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Auf den Spuren Dortmunder Jüdinnen und Juden. Gedenkstättenfahrt nach Lublin

18.08.2017, 10:07 Uhr von:  Gastautor
Auf den Spuren Dortmunder Jüdinnen und Juden. Gedenkstättenfahrt nach Lublin

​Die „Aktion Reinhardt“ stand im Mittelpunkt der Gedenkstättenfahrt nach Lublin. Knapp vierzig Borussen haben sich auf die Spuren von Jüdinnen und Juden gemacht, die im April 1942 vom Dortmunder Südbahnhof in den Tod verschleppt wurden. An der einwöchigen Fahrt nahmen auch zwei Gastautoren teil, die hier von ihren Erlebnissen berichten.

Für die meisten Teilnehmer der Gedenkstättenfahrt nach Lublin ging es frühmorgens los. Um 4:30 Uhr sammelte sich die Gruppe, eine Viertelstunde später saßen alle im Regionalexpress in Richtung Flughafen Düsseldorf, von wo es mit dem Flieger zunächst nach Warschau und dann mit dem Bus nach Lublin ging. Viele kannten sich von früheren Fahrten, sei es nach Lublin oder nach Oświęcim, die der Ballspielverein regelmäßig organisiert.

Auf der Gedenkstättenfahrt ging es um das jüdische Leben. Um die Jüdinnen und Juden, die in Polen verschleppt, zur Zwangsarbeit gezwungen und zu Tode getrieben wurden. Um jüdisches Leben, das im Vernichtungslager Bełżec oder Sobibor auf grausamste Art ausgelöscht wurde, darunter Dortmunder Juden, die vom Südbahnhof nach Zamość transportiert worden waren. Die Fahrt führte auch zum ersten Konzentrations- und Vernichtungslager auf polnischem Gebiet, zum KZ Majdanek.

Nach unserer Ankunft stand für uns Teilnehmer, die Teamer und die Referenten zunächst ein Rundgang durch die Altstadt der ostpolnischen Stadt auf dem Programm. Lublin, in der in etwa so viele Menschen leben wie in Bochum, lag vor der „Westverschiebung“ Polens in Zentralpolen. Vor dem Überfall Polens durch die deutsche Wehrmacht – mit dem am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg begann – hatte Lublin wie viele polnische Städte eine große jüdische Gemeinde und das jüdische Leben war vielfältig. Ein Drittel der rund 120.000 Bewohner waren Jüdinnen und Juden.

Theater N.N.

Die erste Station, die wir besuchten, befasste sich denn auch mit dem jüdischen Leben in Lublin. In Grodzka Gate, das die Altstadt mit der Neustadt verbindet, befindet sich das Theater N.N. – eine Mischung aus Museum, Dokumentationszentrum, Archiv und Theater. Eine eindrucksvolle Ausstellung zeigt die historischen Veränderungen vom Mittelalter bis in die Neuzeit, erzählt vom Ghetto während der deutschen Besatzung Polens, das anders als das bekanntere Warschauer Ghetto zum Teil nicht abgeriegelt war. Auch persönliche Geschichten und Biographien wie die des Jungen Heniek Żytomirski werden anhand von Fotos des Kindergeburtstags und des Sonntagsspaziergangs mit den Eltern erzählt, bis sich die Spuren dieser Geschichte auf leeren Seiten des Fotoalbums im Nichts verlieren.

Ab dem Dezember 1939 wurden die ersten Juden aus Deutschland ins Lubliner Ghetto und die umliegenden Städte verschleppt. Zu Fuß erkundeten wir das Gebiet des ehemaligen Ghettos, von dem nichts mehr erhalten geblieben ist. Heute stehen dort zum Teil wiederhergerichtete Wohngebäude und auch ein Wochenmarkt befindet sich auf dem Gelände.

