Die Hoffnung auf das blaue Wunder
Warm-Up
Wer sich in der letzten Woche die relevanten Fußballmedien des Landes zu Gemüte führte, konnte leicht den Eindruck bekommen, Borussia Dortmund stünde kurz vor der unausweichlichen Apokalypse. In der Tat: Sportlich läuft es im Moment, milde gesagt, mal überhaupt nicht. Eins der letzten acht Pflichtspiele gewonnen, in der Bundesliga seit fünf Spielen ohne Sieg. In der Champions League abgeschlagen auf Platz drei, mit fünf Zählern Rückstand auf die im Westfalenstadion gastierenden Londoner von Tottenham. Umso mehr war es an der Zeit, die allerletzte Chance auf einen halbwegs ordentlichen Ausgang der CL-Gruppenphase zu sichern. Der erste Heimsieg im Europapokal sollte her - alleine schon, um mit einem besseren Gefühl in das am Wochenende auf so vielen Ebenen wichtige Derby gegen die Blauen zu gehen.
Taktik & Personal
Peter Bosz veränderte die erste Elf im Vergleich zum schwachen Auftritt in Stuttgart auf mehreren Positionen. Zagadou, Guerreiro und Aubameyang starteten für Sokratis, Philipp und Schürrle. Bei den Gästen aus Tottenham nahm Mauricio Pochettino im Vergleich zur 0:2-Niederlage vom
Wochenende gegen Arsenal vier Änderungen vor. Aurier, Winks, Rose und Son verdrängten Trippier, Sissoko, Davies und Dembélé allesamt auf die Bank. In der Offensive fuhren die Nord-Londoner (leider) die volle Kapelle auf: Son, Eriksen, Alli und Kane - auf die ohnehin wackelige Defensive des BVB kam ein unangenehmer Stresstest zu.
Erste Hälfte
Das ausverkaufte Westfalenstadion sah in den ersten Augenblicken und Phasen der Partie ein ausgeglichenes Spiel auf Augenhöhe. Die Gäste zwar das aktivere Team, hoch verteidigend und Druck ausübend, die Borussia wirkte jedoch defensiv stabil und vor allem konzentrierter als in den Spielen zuvor. Nach einer knappen Viertelstunde agierten beide Teams noch ohne richtiges Tempo und Überraschungsmomente, versuchten kein allzu großes Risiko einzugehen. Im Anschluss hatte Yarmolenko plötzlich einen genialen Impuls, chippte den Ball über die englische Abwehrreihe und in den Lauf zu Auba. Der kürzlich suspendierte Gabuner vergab völlig frei vor Lloris die große Chance auf die Führung mit einem zu lässigen Schuss rechts am Kasten vorbei.
Mit dem ersten Durchbruch der Spurs schickte Rose Aurier mit einem langen Ball auf rechts, seine Hereingabe konnte Son in der Mitte nicht richtig verarbeiten. Der erste halbwegs gefährliche offensive Ansatz der Nord-Londoner im Strafraum der Dortmunder. Mitten in die aktivste Phase der Spurs fiel die erlösende Führung für den BVB und wie konnte es anders sein: Aubameyang nagelte den Ball nach überragender Vorarbeit von Yarmolenko humorlos in die Maschen von Hugo Lloris zum 1:0. Der eher verhaltene Jubel im Anschluss ließ sicherlich reichlich Platz für Spekulationen.
Dortmund belohnte sich selbst für eine bis dato defensiv konzentrierte und im Vergleich zu den letzten Partien deutlich verbesserte Leistung. Kurz vor dem Halbzeitpfiff kam jedoch Tottenham zur ersten richtig dicken Chance: Rose flankte in die Mitte und der dänische Nationalheld Eriksen kam völlig blank zum Abschluss. Der zuletzt so hart kritisierte Bürki parierte stark und verhinderte den Ausgleichstreffer. Direkt im Anschluss konnte sich der Schweizer Schlussmann erneut überragend auszeichnen: Nach einer Ecke kam Dier zum Kopfball und Roman fischte die Kugel bockstark aus dem Eck. So brachte man die Führung über die Zeit und ging nicht unverdient mit einem Tor Vorsprung in die Kabine.
Zweite Hälfte
Spielabschnitt zwei begann auf beiden Seiten ohne personelle Veränderungen. Und auch sonst schien alles wieder wie zuletzt unverändert: Die Freude über die Führung währte bei Schwarz-Gelb nicht lange. Toljan verlor katastrophal den Ball auf rechts, Alli brachte den Ball zu Kane, Zagadou und Bartra kamen nicht in den Zweikampf: 1:1. Absolut ungünstiger Zeitpunkt, für die Borussia ging es nach diesem Rückschlag wieder abwärts. Tottenham agierte mit zunehmender Spieldauer immer souveräner und gefährlicher, wurde vom BVB defensiv kaum zwingend gefordert. Die Borussia fand keine wirklichen Räume, die Engländer machten gut dicht und lauerten überwiegend auf Kontermöglichkeiten. Der auch heute erneut schwache Bartra erlebte nach einer knappen Stunde dann einen Blackout der mittelschweren Stufe: Im Duell gegen Kane erlief der Katalane stark den Ball, spielte diesen jedoch unmittelbar danach komplett unnötigerweise in die Mitte und direkt in die Füße von Alli. Der englische Youngster konnte mit seinem Zuspiel Son zum Glück nur im Abseits finden.
