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Es ist doch alles nur ein Test

10.11.2017, 14:59 Uhr von:  Gastautor
Es ist doch alles nur ein Test

Seit Saisonbeginn wird der Videobeweis im Bundesligaalltag getestet. Nach einem Drittel der Saison zieht Gastautor Stefan, ein Gegner des Videoschiedsrichterwesens, ein erstes Fazit.

Im März 2016 informierten der Deutsche Fußball-Bund (DFB) und die Deutsche Fußball Liga (DFL) die Öffentlichkeit über die geplante Einführung des sogenannten Videobeweises in zwei Testphasen in der höchsten Spielklasse des Profifußballs. Nachdem das International Football Association Board (IFAB) die Einführung dieses technischen Hilfsmittels gestattete, wurde ab der Saison 2016/2017 der Videobeweis in der Bundesliga getestet. In dieser ersten Testphase bewertete der Video Assistant Referee (VAR) lediglich offline Szenen, ohne den Unparteiischen über etwaige Fehlentscheidungen zu informieren. Laut der Aussagen des zwischenzeitlich abgesetzten Projektleiters Hellmut Krug wurden im Zuge der ersten Testphase insgesamt 104 spielrelevante Fehlentscheidungen identifiziert, wovon der VAR 77 Fehler vermieden hätte. In der ersten Testphase gab es dementsprechend im Durchschnitt etwa drei spielrelevante Fehlentscheidungen pro Spieltag. Transparenz war schon zu diesem frühen Zeitpunkt unerwünscht, sodass man eine detaillierte Auflistung der 104 spielrelevanten Fehlentscheidungen vermisste.

Vor der zweiten Testphase wurde der Videobeweis bereits beim Confed Cup in Russland und der U20-WM getestet. Die bei diesen Wettbewerben festgestellten Probleme wie die sehr lange Dauer der Bewertung einzelner Szenen würde es in der Bundesliga nicht geben. Hellmut Krug war Anfang Juli 2017 noch davon überzeugt, dass es in Deutschland insbesondere aufgrund der intensiven Schulung der Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter reibungslos funktionieren würde. In den FAQ zum Videobeweis hielt die DFL zu Saisonbeginn fest, dass der VAR lediglich bei „offensichtlichen Fehlern“ des Schiedsrichters eingreifen kann und es sich auf die Aspekte Torerzielung, Elfmeter, Platzverweis und Spielerverwechslung beschränkt. Dabei fungiere der VAR keinesfalls als Oberschiedsrichter, sondern diene lediglich der Ergänzung des Schiedsrichterteams. Dem VAR wurde weiterhin zugestanden, dass er/sie sich im Bedarfsfall mit einem Supervisor abstimmen kann. Zur Urteilsfindung würden im Regelfall 17 Kameras zur Verfügung stehen, darüber hinaus gäbe es kalibrierte Abseitslinien. Als Zeitspanne für die Urteilsfindung wurde Bezug auf die erste Testphase genommen und eine maximale Zeitspanne für die Entscheidungsfindung von zehn bis vierzig Sekunden vorgegeben.

Keine konsequente Umsetzung der Regeln

Zwischenzeitlich haben elf Spieltage in der Bundesliga stattgefunden, 99 Partien wurden gespielt. Nicht bei allen Partien stand der Videobeweis zur Verfügung, stattdessen wurde anonym von Schiedsrichter/-innen über fehlende Kameraeinstellungen und schlechte Bildqualität (keine Bilder in HD-Format) geklagt. Die VAR mussten bis mindestens zum siebten Spieltag auf die kalibrierten Abseitslinien verzichten – vielleicht bis heute, wobei man dies nicht zweifelsfrei belegen kann, da es nach dem Beitrag von Marcus Bark in der Sportschau vom 22. September 2017 keine neueren Berichte zu diesem Thema gibt. Nach den ersten Erfahrungen mit dem Videobeweis kann festgehalten werden, dass die vorher festgelegten Regeln von DFB und DFL nicht richtig und konsequent umgesetzt wurden. Vielmehr wurde der Videobeweis auch zur Bewertung von Szenen herangezogen, die nicht als „offensichtliche Fehler“ des Schiedsrichters herangeführt werden können. Darüber hinaus gab es auch glasklare Fehlentscheidungen der Videoschiedsrichter.

