Keine Sperenzchen in Lotte-Osnabrück
"Ich sehe den Spielort Osnabrück nicht zwingend als Vorteil für uns an", teilte Thomas Tuchel am Montag mit. Ob der BVB-Trainer dabei an die Schreckensbilanz seines Arbeitgebers im Stadion an der Bremer Brück dachte? Zweimal durfte der BVB in seiner langen Vereinsgeschichte im DFB-Pokal bislang an der Bremer Brücke spielen. Beide Male schied er als Bundesligist gegen den gastgebenden Drittligisten aus.
Nun hieß der Gegner 1976 wie 2009 VfL Osnabrück und nicht wie eben 2017 Sportfreunde Lotte. Gewarnt sein müssen Tuchel, seine Mannschaft und wir Fans aber dennoch.
Denn natürlich ließ es sich Borussia im Vorfeld des Viertelfinal-Nachholspiels nicht nehmen, uns alle wieder etwas auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen. Nach vier Pflichtspielsiegen in Folge und dem Erreichen des Champions League-Viertelfinals drohte in dieser Spielzeit tatsächlich nochmal sowas wie Euphorie in der Bierhauptstadt aufzukommen. Die Spieler riefen ihr Potenzial ab, zeigten Spielfreude und schossen Trainer Thomas Tuchel aus der Schusslinie. Der reagierte prompt und rotierte - wie es wohl ob der Belastungssteuerung im heutigen Profifußball nötig ist - gegen das heimstärkste Team der Liga ordentlich durch. Wie so häufig in dieser Saison folgte, was folgen musste: Eine 1:2-Niederlage bei Hertha BSC am Samstag und obendrein die verpasste Möglichkeit, den Brausedosen aus Leipzig weiter auf die Pelle zu rücken. Kurzum: Euphorie adé, Lotte hallo.
Zuschauermagnet Sportfreunde Lotte
Die Sportfreunde hingegen konnten sich ihre Euphorie bewahren und schossen seit der kurzfristigen Pokalspiel-Verlegung hintereinander den Chemnitzer FC (3:0) und zuletzt Hansa Rostock (2:0) vom eigenen Kartoffelacker. Euphorie definiert man in Ostwestfalen übrigens durch einen wahren Zuschauerboom: 1300 Fans bevölkerten die Tribünen des legendären Frimo-Stadions gegen Chemnitz, dank der mitgereisten Hansa-Fans wurde dieser Wert am Samstag nahezu verdreifacht; 3600 Schlachtenbummler sorgten für den zweitbesten Heimbesuch des Jahres. Wie viele Sportfreunde da noch die Reise ins 20 Kilometer entfernte Osnabrück antreten, bleibt abzuwarten. Zumindest Lottes Vereinschef Hans-Ulrich Saatkamp ist sich aber sicher: „Wir werden in Osnabrück ein blau-weißes Stadion erleben.“ Auf Dortmunder Seite wurden - nach allerlei Ticket-Hickhack im Vorfeld des eigentlich geplanten Spiels in Lotte - noch kurzer Hand zusätzliche Tickets verkauft. Und so dürfen sich nun rund 2000 Schwatzgelbe in den Dienstagnachmittag-Stau auf die A1 stellen, um ihr Team am Abend zu unterstützen.
Atmosphärisch wird es also ein Dortmunder Heimspiel. Doch die kaum wahrnehmbare SFL-Begeisterung soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass uns sportlich ein äußerst unangenehmer Gegner erwartet. Vielleicht auch ob der eigenen Zuschauersituation vermag es das Team von Trainer Ismail Atalan mit gegnerischen Kulissen umzugehen und stellt aktuell die zweitbeste Auswärts- genauso wie die zweitbeste Offensivbilanz der Liga. Überhaupt spielt der Aufsteiger eine überragende Saison und steht trotz eines Spiels weniger auf Relegationsrang drei. „Was wir hier erschaffen haben, dieser Zusammenhalt, dieser Glaube - das ist nicht alltäglich. Mit dieser Mentalität können wir jedes Spiel gewinnen“, beschreibt Atalan die Stärke seiner Mannschaft.
Der optimale Gegner für eine Pokalsensation
Großes Selbstbewusstsein, viel Leidenschaft und eine gehörige Portion Torgefahr - klingt wie die optimale Außenseiter-Position für ein Pokalspiel gegen Borussia Dortmund. Schließlich präsentieren sich unsere Jungs mit beachtlicher Konstanz immer dann lustlos und spielschwach, wenn ein jeder von einem lockeren Sieg ausgeht. Darmstadt oder Mainz in der aktuellen Rückserie lassen grüßen. Und dass 39 Drittliga-Tore durchaus für den ein oder anderen Treffer gegen die Dortmunder Wackeldefensive gut sein können, wird auch Thomas Tuchel bewusst sein. Der kündigte schon mal an, die bislang in Pokalspielen gepflegte Tradition des Torwartwechsels in Frage zu stellen. Gut möglich also, dass statt Roman Weidenfeller am Dienstagabend Stammtorwart Roman Bürki in Osnabrück aufläuft. Zumal Abwehrchef Sokratis nach seiner Gelb-Roten Karte im Achtelfinale gegen Hertha BSC fehlt und auch Julian Weigl wegen einer Überlastung mit muskulären Problemen auszufallen droht.
Nicht die besten Voraussetzungen für grundsätzlich pessimistische Fans wie mich. Doch gibt es natürlich auch genügend positive Vorzeichen, um an einen Sieg gegen die Sportfreunde zu glauben. Das vierte Halbfinale in Serie, noch dazu ein Duell mit dem FC Bayern, sollte als Anreiz reichen. Darüber hinaus scheint die Zeit der Pokalsensationen mit BVB-Beteiligung vorbei, die letzten fünf Spiele gegen Drittligisten gingen nach Dortmund. Und vielleicht am wichtigsten: Thomas Tuchel verzichtete im Vorfeld auf das böse Wort "Rotation". Bleibt also zu hoffen, dass der BVB am Dienstag auf alle etwaigen Sperenzchen verzichtet und wir weiter von der Fahrt nach "Berlin, Berlin" träumen dürfen.