Wettballern in der Champions League
Hand aufs Herz: Wer hätte gestern Nachmittag gedacht, dass er am Abend mit der Partie Borussia Dortmund gegen Legia Warschau einem Kick für die Geschichtsbücher beiwohnen würde? Das bizarre Ergebnis von 8:4, das da am Ende auf der Anzeigetafel stand, bedeutet nicht nur einen mehr als unterhaltsamen Abend für Torfetischisten, sondern auch gleichzeitig das torreichste Spiel in der Geschichte der Champions League. Ein Umstand, der beide Trainer vermutlich nur bedingt gefreut haben dürfte und sowohl Thomas Tuchel als auch Jacek Magiera werden in den Minuten vor der Halbzeitpause überlegt haben, ob sie in der Kabine jetzt lieber die Offensivbemühungen loben oder eher den Defensivspielern den Hintern versohlen sollen.
Aber lassen wir erst einmal den Blick über die Tribüne schweifen. Und wir sehen im Gästebereich: Nichts. Oder zumindest fast nichts. Nach Ausschreitungen im Hinspiel, antisemitischen Gesängen und Hool-Angriffen in Madrid sollten für das Gastspiel in Dortmund keine Karten an Gästefans verkauft werden. Normalerweise ist man an dieser Stelle als Fan versucht, sich gegen Kollektivstrafen auszusprechen und zu erklären, wie blöd doch so ein leerer Gästeblock ist. Aber in diesem Falle war diese Maßnahme aufgrund der Vorgeschichte einfach nur folgerichtig und nachvollziehbar. Und es dürfte auch jeder zumindest ein bisschen froh gewesen sein, dass da gestern Abend kein Trupp motivierter, kampferprobter Kleiderschränke aus Warschau zusammen mit den zigtausend „Normalos“ aus Dortmund auf dem Vorplatz vor der Nordtribüne aufeinandergetroffen ist.
Gänzlich ohne Fans war Legia dann aber doch nicht im Stadion vertreten. Schon auf dem Weg zum Platz auf der Süd-Ost-Tribüne überholte ich eine Gruppe von Leuten mit verdächtig neu und unbenutzt aussehenden BVB-Schals, die sich ausschließlich auf polnisch unterhielten. Aber da es sich dabei nicht um eine Gruppe Menschenfresser, sondern ältere Herrschaften handelte, war das auch alles kein Problem. Wir hätten es andersrum ja auch versucht. Sogar im eigentlichen Gästeblock auf der Nordtribüne versammelte sich eine größere Gruppe von Leuten aus Warschau, die von Dortmundern umringt waren, offenbar ohne dass man sich gegenseitig irgendwie im Weg war. Als dann aber ein weiterer Trupp im Oberrang abgetrennt von allen anderen auftauchte, entschloss man sich wohl, sich denen anzuschließen und als Gruppe zusammenzustehen. Es dürften dann unterm Strich 200 bis 300 Leute gewesen sein, die dort fast über neunzig Minuten hinweg sangen, klatschten und in Halbzeit 2 mit freiem Oberkörper das Spiel verfolgten. Kann man mögen, muss man nicht. Auf mich wirkt es zumindest irgendwie befremdlich, wenn man da einfach so sein Ding durchzieht und nicht ein kleines bisschen angefressen wirkt, wenn die eigene Mannschaft gerade Tor um Tor kassiert.
Und auf Dortmunder Seite? Zumindest in der ersten Halbzeit war das für das bislang äußerst maue Supportniveau in der CL sogar ganz ordentlich. Wobei es natürlich leicht fällt, einen gewissen Lärmpegel aufrecht zu erhalten, wenn da unten auf dem Platz ein Schützenfest abläuft. In der zweiten Halbzeit war die Stimmung dann deutlich schwächer und wurde bis auf die Torjubel fast nur noch von den Ultragruppen getragen. Was vermutlich aber auch daran lag, dass man irgendwann den Eindruck hatte, einem netten Sommerpausenkick beizuwohnen statt ernsthaftem Fußball.