Am dritten Tag fuhren wir sehr früh morgens mit dem Bus in Richtung Bełżec. Auf dem Weg machten wir Halt in Zamość, wo wir die Stadt erkundeten, die 1939 von den Deutschen erobert wurde. Sie übernahmen die Kontrolle über die gesamte Stadtverwaltung inklusive der Post und der Bahn, die bei der Errichtung der Konzentrations- und Vernichtungslager eine entscheidende Rolle spielte – denn diese wurden durch die Nationalsozialisten an Verkehrsknotenpunkten oder entlang der Bahntrassen errichtet.

Mit dem Bus fuhren wir weiter zum Bahnhof nach Bełżec, an dem immer noch täglich einige wenige Züge halten. Auf dem Gelände befindet sich der ehemalige Lokschuppen, der zum größten Teil zerstört ist und der als Magazin diente. Wertgegenstände, die den ankommenden Juden abgenommen wurden, wurden dort einsortiert. Ihre Koffer wurden beschriftet, womit man ihnen vorgaukelte, dass sie ihr Hab und Gut wiederbekommen würden. Die Menschen wurden in das Lager gebracht und der Weg führte fast immer sofort in die Gaskammern. Neben der Gaskammer stand ein Dieselmotor, dessen Abgase über ein Rohr in den abgedichteten Raum führten. Dort mussten sich die Juden auf engstem Raum aneinanderdrängen, so dass sich keiner hätte hinsetzen können. Nach qualvollen 20 bis 25 Minuten, in denen es am Anfang durch die Schreie sehr laut war, die aber nach und nach verstummten, waren alle Menschen in der Gaskammer tot.

Im Lager gab es einen kleinen „Wohnbereich“, in dem die Juden lebten, die zur Arbeit selektiert wurden und beispielweise als Zahnärzte, im Kleiderkommando oder im Sonderkommando arbeiten mussten. Vom Vernichtungslager, das ausschließlich zur Vernichtung jüdischen Lebens errichtet wurde, ist nichts mehr übrig geblieben. Insgesamt wurden in Bełżec bis zu 600.000 Juden qualvoll ermordet.

Gedenkstätte Bełżec

Auf dem größten Teil des ehemaligen Vernichtungslagers befindet sich heute die Gedenkstätte Bełżec, die 2004 neu gestaltet wurde. Im Mittelpunkt steht eine Rampe, die symbolisch den „Himmelsweg“, also den Weg vom unteren Lagerbereich zu den Gaskammern, darstellt. Die Granitmauer links und rechts wird immer höher. Der Weg führt auf eine steile Wand – ein Entkommen ist aussichtslos, der Pfad ist vorgegeben. Man fühlt sich fast zwangsläufig klein, fast erschlagen. Auf der Wand am Ende sind alle Vornamen der Opfer zu lesen. Um das Grabfeld herum, dessen Mitte mit Schlacke übersät ist, verlaufen chronologisch geordnet alle Städtenamen, aus denen die Todestransporte kamen: Lublin, Zamość, Minsk, aber auch Wien, Wuppertal, Dortmund. Einige Teilnehmer unserer Gruppe legten hier zum Gedenken Blumen nieder. Einige waren sichtlich berührt, die Teamer und Betreuer leisteten Hilfe bei der Verarbeitung der Eindrücke und Gefühle.

Am vierten Tag stand Sobibor auf dem Programm. Nach zwei Stunden Busfahrt zur ukrainisch-weißrussischen Grenze kamen wir am ehemaligen Bahnhof an. Zuerst wurde uns über die Geschichte des Lagers berichtet und einige Augenzeugenberichte vorgetragen. Vor allem die Anwohner haben relativ viel vom Lager mitbekommen und einige haben sich nach dem Krieg dazu geäußert. Dennoch waren Nachfragen während des Krieges ein großes Risiko.

