine Chance vorhanden, wenngleich eher kleineren Formats. Angesichts des Gegners fuhren damals aber tausende Dortmunder Fans gen Duisburg und waren mehr als guter Hoffnung. Insbesondere auch, dass W. Schäfers Karlsruher in Bremen schon etwas mitnehmen würden.

Anpfiff 1. Halbzeit.

Und bereits nach wenigen Minuten (drei waren es) dringt via unzähliger Radios im Block die Information durch, dass Marios Basler Werder Bremen in Führung geschossen hat. Aber der BVB spielte durchaus gut, wenn auch nicht wirklich zielführend. Noch war also nichts passiert. Doch in Minute 20 passiert es dann. Ferenc Schmidt erzielte, inzwischen nicht ganz unverdient, für den MSV Duisburg das 1:0. In dieser Minute ist Werder Bremen Deutscher Meister und ich sah mich schon wieder weinend auf den Stufen des Wedaustadions sitzen. Und als ob dies nicht reicht, höre ich auf meinem mitgebrachten Radio fünf Minuten später, dass Winnie Schäfers Karlsruher diesmal wohl nichts entgegenhalten würden. Marco Bode erzielte das 2:0 für Werder Bremen.

Halbzeit.

Ich habe diese Halbzeit als gespenstisch in Erinnerung. Auf den Rängen wurde damals ja noch viel mehr Alkohol getrunken, als es heute der Fall wäre. Jedenfalls habe ich es so in Erinnerung. Ich jedenfalls saß auf den Stufen der Tribüne, trank mein Bier und blickte einfach völlig ausgebrannt auf den Platz. Und um mich herum taten es viele gleich. Es war schlicht Ruhe um mich herum und keiner redete oder schimpfte.

Anpfiff 2. Halbzeit

Diese Agonie im Block blieb in meiner Erinnerung dann auch beim Anpfiff der 2. Halbzeit. Der Glaube, es vielleicht doch noch zu schaffen, nach 32 Jahren diese Meisterschaft zu holen, obwohl Chapuisat und Riedle ausfielen, obwohl die Rückrunde sportlich mehr als schleppend gestaltete wurde, war weg. Und genau in diesen Moment hinein kam der absolute Tiefschlag. Thomas Puschmann erzielte für den MSV Duisburg das 2:0 in der 51. Minute. Die ersten BVB-Fans verließen da den Block, tief getroffen. Später am Tag sah ich Bilder aus Bremen, wie dort das Stadion ausrastete, die Spieler auf dem Platz sich freuten, als jenes 2:0 bekannt gegeben wurde. Es war vorbei.

Doch keine 60 Sekunden später erzielt genau der, der immer für dieses „nie aufgeben“ stand und steht, das 2:1 für den BVB. Michael Zorc – in meinen Augen der größte Borusse der bisherigen Vereinsgeschichte. Jene, die schon am Gehen waren, kehrten noch einmal um und kamen in den Block zurück. Wie es Fans so zu eigen ist, nahm man diesen kleinen Funken Hoffnung auf und fing wieder an, die Mannschaft nach vorne zu peitschen. Und als ob ein Regisseur es sich ausgedacht hätte, half der berühmte „Euro-Eddy“ Edgar Schmitt ein wenig nach. Nur drei Minuten nach dem Anschlusstreffer für den BVB erzielte er den Anschluss für den KSC. Alle im Stadion befindlichen BVB-Fans waren sofort in Flammen versetzt und trieben den BVB an, als ob es ums eigene Leben gehen würde. Und die Dynamik war nicht mehr aufzuhalten. Keine zwei Minuten nach „Euro Eddys“ Starthilfe und fünf Minuten nach Zorcs Anschlusstreffer knallte Stefan Reuter den Ball ins Duisburger Tor. Der BVB war wieder da. Werder Bremen nun vorerst kein deutscher Meister mehr.

