Gedenkstättenfahrt 2017 nach Auschwitz
Es ist Samstag, 5. August 2017, 18.37 Uhr. Es steht das Supercup-Spiel gegen die Bayern an und ich befinde mich auf dem Fußweg zum Stadion. Eine Gruppe, nur ein paar Meter von mir entfernt, stimmt “Fangesänge” an. Und plötzlich höre ich “Eine Uuuu-Bahn, eine Uuuu-Bahn…” - bei mir stellen sich die Nackenhaare auf und in der Hosentasche ballt sich meine Faust. Ich entschließe mich, den Fangesang nicht unkommentiert singen zu lassen, überlege, mit welchen Worten ich dem Gesang ins Wort fallen kann. In dem Moment wird der Gesang schon unterbrochen. Es zischt danach nur “Ach ja, das darf man ja nicht singen” über die Lippen der Person, die den Gesang angestimmt hat. Ist ja nochmal gut gegangen. Trotzdem überlege ich noch länger, wie man sich in so einer Situation verhalten kann, ohne dass man Angst haben muss, angegriffen zu werden.
Ich komme gerade aus Auschwitz. Fünf Tage Gedenkstättenfahrt mit dem BVB. Als im Frühjahr 2017 über den Fanclub-Newsletter die diesjährige Gedenkstättenfahrt nach Auschwitz erwähnt wurde, wollte ich mich sofort für eine Teilnahme bewerben. Die positiven Erfahrungsberichte der Vorjahre, gepaart mit einem großen Interesse an der Weltgeschichte - insbesondere der NS-Zeit - sowie dem persönlichen Wunsch, sich selbst beim BVB für die Arbeit gegen “rechts” engagieren zu wollen, waren unterschwellig schon eine ganze Weile in meinem Kopf - nun gab es also die Gelegenheit. Nach kurzer Umfrage unter unseren Fanclub-Mitgliedern fand ich einen weiteren Mitstreiter und wir haben uns zusammen angemeldet.
Der angekündigte Pflichttermin zur thematischen Vorbereitung auf die Fahrt fand bereits Anfang Juli in der VIP-Ebene des Westfalenstadions statt. Hier lernten wir einen Großteil der weiteren 33 Mitfahrer sowie die Teamer Daniel und Andreas kennen. Der gemeinsame Kenntnisstand über das Konzentrationslager Auschwitz und der geschichtliche Zusammenhang in der NS-Zeit wurden an diesem Abend erarbeitet und diskutiert. Neben der Einschätzung “heute mehr gelernt zu haben, als in 13 Jahren Schul-Geschichte” wurde schnell klar, dass unsere Borussia an einer professionellen Unterstützung sehr interessiert war. Truppe cool und unkompliziert - thematische Zusammenhänge verstanden: es konnte also losgehen.
Am Abend des 29. Juli sollte unsere Fahrt dann starten. Autos fast unter der Süd geparkt, Sachen verstaut und los ging die 16-stündige Fahrt nach Polen. Doch wie bereitet man sich auf eine solche Fahrt vor? Darf man sich offen darauf freuen? Wie geht man persönlich wohl mit den Erfahrungen, mit dem Erlebten um? Was wird uns vor Ort erwarten? Schnell merkte man in jedem Gespräch mit anderen Teilnehmern, dass uns diese Fragen nicht alleine bewegten. Zudem vermischte sich die Gruppe sehr gut, sodass man hier verschiedene Meinungen und Herangehensweisen kennenlernte. Die Gruppe war insgesamt sehr heterogen - Fanclubmitglieder, Mitarbeiter der Fanabteilung und des Fanprojekts sowie weitere mehr oder weniger aktive Fans und Interessierte. Die jüngste Mitfahrerin war 18, die älteste 73 Jahre alt.
Nach der Ankunft im Jugend-Begegnungszentrum in Oświęcim am Sonntagmittag stand zunächst eine kleine Kennenlernrunde auf dem Programm - anschließend gab es Zeit zur freien Verfügung, die von den meisten zum Fußballspielen bzw. Zuschauen genutzt wurde. Andere versuchten, eine Mütze Schlaf nachzuholen. Am Abend fanden die ersten Vorbereitungen für den nächsten Tag statt. So wiederholten Andreas und Daniel die wichtigsten Fakten des Vorbereitungstages und gaben eine Übersicht der geplanten Aktivitäten und der geografischen Einordnung.
Am Montag haben wir zunächst das heutige Oświęcim (zu deutsch während der NS-Zeit Auschwitz genannt) besichtigt. Die Stadt hat heute ca. 40.000 Einwohner. Zu Beginn des Krieges lebten dort etwa 15.000 Einwohner, davon mehr als die Hälfte Juden. Wir sind den jüdischen Spuren in der Stadt gefolgt, haben unter anderem die Judengasse und den Platz, an dem die große Synagoge stand, besichtigt, den jüdischen Friedhof sowie die einzige verbliebene Synagoge (von ehemals 20!) im heutigen jüdischen Zentrum besucht.
