Unsa Senf

Das Schweigen der Lemminge

04.04.2017, 10:44 Uhr von:  Nadja
Das Schweigen der Lemminge
Dauergesang ist bei den Amateuren seit Jahren Standard.

Länderspielpause, Rote Erde, 6.000 Zuschauer. Das Spitzenspiel in der Regionalliga West, die Amateure können mit einem (hohen) Sieg Tabellenführer werden. Dann passiert Torwart Hendrik Bonman ein schlimmer Fehler. Einer dieser Fehler, bei denen man am liebsten im Boden versinken möchte. Ausgerechnet Bonmann, der Liebling der Fans, der Anti-Götze, der Großkreutz in intelligent. Er könnte alle Hilfe gebrauchen in dem Moment, von den Fans, von seinen Fans, aber das Stadion tut NICHTS.

Diese Situation ist in gewisser Weise ein Spiegel von genau diesen Dingen, die meiner Meinung nach auch im Westfalenstadion schon längere Zeit stimmungstechnisch schief laufen und bei den Amas – teilweise auch aufgrund der besonderen Situation – schon jahrelang festgefahren sind.

Teil 1: die Ultras und der nicht spielbezogene Dauersingsang

In der oben beschriebenen Situation haben die Ultras getan, was sie immer tun. Sie haben weitergesungen. Keine Reaktion auf das Gegentor, kein kurzes Innehalten, kein Unterbrechen und kein lauter werden. Vor allem aber kein „Heeeeeendrik Bonmann!“ oder „Wir sind alle Dortmunder Jungs!“.

Der Dauersingsang, der in der Roten Erde seit Jahren völlig spielunabhängig vor sich hin gesungen wird, wird auch im Westfalenstadion immer häufiger durchgezogen. „90 Minuten Vollgas“ nennen das die Ultras. Blöd nur, dass der menschliche Körper nicht dazu gemacht ist, über so eine lange Zeitspanne 100% oder mehr abzurufen. Fußballer machen Pausen auf dem Platz, bevor sie zum nächsten Sprint ansetzen, genauso wie andere Sportler. Marathonläufer hingegen teilen sich ihre Kräfte ein und geben nicht 42km lang „Vollgas“. Das von Fußballfans zu verlangen, führt dann dazu, dass es statt 90 Minuten Vollgas eben 90 Minuten Singsang werden.

Fakt ist auch, dass man ohne irgendeine Spielabhängigkeit die Ultras ersetzen könnte durch eine Tonbandaufnahme und ein paar Schwenkfahnenroboter.

In Dortmund sind Dinge verloren gegangen, die vor nicht allzu langer Zeit noch fester Bestandteil des Fanseins waren. Ironische, spontane Lieder zum Beispiel („Nelson Valdez, lieber Nelson Valdez, schieß uns bitte in die Championsleague!“) oder Gesänge vor dem Spiel für verdiente Spieler. Marc-André Kruska hatte sein eigenes Lied! Heute hat noch nicht mal mehr Marcel Schmelzer eins.

Verloren ist auch größtenteils die Welle vor einem Eckball, „Borussia!“-Rufe nach einer Großchance oder einfach ein lautes „Jaaaaaa!“ nach einem Tor. Ein „steh auf du Sau!“ zu einem verletzten Gegenspieler oder das Rufen des Namens für den eigenen verletzten Spieler.

Alles ersetzt durch 90 Minuten „Vollgas“. Dauersingsang.

Dazu wird durch die Vorsänger oft nicht mehr nur einfach ein Lied angestimmt, sondern dem Publikum bis ins Detail vorgegeben, was zu tun ist: „Hände nach oben!“, „Alle einhaken!“, „Lauter!“. Dass man für ein schönes Bild vielleicht mal alle zum hinsetzen/Hände hochhalten/Schals hochhalten auffordert, ist völlig logisch, aber nicht 25x pro Spiel für nur einen weiteren Singsang. Es nimmt den Leuten die Motivation mitzumachen, wenn man die ganze Zeit nur noch „Vorschriften“ hört.

Fahnenmeer auf der Süd

Mein Vorschlag wäre daher:

1. Einer der Vorsänger schaut konsequent das Spiel, geht auf Situationen auf dem Platz ein, informiert den zweiten Vorsänger in solchen Situationen das Lied zu unterbrechen oder ein Passenderes anzustimmen. Auch ein „Fahnen runter“ sollte in solchen Momenten dazu gehören.

