Der "Deutschtürke", das Foto und der ganze Rest
Am gestrigen Sonntag ging die Bombe hoch: Mesut Özil hat sich nach Wochen des Schweigens in einem inszenierten Dreiteiler via Social Media zu seinem Foto mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan geäußert – und dem, was darauf folgte. Ein Kommentar.
Vorweg: Ja, man kann und sollte kritisieren,
dass Mesut Özil sich vollkommen kritiklos dafür hergab, ein Foto mit
einem Staatschef zu machen, der einen zwei Jahre andauernden und
vermeintlich beendeten Ausnahmezustand in der Türkei dazu nutzte,
kritische und weltliche Kräfte rigoros und aufgrund hanebüchener
Argumente aus dem Weg zu schaffen. Mehr als 170.000 Menschen wurden aus
ihren Jobs entlassen, mehr als 140.000 Menschen verhaftet, über 6.000
Akademiker haben bei der Schließung von 3.000 Schulen und Universitäten
ihre Arbeit verloren, weit über 4.000 Richter und Ermittler wurden ihrer
Ämter enthoben und fast 200 Medienunternehmen wurden geschlossen – seit
Juli 2016. Indem Mesut Özil, genau so wie Ex-Borusse İlkay Gündoğan,
sich mit Erdoğan ablichten ließ, ließ er sich vor dessen Karren spannen
und trug, wenn auch ohne wirklich Partei zu ergreifen, dazu bei, dass
die Politik des AKP-Vorsitzenden legitimiert wird.
In seiner ersten Stellungnahme vom Sonntag begründet Özil dies einzig und allein mit der Position Erdoğans als Staatschef der Heimat seiner Mutter und gibt an, dass er dieses Foto auch mit jedem anderen türkischen Staatsoberhaupt gemacht hätte. Diese unkritische Haltung gegenüber der Handlungen des Präsidenten ist kritikwürdig – sie ist aber auch nachvollziehbar. So wie Özil sich bei einer Benefizveranstaltung in London mit dem AKP-Vorsitzenden ablichten ließ, lassen sich regelmäßig Menschen mit Trägern von Amt und Würden fotografieren, ohne zwangsläufig deren Meinungen oder Werte zu vertreten – egal ob mit dem Papst, einem Musiker oder einem Staatsoberhaupt. Das legitimiert das Verhalten Özils an dieser Stelle nicht, zeigt aber zumindest, dass er mit dem Foto keinerlei politisches Statement abgeben und einfach nur höflich sein wollte.
So weit so schlecht. Wäre Özils Stellungnahme an dieser Stelle beendet gewesen, wäre sie als das übliche Blabla und Wischiwaschi eines stromlinienförmigen Berufsfußballers abgeheftet worden, das der vielgescholtenen Körpersprache des gebürtigen Gelsenkircheners im Mangel an Haltung in nichts nachgestanden hätte. Doch es sollte anders kommen.
Im zweiten Teil wird Özils Stellungnahme gehaltvoll. Auch wenn seine Kritik an den Sponsoren der Nationalmannschaft selbstgefällig ist und am Ziel vorbei geht, ist seine Kritik an gewissen deutschen Medienerzeugnissen berechtigt. Die Doppelmoral, die ihm als türkischstämmigen Deutschen entgegenschwingt, ist mit den Händen zu greifen. Dass Özil aufgrund dieses Fotos teilweise als Alleinschuldiger für das Ausscheiden der Nationalmannschaft dargestellt wird, dass die Beurteilung Özils Leistungen in den Spielen vollkommen von diesem Foto überschattet wurde, dass man einem popeligen Bild die Spaltung eines Spielerkaders zutraut, der vier Jahre zuvor als erste europäische Nationalmannschaft überhaupt eine Weltmeisterschaft auf südamerikanischem Boden gewinnen konnte – all das kritisiert Özil an dieser Stelle zurecht. Um eine Frage zu beantworten, die er in dieser Stellungnahme aufwarf: Ja, ganz augenscheinlich macht ihn seine Herkunft zu einem willkommeneren Ziel der Kritik als andere Spieler dieser Mannschaft.