Tottenham war keinesfalls gezwungen, das Spiel aktiv zu gestalten, kontrollierte trotzdem die Partie und ließ Ball und Borussia laufen. Schlussendlich resultierte die Dortmunder Trostlosigkeit im nächsten nicht unverdienten Gegentreffer: Götze und Bartra stellten sich im Zweikampf mit Alli äußerst schlecht an, die englische Fußballhoffnung setzte sich durch und und brachte den Ball in den Strafraum, wo Ex-Hamburger Son komplett alleine und in
Ruhe den Ball annehmen, sich umschauen und für Bürki unhaltbar rechts oben in den Winkel schießen konnte. Das Tor zum 2:1 verfestigte den Eindruck, dass die Führung der Londoner für die Gäste ohne wirklich großen Aufwand entstanden war, während sich der BVB merklich quälte, mit zähem und einfallslosen Aufbauspiel Brauchbares zu produzieren - erfolglos. In der Schlussphase unterbrachen einzig die drei Einwechslungen von Dembélé, Sissoko und Llorente die Quer - und Rückpasspassagen des BVB. Sinnbildlich für die momentane Situation am Ende auch die unglückliche Verletzung von Keeper Bürki, der von Llorente unglücklich am Ohr getroffen wurde und länger am Boden behandelt werden musste. Selbst der zuletzt so gescholtene Schweizer, der mit Abstand beste Akteur an diesem Abend in Dortmunder Reihen, bekam stellvertretend für die allgemeine Gemütslage trotzdem noch den Knockout - im wahrsten Sinne des Wortes.
Fazit
Was bleibt zu sagen? Erneut ein guter Beginn mit einer vielversprechenden ersten Hälfte, erneut der komplette Einbruch in Halbzeit zwei. Die Führung fiel nicht unverdient, die beiden Gegentreffer waren Sinnbild der aktuellen Situation und verpassten dem ohnehin nicht vorhandenen Selbstvertrauen der Truppe einen weiteren Nackenschlag. Mit noch immer mickrigen zwei Punkten verweilt man auf Platz drei der Gruppe, das Minimalziel Europa
League muss zweifellos erreicht werden. Ob das für die Position von Chefcoach Bosz noch von wirklicher Relevanz ist, bleibt zu bezweifeln. Der letzte Strohhalm scheint das Derby am Samstag zu sein, das kollektiv propagierte Rettungsboot und die letzte Chance auf jegliche positive Wendung. Sollte auch das schief gehen, sind wohl schon weit vor Weihnachten jegliche Bäume längst abgebrannt.
Den eigenen Geburtstag hätte sich Peter Bosz (54) sicher schöner vorgestellt, ließen die Tottenham Hotspur an diesem Abend keinerlei Geschenke da. Stattdessen beschenkten die Engländer um Mauricio Pochettino sich selbst - und ihren Coach mit dem 100. Pflichtspielsieg als Verantwortlichen an der Seitenlinie.
Statistik
BVB: Bürki (90.+2 Weidenfeller) - Toljan, Bartra, Zagadou (78. Toprak), Schmelzer (C) - Weigl - Götze, Kagawa (66. Castro) - Yarmolenko, Guerreiro -
Aubameyang
Spurs: Lloris - Sanchez, Dier, Vertonghen - Aurier, Winks, Alli (81. Dembélé), Rose - Eriksen (85. Sissoko), Son - Kane (86. Llorente)
Schiedsrichter: Clément Turpin
Assistenten: Danos, Gringore
Torrichter: Buquet, Rainville
Vierter Offizieller: Zakrani
Tore: 1:0 Aubameyang (31.), 1:1 Kane (49.), 1:2 Son (76.)
Zuschauer: 65.848 (ausverkauft)
Karten: Schmelzer, Toljan (beide Gelb)
Torschüsse: 2:7
Ecken: 8:10
Ballbesitz: 50:50 %
Stimmen zum Spiel
Peter Bosz:
„Nach dem 1:1 hat man gesehen, dass meinen Spielern einfach das Vertrauen fehlt, weiterzumachen. In der ersten Halbzeit haben wir das gut gemacht, haben kompakt verteidigt und uns auch Chancen herausgespielt. Nach dem Ausgleich dann aber nicht mehr. Das Gegentor fällt durch einen Fehler, den wir selbst begehen. Danach war unser Fußball nicht mehr gut, da muss man ganz ehrlich sein. Solche individuellen Fehler dürfen uns auf unserem Niveau nicht passieren. Uns fehlt einfach das Selbstvertrauen. Wenn man so lange nicht gewinnt, ist das logisch. Deshalb war ich nach der ersten Halbzeit eigentlich stolz, aber nach dem Ausgleich sieht man, dass das sehr dünn ist. Wir müssen jetzt das Derby gewinnen. Wir müssen einfach gewinnen.“
Mauricio Pochettino:
„Es ist fantastisch für uns, eine fantastische Leistung. Erster in der Tabelle zu sein und für das Achtelfinale qualifiziert zu sein ist neu für uns. Die Gruppe mit Real, Dortmund und APOEL war äußerst schwierig, aber wir haben versucht, es zu genießen, konkurrenzfähig zu sein und zu gewinnen. Das war die Idee in jedem Spiel.“
Boris Davidovski, 22.11.2017