Erste Spielhälfte
Und jetzt raus auf den Platz. Die ersten zehn Minuten ließen nicht ansatzweise erahnen, was da für ein Spiel auf uns zukommen sollte. Borussia mit gefühlt 90 % Ballbesitz, der aber fast ausschließlich zu Pässen in die Breite genutzt wurde. Legia verteidigte mit Mann und Maus den eigenen Strafraum und unsere Jungs suchten vergeblich die Lücke. Ein ziemlich zähes Spiel kündigte sich an. Und es deutete wirklich nichts darauf hin, dass ausgerechnet Warschau die Richtung des Spiels massiv ändern sollte.
Ein weiter Ball nach vorne, ein äußerst mäßiges Engagement von Bartra im Kopfballduell und der Ball landete in der Mitte bei Prijovic. Und Ginter so zu dem: „Wetten, dass du es nicht schaffst, den Ball von hier aus dem Stand in den Winkel zu schießen?“ – Und Prijovic so: „Ok, mach mal Platz“. Weidenfeller dann zum ersten Mal mit der Lieblingsbeschäftigung für Torwarte am gestrigen Abend: dem Ball-ins-Tor-hinterher-gucken. Ja, scheiß die Wand an. Legia führte und die Aufgabe schien deutlich schwerer zu werden als erwartet.
Damit wurde endgültig ein denkwürdiger Abend eingeläutet. In der 17. Minute bekam Dembélé den Ball an der Strafraumgrenze und statt selber zu gehen oder zu schießen, spielte er so einen halb gelupften, langsamen Ball Richtung langer Pfosten. Und während man auf der Tribüne noch schimpfte, was dieser Kackpass denn sollte, rauschte Kopfballungeheuer Kagawa heran und nickte den Ball einfach mal locker ein.
Nur eine weitere Minute später spielte Dembélé erneut Shinji im Strafraum an, der nicht nur unendlich viel Platz, sondern auch freies Schussfeld hatte. Aber wohl auch irgendwie die Füße falschrum und den Ball nicht da, wo er sein sollte. Ach, sei es drum. Gestern bekam er dann einfach mal die gefühlten fünf Minuten Zeit, um alles an die richtigen Plätze zu sortieren und den Ball in aller Ruhe ins Tor zu knallen.
An dieser Stelle mal ein kleiner Einwurf zu Dembélé: Natürlich ist es merkwürdig, einen Spieler mit drei Vorlagen und (Achtung: Spoileralarm) einer eigenen Bude zu kritisieren, aber der Junge sollte sich echt mal wirklich auf das Spiel konzentrieren. So viel laxe Ballverluste, einfache Fehlpässe und unnötige sowie nicht erfolgreiche Hackentricks funktionieren vielleicht gegen einen Gegner wie gestern, in der Bundesliga sagt da aber jede Mannschaft artig danke.
In der zwanzigsten Minute durfte dann Nuuuuuuuuri, Nuuuuuuuuuuuuri, Nuuuuuuuuri ein auch von ihm selbst viel bejubeltes Tor erzielen. Hoher Ball in den Strafraum und Legias Keeper beförderte den Ball mit einer nur rudimentär als solche zu erkennenden Abwehrbewegung gegen Sahins Fuß, von dem er ins Tor prallte. Arnd Zeigler gefällt das.
Bei so viel defensiver Unzulänglichkeit wollten sich dann auch Passlack, Bartra und Ginter nicht lumpen lassen und öffneten erneut mal alle Scheunentore ganz weit. Auf der linken Abwehrseite stand ein polnischer Angreifer auf einmal ganz frei und Ginter entschloss sich, auf einen Pass in den Rücken der Abwehr zu spekulieren. Die Idee war ja irgendwo gut und auch ziemlich richtig, aber wenn man dann einfach nur so in der Gegend rum steht, dann steht es auf einmal - ja, tatsächlich – nur noch 3:2.