Wirklich explosiv und gut wird der Dreiteiler allerdings erst im Finale. Hier attestiert Özil dem amtierenden DFB-Präsidenten Reinhard Grindel Inkompetenz und wirft ihm und Anderen – Spoiler: zurecht – blanken Rassismus vor. Özil beklagt die mangelnde Rückendeckung, als er von deutschen Politikern und Fans im Stadion aufs Übelste rassistisch beleidigt wurde und zeigt Millionen von Menschen auf, welch Geistes Kind Reinhard Grindel schon zu Zeiten seiner politischen Karriere war, als er zum Beispiel 2004 „Multikulti ist in Wahrheit Kuddelmuddel“ verkündete – und bis heute ist. Abschließend erklärt er, das Trikot der Nationalmannschaft nicht mehr tragen zu wollen, solang er sich Respektlosigkeit und Rassismus aus der Öffentlichkeit und dem Verband ausgesetzt fühlt.
Man muss sich noch einmal auf der Zunge zergehen lassen: Ein deutscher Nationalspieler, geboren und aufgewachsen im Ruhrgebiet, in den letzten sieben Jahren fünf mal von den Fans zum beliebtesten Nationalspieler gewählt, tritt vorübergehend aus der Nationalmannschaft zurück, da er den Rassismus nicht mehr erträgt, der ihm öffentlich entgegenschlägt. Im Jahr 2018. Das ist die Kernaussage von Özils Stellungnahme, die treffend mit „Rassismus sollte niemals akzeptiert werden“ schließt.
Bezeichnend und entlarvend waren viele Medienreaktionen auf Özils Stellungnahme. Während die meisten Überschriften den Rücktritt in direkten Zusammenhang mit dem Erdoğan-Foto statt mit den rassistischen Folgen daraus setzen und somit vollkommen an Özils Argumenten vorbeigehen, schießt der inoffizielle deutsche Breitbart-Ableger mit den vier großen Buchstaben den Vogel vollkommen ab. Getoppt wird er allerdings noch von Ulrich Hoeneß, Präsident des FC Bayern München e.V. und zu 36 Monaten Haft verurteilter Straftäter, der den deutschen Staat um fast 30 Millionen Euro betrügen wollte, welcher am heutigen Montag seine Freude über Özils Rücktritt äußerte, an der Existenz von 35 Millionen Menschen zweifelte und die sportlichen Leistungen des Gelsenkircheners ins Zentrum der Kritik rückte, statt mit nur einer Silbe auf den berechtigten Rassismusvorwurf Özils einzugehen. Dass Thomas Müller in der Nationalmannschaft seit der WM 2014 noch deutlich schlechter spielte als Mesut Özil, lassen wir an dieser Stelle einfach mal unter den Tisch fallen...
Ja, das Foto, das Mesut Özil mit Recep Tayyip Erdoğan machen ließ war ein Fehler. Ja, seine Erklärung dafür ist genau so dünn und unüberzeugend, wie man sie für einen glatten Fußballprofi im Jahr 2018 erwartet hätte. Aber viel wichtiger ist, dass Mesut Özil vollkommen berechtigt anspricht, dass dieses Land, diese Gesellschaft und der DFB ein massives Problem mit Rassismus haben.
Das Signal, das Özil mit seinem Rücktritt auf Zeit setzt, ist verheerend – vor allem für alle Menschen hierzulande, die selbst eingewandert sind oder einen Migrationshintergrund haben. Egal wie sehr sie sich bemühen, wie hart sie arbeiten, wie gut sie sich integrieren, sie werden immer Einwanderer bleiben – Ist das wirklich das Bild, das wir von unserer Gesellschaft zeichnen wollen? Wollen wir Menschen tatsächlich aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Glaubens oder des Geburtslands ihrer Eltern beurteilen, statt aufgrund ihrer Handlungen, Leistungen und Werte? Wollen wir die großartigen integrativen Effekte verpuffen lassen, die der Fußball haben kann und stattdessen einen Nationalverband hegen, der die Schuld lieber abwälzt statt sich schützend vor seine Spieler zu stellen?
Es gab genug positive Beispiele bei dieser Weltmeisterschaft. Egal ob es die Schweden waren, die sich nach rassistischen Angriffen gegen einen Mitspieler geschlossen vor ihn stellten (Wo waren eigentlich die Solidaritätsbekundungen von Özils Teamkollegen?) oder die Franzosen, deren Motto „Unsere Unterschiede vereinen uns!“ in jedes Trikot eingedruckt war und sie letztlich zum Titel getragen hat. Dass der DFB unter der Leitung von Reinhard Grindel keinem dieser Beispiele folgte und Özil stattdessen zum Sündenbock machte, ist dieser großartigen Nation, ihrer bewegten Geschichte und dem Fußballsport selbst einfach nicht würdig.
#Grindelmussweg – Rassismus sollte niemals akzeptiert werden.