Heute leben keine Juden mehr in Oświęcim. Der jüdische Friedhof wurde zur NS-Zeit bewusst geschändet und liegt heute verwahrlost in der Nähe der Innenstadt. Das Unkraut wuchert und Moos oder Brennesseln überdecken die meisten Grabsteine zu einem großen Teil. Es gibt heute keine jüdische Gemeinde mehr, die den Friedhof pflegt.
Nach dem Mittag sollte das Stammlager Auschwitz besichtigt werden. Je näher wir dem Ort kamen, an dem mehrere tausend Menschen zur Zwangsarbeit gezwungen und sich zu Tode gearbeitet haben, merkte man die zunehmend nachdenkliche und beklemmende Stimmung. Das ganze Umfeld wirkte auf jeden einzelnen von uns. Das Stammlager war ähnlich wie eine Kaserne aufgebaut, mit diversen Baracken und war zu Anfang als Gefangenenlager/ Internierungslager gedacht. Orte wie die Todeswand, der Todesblock und der Appellplatz mit Sammelgalgen machten - gepaart mit den Erzählungen eines Guides - das ganze erschreckend greifbar. Wer kennt nicht das zynische Eingangsschild mit dem Spruch „Arbeit macht frei“, welches noch heute am Eingang zum ehemaligen Arbeitslager über dem großen, mit einem Stacheldraht gesicherten Tor angebracht ist.
Die Führung durch das Stammlager wurde von einheimischen Guides durch das Lager begleitet. Räume, in denen persönliche Besitztümer der Opfer wie Koffer, Bürsten, Rasierer oder auch menschliche Haare, die weiterverarbeitet werden sollten, ausgestellt sind, lassen einem das Blut in den Adern gefrieren. Die unglaubliche Skrupellosigkeit gegenüber Menschen, die niemandem Unrecht getan haben, machen noch heute sprachlos. Ein bedrückendes Gefühl und Tränen in den Augen bei vielen von uns waren beim Blick in die anderen Gesichter keine Ausnahme. Dies sollte aber nur ein kleiner “Vorgeschmack” auf die nächsten Tage sein.
Am zweiten Tag bereiteten wir uns morgens auf unseren für den Nachmittag vorgesehenen Besuch des Vernichtungslagers Auschwitz Birkenau, dem Lager II, vor. Hierbei handelte es sich zunächst um ein Gefangenenlager für russische Kriegsgefangene, das dann später ein reines Vernichtungslager und die Stätte des organisierten Massenmordes an europäischen Juden wurde. Insgesamt starben in Birkenau über eine Million (!!!) Menschen. An den Baracken, in denen die Häftlinge schlafen mussten und der berüchtigten Rampe mit den Gleisen, an denen die Todeszüge hielten, vorbei führte unser Weg zu den heute zerstörten Gaskammern und Krematorien. In der sogenannten Sauna, dem Aufnahmegebäude für die zur Zwangsarbeit ausgesuchten Menschen, lernten wir die Struktur kennen, in der diese Personen ihre Identität gegen eine tätowierte Nummer eintauschen mussten: alle Haare wurden mit stumpfen Klingen geschoren, das Hab und Gut genommen und die blau-weiß gestreifte “Einheitskleidung” verteilt. Im letzten Raum der Sauna findet sich eine Wand mit Fotos einiger Opfer. Bei den Fotos handelt es sich um Bilder, die nicht vor Ort vernichtet und nach dem Krieg gefunden wurden. Um wenigstens einigen der vielen Opfer ein Gesicht zu geben, wurde diese Opferwand geschaffen.
Nachdem man durch den Ort des Schreckens gelaufen ist und dies noch mit einem vorgelesenen Text aus dem Buch eines Überlebenden untermalt wurde, landet man an einem ruhigen See, der so überhaupt nicht in das Umfeld passt. Allerdings handelt es sich bei dem See um einen Aschesee, in den die Asche von vielen Opfern entsorgt wurde. Selbst eigentlich schöne Orte sind hier Orte des Todes und der Trauer, versehen mit Gedenktafeln auf verschiedenen Sprachen.