Spielzeit 1994/95 - Verbundenheit: Steffen Freund am Fanblock im Spiel gegen den MSV Duisburg
© imago images / Uwe Kraft

Danach beruhigte sich das Geschehen auf dem Platz wieder ein wenig, aber auf den Rängen war nun klar: „Deutscher Meister wird nur der BVB“ und alle waren binnen 30 Minuten reanimiert, beseelt davon, dass man nun mehr als gute Chancen hätte, doch noch deutscher Meister zu werden. Aber klar war auch, dass ein Sieg in Duisburg diesem Vorhaben dienlich wäre.

Und so kam es dann auch: Stefan Reuter schoss das 3:2, mit einem wundervollen Tor.

Es war unbeschreiblich, was sich danach abspielte. Jeder, der schon einmal irgendeinen für seinen Klub entscheidenden Moment in einem Stadion miterlebte, wird sich an dieser Stelle seine eigenen Bilder im Kopf malen und beschreiben können.

Aufstellung
Klos – Sammer – Schmidt, Cesar, Reuter - Tretschok, Freund, Zorc, Möller – Ricken, Tanko.
1:0 F.Schmidt (20.), 2:0 Puschmann (51.), 2:1 Zorc (52.), 2:2 Reuter (57.), 2:3 Reuter (78.).

Tabelle 33. Spieltag 1994/95:

1. Werder Bremen69:36 Tore48:18 Punkte
2. Borussia Dortmund65:33 Tore47:19 Punkte
3. SC Freiburg64:43 Tore44:22 Punkte

Der 34. Spieltag

Für den 34. Spieltag hatte derjenige, der sich diese Spielzeit erdacht hatte, eine weitere eigene Geschichte parat. Otto Rehagel, Trainer von Werder Bremen, hatte sich nach mehr als einem Jahrzehnt dazu entschlossen, am Ende dieser Spielzeit die Seiten zu wechseln und zum aus Bremer Sicht verhassten Rivalen nach München zu wechseln. Und ausgerechnet dies sollte der (Auswärts-)Gegner Werder Bremens für den letzten Spieltag sein. Der BVB hingegen hatte ein Heimspiel gegen einen Hamburger SV, der eine derart peinliche Spielzeit ablieferte (auf und neben dem Platz), dass selbst der Hauptsponsor schon vorm Ende der Saison freiwillig darauf verzichtete, weiter auf der Brust der Hanseaten zu prangen.

Im Lager der BVB-Fans waren sich viele einig. Das Heimspiel für den BVB wäre ganz klar nicht das Problem. Die Ausgangslage war einfach. Es sollte ein Sieg mit 2 Toren Differenz sein, dann würde ein Unentschieden der Bremer in München reichen. Aber man war sich auch einig, dass die Bayern München-Mannschaft der Spielzeit 94/95 (die am Ende 6ter werden sollte), für die es um nichts mehr ging am letzten Spieltag, wohl kaum ihrem künftigen Cheftrainer in die Meistersuppe spucken wollen würde. Kurzum, es herrschte zwar freudige Erwartung ob des eigenen Spiels, aber die Skepsis war schon groß, ob der FC Bayern München einem nun helfen würde.

Aber das Stadion war von Anfang da. Hitzfeld hatte klar gemacht, dass man zunächst einmal selbst alles tun müsse, was nötig sei, bevor man gen München blicken müsste. Sprich, das Spiel mit zwei Toren Vorsprung gewinnen und diese möglichst früh im Spiel erzeugt, um etwaigen Druck auf Werder Bremen auszuüben, selbst gewinnen zu müssen.

Und dann ging alles ganz schnell. Das Stadion brannte von der ersten Sekunde an (und im Übrigen schon weit vor Anpfiff des Spiels). Und bereits nach acht Minuten zeigte Andreas Möller, welch außergewöhnlicher Fußballer er war. Ein Freistoß wie ein Kunstwerk führte zum frenetisch gefeierten 1:0 für den BVB. Und da ahnte noch keiner, dass wenige Minuten später das Westfalenstadion in seinen Grundfesten wackeln würde. Als Christian Ziege in der 14. Minute das 1:0 für den FC Bayern erzielte, ist es nun der BVB, der deutscher Meister wäre. Diese Info sickerte, via unzähliger Radios, wie ein Lauffeuer in das Stadion hinein, bevor es dann alle Betonpfeiler wackeln ließ. Und der BVB legte nach. Spielt zwar nicht gut, aber der blutjunge Lars Ricken köpfte bereits in der 28. Minute das so wichtige 2:0 für den BVB. In diesem Moment würde auch ein Unentschieden in München reichen und der BVB wäre deutscher Meister.