Unser Ballspielverein war insbesondere beim Heimspiel gegen den 1. FC Köln betroffen, als auf Anraten des VAR das Tor zum zwischenzeitlichen 2:0 nachträglich zugestanden wurde. Dass der Schiedsrichter das Spiel zu diesem Zeitpunkt bereits abgepfiffen hatte, konnte der VAR in Köln nicht wissen – schließlich standen dem VAR zu diesem Zeitpunkt keine Audio-Signale der Spiele zur Verfügung. Dass der Pfiff des Schiedsrichters zu einem Zeitpunkt erfolgte, in dem der Ball wenige Zentimeter vor der Torlinie war und kein Gegenspieler den Ball hätte abwehren können, ist in diesem Zusammenhang übrigens unerheblich, da eine Tatsachenentscheidung des Schiedsrichters über ein Foulspiel vom VAR überstimmt wurde, welche weder zu einem Elfmeter hätte führen können noch – im Moment des Pfiffs – eine Torerzielung zur Folge hatte. Entsprechend wurde der VAR aktiv, ohne überhaupt ein Mandat für diese Art von Szene zu haben. Zudem kann man sicherlich der Ansicht sein, dass es sich bei dem vom Schiedsrichter bewerteten Zweikampf Sokratis-Heintz eben nicht um einen offensichtlichen Fehler des Schiedsrichters handelte.

Diskussion in Freiburg

Beim Spiel in Freiburg wurde Lukasz Piszczek in der Nachspielzeit im Strafraum vom Ex-Borussen Stenzel mit dem Ellbogen im Gesicht getroffen. Was in einem Bundesligaspiel gegen Bayern München als klares Foulspiel am Mittelkreis konsequenterweise mit Gelb geahndet wird, hatte in Freiburg einen Eckball zur Folge.

Am zehnten Spieltag wurden eben jene Freiburger in der Person des Innenverteidigers Söyüncü benachteiligt, da der VAR einen Platzverweis forderte, den der Schiedsrichter Stieler letztlich für ein angeblich absichtliches Handspiel als letzter Mann aussprach. Unberücksichtigt blieb sowohl die Tatsache, dass der Ex-Borusse Ginczek nicht am Ball war, als auch der Umstand, dass Söyüncü geschubst wurde und daraufhin den Ball mit der Hand berührte.

Bei den 99 Bundesligapartien der aktuellen Spielzeit gab es weitere Szenen, die man als mindestens diskutabel einstufen kann. Auf der anderen Seite gab es aber natürlich auch Entscheidungen des VAR, die nach Ansicht der TV-Bilder als nachvollziehbar und richtig bezeichnet werden müssen. Inwieweit der Schiedsrichter diese Szenen allerdings ohne Videobeweis überhaupt „falsch“ entschieden hätte, kann ebenso wenig beantwortet werden wie die Frage, ob es sich bei den richtigen Bewertungen immer um „offensichtliche Fehler“ der Spielleiterin bzw. des Spielleiters gehandelt hat.

Kurskorrekturen durch den DFB

Über die vorgenannten Probleme der zweiten Testphase hinaus gab es Schlagzeilen durch die zwischenzeitliche Anpassung des Videobeweises. Nach dem fünften Spieltag nahm der DFB eine Kurskorrektur vor, nach der der VAR auch bei starken Zweifeln an der Richtigkeit der Entscheidung der Spielleitung Einfluss nehmen sollte. Diese Veränderung der Einsatzregeln wurde erst nach dem zehnten Spieltag publik, nachdem eine diesbezügliche Information kurz vorher an die Vereine der Bundesliga übersandt wurde. Dieser inflationäre Einsatz des VAR wurde jedoch zwischenzeitlich wieder zurückgenommen. Entsprechende Einsatzänderungen im Echtbetrieb waren jedoch bereits zu Saisonbeginn absehbar, da es sich ja nun einmal um eine Testphase handelt. Etwaige Wettbewerbsverzerrungen durch eine freimütigere bzw. restriktivere Handhabung des VAR im Saisonverlauf wurden und werden hingenommen und lediglich von Vereinen hinterfragt, die sich des Öfteren benachteiligt fühlten.

Außerdem wurde publik, dass der als Projektleiter gestartete und nun als Supervisor im System verbleibende Hellmut Krug beim Spiel der Blauen gegen Wolfsburg zwei Mal aktiv in die Entscheidungsfindung des VAR eingegriffen haben soll, sodass offensichtliche Fehlentscheidungen des Spielleiters (bspw. aktives Handspiel des Spielers Kehrer im Strafraum) nicht vom VAR überstimmt wurden. Zwischenzeitlich wurde Krug demissioniert und als Projektleiter abgesetzt. Dies würde verwundern, sofern der geäußerte Verdacht haltlos wäre. Allerdings kann nicht mit Bestimmtheit gesagt werden, ob diese Vorwürfe zutreffen, da der DFB wie gewohnt auf eine öffentliche Erläuterung verzichtet. Krug selbst bezeichnete die Vorwürfe als unwahr, da der Supervisor schließlich gar nicht auf den VAR einwirken dürfe. Vor dem Hintergrund der öffentlichen Ausführungen des Schiedsrichters Gräfe zur Person Krug dürfte die Glaubwürdigkeit von Hellmut Krug zuletzt jedoch stark in Zweifel gezogen werden.