Das Lager ist Anfang 1942 errichtet worden und wurde von einigen SS-Männern und Trawniki (das waren sogenannte „freiwillige Helfer“, also Kriegsgefangene aus der Ukraine oder aus dem Baltikum, die dann in der Ortschaft Trawniki ausgebildet wurden und desertierten) bewacht. Sobibor ist unter anderem dafür bekannt, dass dort am 14. Oktober 1943 der größte und erfolgreichste Aufstand in einem Vernichtungslager während des Zweiten Weltkrieges stattfand. Es gab insgesamt immer wieder Versuche, aus den Vernichtungslagern oder auf dem Weg dorthin zu fliehen. Einige sind erfolgreich gewesen, die meisten allerdings scheiterten. Wenn die Führung des Lagers erfuhr, dass Häftlinge geflüchtet waren, wurden andere Häftlinge im Lager erschossen – willkürlich, um Angst und Schrecken zu verbreiten.

Im September 1943 kamen achtzig jüdische sowjetische Kriegsgefangene nach Sobibor. Da sie als Rotarmisten kriegserfahren waren, schlossen sie sich einer kleinen Widerstandsgruppe an, die sich schon zuvor im Lager gebildet hatte, und schmiedeten gemeinsam mit ihnen Fluchtpläne. Unter der Führung von Alexander Petschjorski begannen 600 Gefangene am 14. Oktober 1943 einen Aufstand, nach und nach wurden zwölf SS-Männer ausgeschaltet und getötet. Da beim Appell keine SS-Männer erschienen, fiel den Trawniki, die das Lager vor Angriffen von außen bewachen sollten, auf, dass irgendwas nicht in Ordnung war. Daraufhin sprachen russische Gefangene die Trawniki auf Russisch an und forderten sie auf, zusammen zu fliehen. Die Trawniki begannen aber, auf die Aufständischen zu schießen. Rund 600 Leute wagten sich, die Absperrungen zu überwinden, um das Lager zu verlassen. Dabei wurden rund 240 Aufständische erschossen, 200 weitere wurden in den angrenzenden Wäldern oder auf den Minenfeldern getötet. Nur rund 150 Juden konnten sich in die Wälder flüchten und sich verstecken. Viele von ihnen schlossen sich Partisanen in Weißrussland und der Ukraine an. Alexander Petschjorski war zuerst auch bei den Partisanen in Weißrussland, wo er erfolgreich gegen Faschisten gekämpft hat. Nach dem Zusammenschluss mit der Roten Armee wurde er zunächst in ein Strafbataillon geschickt, weil er als (ehemaliger) Gefangener aus Sicht der UdSSR als Landesverräter galt. Später konnte er nach Moskau gelangen und über seine Flucht aus dem Lager Sobibor berichten. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sein Name in der UdSSR kaum bekannt. Ein Buch, das von seiner Flucht berichtete, wurde verboten – erst 2015 ist es erschienen. In Israel dagegen trägt eine Straße seinen Namen.

Gedenkallee in Sobibor

Die Gedenkstätte in Sobibor ist in den 60er-Jahren erbaut worden, sie wird zurzeit renoviert und völlig neu konzipiert, weswegen wir wenig davon besichtigen konnten. Aber eine Gedenkallee, die symbolisch den Weg in den Tod darstellt, auf dem damals Jüdinnen und Juden in den Tod geschickt wurden, konnten wir entlanglaufen. Auf beiden Seiten liegen Gedenksteine zur Erinnerung an die insgesamt ermordeten 250.000 Juden. Unter anderem erinnert dort ein Stein an Gertrude und Walter Poppert aus Dortmund, der von der Jugendorganisation der Naturfreunde NRW gestiftet wurde.