Spielzeit 1994/95 - Extase: Julio Cesar, Michael Zorc und Martin Kree im Meisterjubel
© imago images / WEREK

Das Stadion ist in diesem Moment ein Tollhaus. Und die Mannschaft ist augenmerklich davon durchaus beeindruckt und gelähmt. Die Emotionalität dieser Minuten war durchaus wohl eine Last für all jene, die auf dem grünen Rasen umherliefen. Und Mario Basler schockte den BVB dann auch, erzielte in der 39. Minuten den Ausgleich in München. Aber dank der 2:0-Führung ist man noch immer Meister, denkt sich wohl jeder BVB Fan in diesen Sekunden. Und die allermeisten denken „Nun wird Werder das Ding drehen; es wäre zu schön gewesen“.

Doch noch während diese Ernüchterung sich langsam Raum greift im Kopf, man wie gebannt auf das Spielfeld blickt, die Mannschaft anfeuert, gleichzeitig ein Radio ans Ohr hält, sickert eine neue Information eben aus jenen Radios ins Stadion hinein. Alexander Zickler hatte direkt geantwortet, erzielte das 2:1 für den FC Bayern München in der 41. Minute. Heute weiß man, dass dies der abschließende „Genickbruch“ für Werder Bremen war.

Spielzeit 1994/95 - Gemeinsamkeit: Die Fans erobern den Platz
© imago images / Claus Bergmann

Als dann in der Minute 78 die Nachricht durchdrang, auch bis zu O.Hitzfeld auf der Trainerbank, dass A.Zickler soeben in München das 3:1 erzielt hatte, flossen auch beim „Gentleman“-Trainer noch während des Spiels die ersten Tränen. Auf den Tribünen sah ich Menschen heulend vor Glück auf den Stufen sitzen, alle fielen übereinander her, Pyro wurde gezündet, auf dem Platz jubelten die Spieler mit, die Dortmunder „Kreuzbänder“ Povlsen, Chapuisat, Riedle tanzten auf Krücken am Seitenrand. Die letzten zwölf Minuten waren ein einziger Rausch, eine einzige Ausnahmesituation, die sich dann direkt bei Anpfiff Bahn brach, indem die Fans das Spielfeld erstürmten und eine „Übergabe der Meisterschale“ und Feierlichkeit auf dem Platz erschufen, die nie jemand wird vergessen können, der damals mittendrin dabei war. 32 Jahre hatte es gedauert, eine verpasste Chance, in einer sensationellen und nicht zu erwartenden Saison 1991/92, gebraucht, damit Borussia Dortmund wieder Deutscher Meister wurde. 1995!

Aufstellung
Klos - Sammer – Schmidt, Cesar, Reuter – Tretschok, Freund, Zorc, Möller – Ricken, Tanko.
1:0 Möller (8.), 2:0 Ricken (28.)

Tabelle 34. Spieltag 1994/95:

1. Borussia Dortmund67:33 Tore49:19 Punkte
2. Werder Bremen70:39 Tore48:20 Punkte
3. SC Freiburg66:44 Tore46:22 Punkte

Es war das ekstatische Entladen einer Spielzeit, die für mich in puncto Spannung und Dramatik bis heute als BVB-Fan unerreicht geblieben ist. Und bis heute ein Sinnbild dafür, dass man nie aufgeben darf im Fußballsport. Auch nicht innerhalb eines Wettbewerbs. Egal wie die Situation erscheint, es bleibt bis zum Ende immer alles möglich. Und man muss die Chance selbst beim Schopfe packen und mutig voran gehen. Das tat Hitzfeld damals sehr und um ihn herum Spieler eines Kaders, die zwar viele Probleme zu bewältigen hatten, lange auch nicht so recht überzeugen konnten, aber doch immer wieder alles in die Waagschale warfen und am Ende belohnt wurden!

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