Und an dieser Stelle kommen wir nicht umhin, den großen, alten Mann im Tor zu ehren. Es ist eine herausragende Leistung, als Torwart die Szene des Spiels zu liefern, wenn die Stürmer vorne um die Wette ballern. Aber Roman, also der Weidenfeller Roman, zeigte mal allen jungen Bengels im Team, wie die alten Hasen das machen und setzte nur wenig später im eigenen Strafraum zum Fallrückzieher an. Dass dieser artistisch geschlagene Ball wieder innerhalb des Strafraums landete, führt allerdings natürlich zu Abzügen in der B-Note. Vermutlich wähnte er sich von einem Gegenspieler bedrängt und meinte, nur damit den Ball klären zu können. Unter dem Strich steht allerdings eine grandiose Torwartaktion, die auch bei den älteren Fans das Gefühl vermittelte, jetzt wirklich alles im Fußballerleben gesehen zu haben. Übertroffen nur noch vom legendären scorpio kick des ebenso legendären René Higuita.
Und jetzt entschuldigt mich bitte, dass die weiteren Tore nur noch im Telegrammstil erfolgen, ansonsten wird das ein abendfüllendes Programm. Nach Dembélés Tor zum 4:2 war es dem Rückkehrer Marco Reus vorbehalten, das echt nett anzusehende 5:2 zu machen. Im One-Touch-Stil von der Mitte nach außen, von da wieder in die Mitte an den Fünfer, ohne dass der Ball dabei ein Mal den Rasen berührte und Marco ließ sich nicht lange bitten. Normalerweise der Zeitpunkt, in dem man von „Geschichten, die nur der Fußball schreibt“ redet. Was aber nach vier vorangegangenen Toren und bei diesem Spielstand etwas schwer von der Tastatur geht. Ende Halbzeit eins.
Zweite Spielhälfte
Reus war es dann in der 52. Minute vorbehalten, den Torreigen erneut zu öffnen und den Querpass von Dembélé völlig blank rein zu machen. Ein zweistelliges Ergebnis schien da wirklich in greifbarer Nähe. Und dabei riss unsere Borussia nicht einmal ein echtes Offensivfeuerwerk ab. Sobald man wirklich vor dem Tor der Polen auftauchte, schien der Ball wie von Zauberhand einfach im Netz zu landen.
Das war auch bitter nötig, weil man hinten dem Gegner nämlich ähnliche Freiheiten gewährte. So eng es teilweise vorne am gegnerischen Strafraum zuging, so unendliche Weiten ließ man hinten frei, in denen sich Legia nach Herzenslust austoben konnte. Kurcharczyk und Nikolic nutzten das noch zwei weitere Male zu eigenen Treffern.
Machte aber gar nichts, weil Passlack auch noch mit dem Kopf einen abgewehrten Schuss von Schürrle locker einnickte und in der 92. Minute Marco Reus seinen dritten Treffer verbuchte. Bezeichnenderweise mit einem abgefälschten Schuss, den er dem Warschauer Keeper durch die Beine tunnelte.
Puh, Ende. Und da stehen dann zwölf Tore und ein Ergebnis, das selbst im Eishockey nicht oft vorkommt. Zum Zugucken total lustig (wenn man auf der richtigen Seite mitfieberte), aber trotzdem hatte das mit Fußball auf Champions-League-Niveau kaum etwas zu tun. Es war eher wie ein ausgelassener Besuch auf dem Rummel, bei dem beide Teams begeistert dem Ausruf „Jeder Schuss 'ne Mark“ folgten und sich schlichtweg gar nicht um Defensivarbeit scherten. Es wäre echt nett, wenn man Samstag in diesem Bereich deutlich mehr Ernsthaftigkeit an den Tag legen könnte, weil uns Frankfurt sonst amtlich auseinandernimmt.
Sascha, 23.11.2016