Am letzten Tag waren wir zuerst am „alten Flugplatz“, wo sich früher die Lager befanden, in denen die Wertsachen der deportierten Juden gesammelt und sortiert wurden. Wir konnten dort aber nur Wiesen und Hügel vorfinden, das von einem Gewerbegebiet umgeben ist. Es erinnert nichts mehr daran, dass an diesem Ort Verbrechen begangen wurden. Anschließend besuchten wir das Arbeits- und Vernichtungslager Majdanek, das einzige ehemalige Lager dieser Fahrt, das in seiner Struktur erhalten geblieben ist und das sich in der Nähe von Lublin befindet. Einige Baracken stehen noch, in denen nun unterschiedliche Ausstellungen zu sehen sind. Das Gelände der Gedenkstätte ist etwas kleiner als die Fläche, die das KZ vor 75 Jahren eingenommen hat. In diesem Lager waren nicht nur Juden untergebracht, sondern auch Polen, die sich gegen die deutschen Besatzer engagierten sowie Polen, die einfach nur zur Abschreckung für ein paar Wochen dort eingesperrt wurden. Doch waren zum größten Teil nur die Juden direkt „zum Tode verurteilt“. Die ankommenden Jüdinnen und Juden wurden sofort in arbeitsfähige und arbeitsunfähige Gruppen eingeteilt. Diejenigen, die nicht arbeiten konnten, weil sie zu schwach, krank, alt oder zu jung waren (Kinder bis etwa zwölf Jahre), durften nur einen Weg gehen: den in die Gaskammer. In Majdanek wurden zur Tötung genau wie in Bełżec und Sobibor meist Abgase von Dieselmotoren eingesetzt. Allerdings gab es in Majdanek auch eine Gaskammer, in der wie in Auschwitz Zyklon B verwendet wurde.

Majdanek
Im hinteren Bereich des Lagers steht der Gebäudekomplex, in dem sich das Krematorium befand. Für einige Teilnehmer unserer Gruppe war dies zu viel. Die Gefühle, die der Anblick der nackten Steine hervorrief, gepaart mit den Berichten, die die beiden Referenten auf der ganzen Fahrt einbauten, dazu die Vorstellungskraft – all dies ließ die Emotionen Bahn brechen. Der Autor dieser Zeilen konnte das ehemalige Krematorium nicht betreten, zu groß erschien der Schrecken, den es in den Gedanken auslösen würde. An dieser Stelle half Innehalten. Die Erlebnisberichte Überlebender und Zeugen lösten genug Bedrücken aus. An diesem Ort gedachten wir als Gruppe den Opfern einer besonders schrecklichen Nacht: Bei der sogenannten „Aktion Erntefest“ begingen die Nazis an einem Tag, dem 3. November 1943, einen koordinierten Massenmord an insgesamt mehr als 43.000 Juden. Die durch SS und Reservepolizei begangenen Verbrechen, die Erschießungen in den Lagern Trawniki, Ponitowa und dem KZ Majdanek bildeten den Abschluss der „Aktion Reinhardt“ – und damit auch den inhaltlichen Abschluss der Gedenkstättenfahrt Lublin 2017.

Der Behauptung des Dortmunder Journalisten Olaf Sundermeyer, der in der Sendung von Markus Lanz die These vertrat, der BVB organisiere die Gedenkstättenfahrten nur aus Marketing-Gründen, konnten wir nichts abgewinnen. Im Gegenteil – diese Aussage ist aus unserer Sicht ein Schlag ins Gesicht derjenigen, die an den Fahrten teilnehmen. Vor allem diskreditiert sie die Arbeit derjenigen, die diese Fahrten organisieren und anbieten.

Wir können uns jedenfalls nur ganz herzlich bei den Organisatoren (vielen, vielen Dank an Daniel, Andi und Markus) und allen Teamern bedanken. Wir hoffen, dass diese Fahrten weiterhin jährlich stattfinden und auch weitere Vereine solche Fahrten organisieren.

Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!

geschrieben von Alexey83 und Farrokh

Wenn Euch das Thema interessiert, können wir Euch zwei Filme zu diesem Thema empfehlen:

  • 14. Oktober 1943 – ein Dokumentarfilm über den Aufstand von Sobibor. Ein Interview mit dem Überlebenden Yehuda Lerner.
  • Shoah – ein achtstündiger Film von Claude Lanzmann, mit Interviews mit den Überlebenden des Holocausts.

Vielen Dank an Kirstin für die Fotos!

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