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Das Leid des Videoassistenten mit der Abseitsstellung

10.05.2019, 09:22 Uhr von:  Gastautor
Das Leid des Videoassistenten mit der Abseitsstellung

Viel wird über den VAR und seinen Einsatz diskutiert. Ein Punkt wird allerdings vorausgesetzt: die Entscheidung, ob ein Abseits beim Torerfolg vorliegt, oder nicht, wird durch den Einsatz des Videoassistenten mitsamt seinen kalibrierten Linie jetzt endlich wasserdicht. Der Journalist Marcus Bark äußert in einem Gastbeitrag daran jedoch begründete Zweifel.

Es ist wahrscheinlich, dass auch an den letzten beiden Spieltagen der Bundesligasaison wieder die Frage auftaucht, ob ein Handspiel nun absichtlich war, der Arm aktiv zum Ball geschwungen wurde oder es eine unnatürliche Armbewegung gab. Selbst wenn die Regeln für die kommende präzisiert worden sind, werden die Diskussionen bleiben, genau wie bei grobem Foulspiel und einer möglichen Tätlichkeit. Es gibt häufig kein Schwarz und Weiß, sondern ein Grau in vielen Tönen, und verschiedene Menschen nehmen die Töne verschieden wahr.

Als der deutsche Profifußball im Sommer 2017 den Videoassistenten in der Bundesliga einführte, sollte damit auch Franz Beckenbauer widerlegt werden, der mal süffisant sagte: „Abseits ist dann, wenn der Schiedsrichter pfeift.“

Mit Hilfe der Technik sollte zweifelsfrei erkannt werden, ob vor einem Tor eine strafbare Abseitsstellung vorlag. Die Technik versagte zunächst teilweise, denn es gab Schwierigkeiten mit der kalibrierten Linie. Vor der aktuellen Saison teilten Deutscher Fußball-Bund (DFB) und Deutsche Fußball Liga (DFL) stolz mit, dass die kalibrierte Abseitslinie endlich eingesetzt werde und „zusätzliche Sicherheit“ bei den Entscheidungen gebe, die über das Elementare des Fußballs bestimmen - Tor oder kein Tor.

Auf die Frage dieser Zeitung, ob es während der Saison technische Probleme mit kalibrierten Linien gab, antwortete Jochen Drees, Leiter des Bereichs Videoassistent beim DFB: „Nein.“

Das sieht jemand, der seit vielen Jahren an Fußballübertragungen mitwirkt, ganz anders. „Es gab und es gibt immer wieder Probleme, auch bei der Kalibrierung. Ich traue der Technik nicht über den Weg“, sagt der Mann, der aus Furcht um seinen Arbeitsplatz anonym bleiben möchte.

Ihm geht es aber weniger um die Linien, die beim Passempfänger gezogen werden. Viel größer ist die Skepsis, wenn es um den entscheidenden Moment geht, der über „offside“ oder „onside“ entscheidet. Vor der Saison gab es eine Präzisierung der Regeln. „Maßgebend ist der erste Kontakt beim Spielen oder Berühren des Balles“, heißt es nun ergänzend.

Es geht also um den Bruchteil einer Sekunde, der vom Videoassistenten unter Zeitdruck erkannt werden muss, obwohl keine der bis zu 15 Kameras den Ball so nah verfolgt, dass Fehler auszuschließen sind. Zudem, so der Insider, gebe es immer eine Bewegungsunschärfe, die es noch schwieriger mache, den exakten Moment zu erkennen.

Bei der aktuellen Übertragungstechnik hält es der Insider für unmöglich, die Vorgabe der Regeln umzusetzen. Er sagt: „Wir bräuchten eine Superzeitlupe mit dem Zehnfachen an Bildern von dem, was wir jetzt haben. Dann kriegen wir das hin.“

Das Zehnfache an Bildern hieße, dass es dann 250 statt der derzeit üblichen 25 Einzelbilder, in der Fachsprache „Frames“, geben müsste. Das würde erhebliche Mehrkosten für „Sportcast" bedeuten. Das Tochterunternehmen der DFL produziert die Bilder. Auch die Videoassistenten in Köln und die Schiedsrichter in den Stadien werden damit bedient.

Wenn sie ihre Entscheidung treffen müssen, geht es häufig um wenige Zentimeter an der kalibrierten Linie, die beim Angreifer gezogen wurde. Welche Auswirkungen es hat, den regeltechnischen relevanten Moment beim Abspiel auch nur einen Frame zu verpassen, zeigen folgende Rechnungen. Bewegt sich ein Angreifer mit nur 20 Stundenkilometern vorwärts, legt er im fünfundzwanzigsten Teil einer Sekunde etwa 22 Zentimeter zurück. Sprintet er mit den für Bundesligaprofis üblichen 30 Stundenkilometern, sind es schon 33 Zentimeter pro Frame. Das ist schon sehr viel, wenn ein Abwehrspieler in die entgegengesetzte Richtung läuft, vergrößert sich die Distanz noch. „Die Tatsache, dass eine ungenaue Handhabung der Abseitslinien bei Athleten im Vollsprint zu verfälschten Ergebnissen führen kann, ist uns bewusst und wird jedem Videoassistenten beim Training in Erinnerung gerufen“, sagte Jochen Drees der Sport-Bild und gab damit zu, dass die Technik ihre Grenzen hat, weil sie von Menschen bedient wird. Im Gespräch beharrte er darauf, dass alles perfekt laufe. Die Frage, ob er sicher sei, dass stets exakt der „erste Kontakt beim Spielen“ vom Videoassistenten getroffen werde, antwortete Drees: „Ja, das Prozedere der Identifikation des exakten Zeitpunkts wird regelmäßig trainiert und überprüft.“

Marcus Bark (freier Journalist)
Der Beitrag ist eine redigierte Version eines Anfang März 2019 erschienenen Textes.

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