Intransparente Entscheidungsfindung

Mehr als dieses Zeichen sehen die Zuschauer im Stadion nicht.
Über diese generellen Probleme hat sich in den letzten Monaten gezeigt, wie sich das Spiel durch die Einführung verändert. Mitunter gab es Spielunterbrechungen von mehreren Minuten, mehrere Unterbrechungen pro Spiel und eine weiterhin intransparente Entscheidungsfindung. Letzteres muss nicht zwingend als Kritikpunkt verstanden werden. Da dieses System aber auf eine Steigerung von Gerechtigkeit und Transparenz abzielt, erscheint die intransparente Bewertung von Szenen zumindest fragwürdig. Selbst dem TV-Zuschauer wird nicht immer deutlich vermittelt, welcher Aspekt nun genau überprüft wird und ggf. zu einer Änderung der Entscheidung des Spielleiters führt. Stadionbesucher erhalten keinerlei Informationen, auf Bilder wird auf Anraten von DFB und DFL verzichtet, um keine Unruhe auf den Rängen entstehen zu lassen. Es muss vielmehr ein Hinweis auf die generelle Überprüfung genügen.


Insbesondere der nun laut gewordene Vorwurf der Einflussnahme durch die Funktion des Supervisors zeigt auf, wie intransparent das System des VAR ist. Im Gegensatz zu der/dem im Stadion eingesetzten Schiedsrichter/-in agieren VAR und Supervisor frei von jeder Rechenschaftspflicht. Warum manche Szenen nicht bewertet oder eben „falsch“ bewertet werden, ist weder ersichtlich noch vom DFB gewünscht. Obwohl der Wunsch nach mehr Gerechtigkeit und Transparenz im Milliardengeschäft Fußball durchaus nachvollziehbar erscheint, ist die intransparente Entscheidungsfindung in Köln sicherlich kontraproduktiv. Während eine fehlerhafte Entscheidung des Schiedsrichters beim Spiel der Blauen gegen Wolfsburg tagelang Thema in der öffentlichen Diskussion wäre, fällt die vermeintliche Beeinflussung von Hellmut Krug nahezu komplett unter den Tisch.

Befürworter/-innen des VAR halten all den vorgenannten Kritikpunkten entgegen, dass ein wenig mehr Gerechtigkeit schon als Erfolg verbucht werden müsse. Wie bereits erwähnt ist dies jedoch nur schwer zu belegen, da die pure Einbindung des VAR zu einem veränderten Verhalten der Spielleiterin bzw. des Spielleiters führt. Letztlich zeigen die Diskussionen zum VAR auf, dass es in dieser Thematik recht klare Lager von Befürwortern und Gegnern gibt. Einigkeit sollte jedoch in beiden Lagern darüber erzielt werden können, dass die ersten Monate mit dem VAR zu unterschiedlichen Bewertungen vergleichbarer Szenen geführt haben, der Videobeweis im Vergleich zur ersten Testphase inflationär eingesetzt wurde und somit das erste Fazit zum VAR nicht ausdrücklich positiv ausfallen kann.

Aus der Sicht eines Gegners des Videobeweises ist der VAR lediglich eine weitere subjektive Einschätzung, die keineswegs zu einer objektiven und konsequenten Regelauslegung führen wird. Dies könnte man aber auch nur verlangen, wenn sich der VAR wirklich nur auf die absoluten Fehlentscheidungen konzentrierte. Doch wie viele sind dies im Verlauf einer Saison? Sind es wirklich die vom ehemaligen Projektleiter Krug angegebenen 104 pro Saison oder sind es eigentlich nur sehr wenige glasklare Fehlentscheidungen wie die Handspiele von Andreasen (Köln – Hannover) oder Stindl (Ingolstadt – Gladbach) oder die als Phantomtore bekannten Treffer von Wosab (Dortmund – Karlsruhe), Helmer (Bayern – Nürnberg) oder Kießling (Hoffenheim – Leverkusen)? Lohnt sich dieser ganze Aufwand für die wenigen 100%-igen Fehlentscheidungen oder ist es letztlich eben doch Interpretationssache, was genau als „offensichtlicher Fehler“ der Spielleitung verstanden werden soll.

Über die Nutzung des Videobeweises bei der kommenden Weltmeisterschaft will das IFAB im März 2018 entscheiden. Ob der VAR in der Bundesliga bis zum Saisonende eingesetzt werden wird, dürfte nach den jüngsten Entwicklungen jedoch mehr denn je in Frage gestellt werden.

geschrieben von stfn84

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