Abschließend gingen wir noch zu der ersten Rampe zur Ankunft der Deportationszüge, die außerhalb des Lagers mitten in einer Wohnsiedlung liegt. An dieser Rampe las Daniel aus einem Buch von Hans Frankenthal vor, einem aus Dortmund deportierten Juden. Die Stelle erzählte, wie Hans die Ankunft in Auschwitz damals vor Ort erlebt hat. Anschließend konnte jeder Teilnehmer an dem hier stehenden Bahnwaggon und den Gleisen eine rote Rosen niederlegen. Der Bezug zu Dortmund und der Appell von Daniel, wieso er und die Fanbeauftragten sich engagieren, wieso wir hier sind und warum es so wichtig ist, sich mit der Geschichte zu befassen - was das in den meisten von uns auslöste, kann auf einen Nenner gebracht werden: “Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon”.
Der ganze Tag war insgesamt sehr emotional und bei 37° ohnehin ziemlich anstrengend. Die Minuten nach der Lesung waren mein emotionaler Tiefpunkt der ganzen Fahrt und ich hatte mehrfach mit meinen Gefühlen zu kämpfen. Das schien aber den anderen Teilnehmern nicht anders zu gehen. Auf dem Weg zurück zum Bus - Stille. Im Bus - Stille. Die Teamer kümmerten sich um diejenigen, denen es augenscheinlich noch schwerer fiel, mit der Situation umzugehen. Immer gleiche Fragen kreisten und wiederholten sich im Kopf: Wie haben sich die Deportierten damals beim Verlassen der Züge gefühlt? Haben sie geahnt, was sie erwartet? Warum? Man konnte die Gedanken daran einfach nicht verdrängen.
Am Mittwoch stand der Besuch auf dem Gelände des ehemaligen Lagers III Auschwitz Monowitz an. Von diesem Lager ist kaum noch etwas zu erkennen, da nach der Befreiung die ehemaligen Einwohner auf dem Gelände ihre Häuser neu aufgebaut haben. Dieses Lager wurde damals direkt neben einem Chemiekomplex der IG Farben gebaut, auch damit die Firmen direkt auf Zwangsarbeiter zurückgreifen konnten. Bei der IG Farben handelt es sich um den weltweit größten Chemiekonzern, der nach dem Zweiten Weltkrieg in diverse Firmen wie Bayer, Hoechst, BASF, AGFA und weitere zerschlagen wurde. Obwohl diese Firmen Nachfolger der IG Farben sind, haben diese sich jahrelang geweigert, Entschädigungen an die überlebenden Häftlinge zu zahlen. Diese Unternehmen tun sich bis heute schwer mit der Vergangenheitsbewältigung und der Konfrontation mit der Geschichte.
Am letzten Tag waren wir noch einmal im Stammlager in Auschwitz und haben die Kunstausstellung besichtigt. In dieser - der breiten Öffentlichkeit übrigens nicht zugänglichen Ausstellung - sind Bilder der Häftlinge zu sehen. Dabei handelt es sich um Auftragsarbeiten für die Aufseher und damit zumeist erschreckende Zeichnungen des Alltags vor Ort sowie Zeichnungen nach der Befreiung zur Bewältigung des Erlebten. Anschließend hatte jeder von uns noch Zeit, nach eigenem Interesse die in einigen Baracken befindlichen Länder-Ausstellungen oder noch einmal die Orte der Führung am ersten Tag anzusehen und mit etwas Abstand nochmals auf sich wirken zu lassen. Nach einer Abschlussdiskussion ging es dann wieder mit dem Bus Richtung Dortmund, wo wir am Freitag Morgen gegen 5.00 Uhr wieder am Westfalenstadion ankamen.
Fazit
Ich habe viel Hochachtung davor, was der BVB, die Fan- und Förderabteilung sowie das Fanprojekt bei der Rassismus-, Antisemitismus und Diskriminierungsprävention auf die Beine gestellt hat. Das Thema ist leider aktueller denn je und so etwas darf einfach nie wieder passieren. Ich kann für mich sagen, dass mich die Fahrt - auch bezüglich der aktuellen politischen Situation - sehr sensibilisiert hat und mir auch Kraft und Mut gegeben hat, gegen aktuelle politische Fehlentwicklungen unserer Zeit zu kämpfen. Ich kann jedem BVB-Fan absolut empfehlen, diese Gedenkstättenfahrt einmal mitzumachen. Mittlerweile sind schon einige Tage nach unserer Rückkehr vergangen, aber ich bin immer noch dabei, die Fahrt zu verarbeiten und das Erlebte in Worte zu fassen. Ein Zitat kommt mir dabei immer wieder in den Sinn:
„Ihr habt keine Schuld an dieser Zeit. Aber ihr macht euch schuldig, wenn ihr nichts über diese Zeit wissen wollt. Ihr müsst alles wissen, was damals geschah. Und warum es geschah.“ (Esther Bejarano, Überlebende von Auschwitz)
11.08.2017 Patrick & Sven
In der Rubrik „Eua Senf“ veröffentlichen wir in
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