Von Brügge bis Tottenham: Ein Ritt durch 60 Jahre Dortmunder Europapokalgeschichte
„Fegefeuer? Das ist doch irgendwie so ein Zwischending. Du warst nicht totale Scheiße, aber so ganz toll warst du auch wieder nicht. Wie Tottenham."
Es ist schon ein paar Jährchen her, dass Martin McDonagh in Brügge sehen und sterben...? seine beiden Hauptdarsteller Brendan Gleeson und Colin Farrell bei Ansicht eines Gemäldes von Hieronymus Bosch darüber sinnieren ließ, mit welchem Fußballclub sich diejenigen identifizieren können, für die es weder für den Himmel noch für die Hölle reicht. Am Ende fiel die Entscheidung auf Tottenham. Aus gutem Grund. Über viele Jahre hinweg verkörperten die Spurs nicht mehr als die Mittelklasse der Premier League. Was sich auch nach 2008, dem Erscheinungsjahr des Films, nicht änderte, von einer Spielzeit in der Champions League vielleicht einmal abgesehen.
In dieser Saison ist das etwas anders. In der überraschend durchgewürfelten Premier League belegen die Spurs aktuell den zweiten Platz und spielen im zweiten Jahr unter Coach Mauricio Pochettino sicher den interessantesten Fußball aller Spitzenteams der englischen Eliteklasse. Mit dabei ein paar alte Bekannte: Der frühere Kölner Kevin Wimmer hat sich nach der Verletzung von Jan Vertonghen in der Innenverteidigung etabliert, und im Offensivspiel wirbeln regelmäßig Christian Eriksen und Heung-Min-Son. Der eine, im Sommer 2013 über Monate hinweg zum Götze-Nachfolger in Dortmund geschrieben, könnte nun beweisen wollen, die bessere Wahl als Henrikh Mkhitaryan gewesen zu sein, während der andere sich vermutlich wie ein Schneekönig auf die Möglichkeit freut, mal wieder in Dortmund ein entscheidendes Tor erzielen zu können. So schön die Vorstellung also auch ist, mit dem BVB in der kommenden Woche noch ein richtig altes englisches Fußballstadion besuchen zu dürfen, das leider in den nächsten Jahren durch einen Neubau ersetzt werden wird: Sportlich gesehen wird es sauschwer.
Umso ärgerlicher ist dabei, dass das Hinspiel in Dortmund stattfindet. Knapp 60 Jahre nach dem ersten Auftritt unserer Borussia auf der europäischen Bühne habe ich mir mal die Mühe gemacht, mich einigen der größten Mythen des Europapokals auf Zahlenbasis zu nähern. Zuerst:
Spielt es eine Rolle, ob man zuerst zuhause oder auswärts spielt?
Auf den BVB bezogen ist die Antwort überraschend klar: Ja. Insgesamt 26-Mal hat Borussia in K.O.-Runden auf europäischer Ebene zuerst in Dortmund gespielt. Weitergekommen sind wir in 15 Fällen, was einer Quote von 57,6% entspricht. Wurde dagegen mit einem Auswärtsspiel begonnen, was bisher 38-Mal der Fall war, erreichte der BVB in 28 Duellen die nächste Runde. Dies entspricht einer signifikant höheren Erfolgswahrscheinlichkeit von 73,7%. Dabei spielt es übrigens keine wesentliche Rolle, dass die Spiele mit berücksichtigt wurden, in denen (wie zuletzt gegen Porto) ein gesetztes Team automatisch zuerst auswärts spielen darf, wodurch man allein aus Qualitätsgründen erwarten kann, dass sich eher die Auswärtsmannschaft durchsetzt. Beim BVB gab es bisher siebenmal solche Duelle: Dreimal startete man daheim (zwei Siege), viermal auswärts (drei Siege), was den Unterschied nicht wesentlich verändert.
Wenn man nun also in den sauren Apfel beißt und das Achtelfinale mit einem Heimspiel beginnt:
Was ist ein gutes Ergebnis im Hinspiel?
Auch hier gibt es auf den BVB bezogen eine sehr klare Antwort: Jeder Sieg. Insgesamt konnte der BVB in 29 Duellen das Hinspiel für sich entscheiden und kam dann in 27 Runden auch weiter. Zudem spielt die Höhe des Sieges keine wesentliche Rolle: Beide Ausscheiden erfolgten nach eher komfortablen Hinspielergebnissen: 1987/88 im UEFA-Pokal gegen den FC Brügge (Kreis geschlossen) flog der BVB nach einem 3:0 im Hinspiel tatsächlich noch mit 5:0 nach Verlängerung aus dem Wettbewerb, und im UI-Cup 2004/05 war nach einem 0:1 im Hinspiel in Genk nach einem 1:2 im Rückspiel in Dortmund Endstation. (Nimmt man noch hinzu, dass der BVB im UEFA-Pokal 1990/91 gegen den RSC Anderlecht aus dem Wettbewerb flog und sich 2003 gegen den FC Brügge nicht für die Champions League qualifizierte, ist es kein Wunder, dass belgische Vereine als Dortmunder Angstgegner gelten, auch wenn Anderlecht in der letzten Champions League ganz souverän abgefertigt wurde.)
Wird ein Hinspiel in Dortmund nicht gewonnen, sieht es dagegen düster aus. Einzig nach einem 0:0 konnte der BVB noch einmal (1993/94 im UEFA-Pokal nach einem 1:0 in Wladikawkas) die nächste Runde erreichen. Alle anderen Unentschieden und erst Recht alle Niederlagen führen zum Ausscheiden. (Auswärts ist die Bilanz natürlich etwas besser: Achtmal kam Borussia nach einem Unentschieden noch weiter, siebenmal nach einer Niederlage.)
Und doch: Grau ist alle Theorie. Ein Sieg sollte es dennoch werden, und wie wir aus der letzten Runde wie auch aus der Theorie wissen: Am liebsten zu Null, damit man mit einem frühen Tor im Rückspiel verhindern kann, dass die White Hart Lane zur Hölle wird. Fegefeuer reicht ja schon.