2. Spieler, die sich um die Borussia verdient gemacht haben, sollten wieder öfter gefeiert werden, vor, während und vielleicht auch nach dem Spiel. Nicht immer, nicht für alles, aber zumindest in gewissen Momenten. Einen Pulisic könnte das unter Umständen motivieren hier zu bleiben. Und im schlimmsten Fall hätte man irgendwann vielleicht für einen gesungen, der zum zweiten Götze wird, ok. Aber wiegt das verhindern dieser potentiellen Frustration auf gegen zahlreiche schöne Momente mit anderen Spielern und das verdiente Lob für einzelne echte Borussen?

3. Die Intensität des Gesangs sollte sich dem Spiel anpassen und variieren. Wenn man 50% des Spiels mit 70% oder 80% Intensität bestreitet, ist es viel einfacher, die 100% von der Tribüne zu bekommen, wenn die Situation es erfordert. Man sollte sich selbst Pausen oder leise Momente eingestehen, gerade in Spielen die von sich aus wenig Aufregungspotential bieten. Vielleicht könnte in einem solchen Moment dann sogar mal wieder ein spontanes Lied entstehen… Und wenn dann nach einer ruhigen Phase „Arme! Arme! Arme!“ kommt, dann wird die Tribüne wissen, dass es jetzt wieder so richtig los geht und nicht gleich „Seht wie die Kurve tohohohohohobt“ kommt.

Teil 2: die Normalos und die völlige Selbst-Entmündigung der Tribüne

Viel schlimmer als der Singsang der Ultras nach dem Gegentor in der Roten Erde war aber eigentlich, dass da gut und gerne 4.000 Leute gespannt gewartet haben, dass die Ultras ein Lied für Bonmann anstimmen. Und als nichts kam, haben sie geschwiegen. Man kann natürlich sagen, dass die meisten Normalos bei den Amas nicht in dem Maße mitfiebern, wie bei den Profis und die Rote Erde eher ein netter Samstagsausflug mit den Kindern oder eine Entschuldigung zum Saufen ist. Aber auch im Westfalenstadion gibt es immer größere Gruppen, die immer länger einfach schweigen.

Ohne die Ultras ist es fast unmöglich geworden, Stimmung zu erzeugen. Dafür war das vergangene Derby nur ein weiterer Beweis in einer großen Reihe von solchen Beispielen. Die Leute regen sich aus den oben genannten Gründen über die Ultras auf und haben auch größtenteils recht damit. Etwas dagegen tun sie jedoch nicht. Weder sprechen sie die Ultras darauf an, noch versuchen sie in irgendeiner Weise mit eigenen Gesängen oder ähnlichem gegen den Singsang anzugehen.

Jeder von uns hat eine Stimme. Bevor die Ultras kamen, hat es das Westfalenstadion prima hinbekommen, selbst Gesänge zu entwickeln, zu transportieren und in einer großen Lautstärke zu singen. Wir haben uns von den Ultras aber entmündigen lassen. Heute warten wir in Abwesenheit oder Untätigkeit der Ultras darauf, bis jemand sich dazu bereit erklärt, den Vorsänger zu mimen.

Im schlimmsten Fall ist das dann irgendein Troll, der sich auf dem Zaun wichtig macht, ohne auch nur ein Lied zu kennen. Oder es kommt in der 60. Minute gegen Mainz beim Stand von 1:1 ein „Scheisse 04“ in dem alle einstimmen, weil es sich herrlich mitgrölen lässt, auch wenn es überhaupt keinen Sinn macht.

Stimmung ohne Ultras - nicht nur im letzten Derby Fehlanzeige
Wer hat uns gesagt, dass wir nicht selbst etwas singen können?


Wer hat bestimmt, dass wir warten müssen, bis sich jemand bereit erklärt, uns vorzugeben was wir tun sollen?

Wer hat uns verboten, mit ein paar Leuten zusammen etwas anzufangen, vielleicht im Umfeld sogar dafür zu werben, bevor man beginnt zu singen?

Und wer hat uns daran gehindert, in der Roten Erde ein „Dortmunder Jungs“ anzustimmen, als die Ultras das nicht getan haben?

Die Südtribüne hat 25.000 Stimmen. Das Westfalenstadion hat über 80.000 Stimmen. Die Ultras sind ein kleiner Bruchteil davon. Wenn wir nicht einverstanden sind damit, was sie singen, dann müssen wir es ihnen deutlich machen. Mit unseren Liedern. Oder wir müssen mitsingen.

Denn das Schweigen des Rests ist viel schlimmer, als jeder Ultra Singsang es jemals sein könnte.

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