Tuchel, der Zauberer
Selten gewinnen Trainer die Spiele. Eher würde man Fans oder einem Stadion einen größeren Anteil zubilligen. Doch wie BVB-Trainer Thomas Tuchel beim 3:2-Sieg gegen ein gutes Werder Bremen taktisch und personell auf einen zwischenzeitlichen 1:2-Rückstand reagierte, dürfte ins Lehrbuch für alle angehenden Übungsleiter dieser Welt Einzug finden.
Bevor der BVB auf sportlichem Parkett zum wiederholten Male in dieser Rückrunde den Rückstand auf die Bayern von acht auf fünf Punkten verringern wollte, unterstrich der BVB einmal mehr seine zivil- und gesellschaftspolitische Bedeutung. Auf Einladung des Vereins waren beim Spiel gegen den SV Werder Bremen nämlich die Angehörigen des Dortmunder Bürgers und BVB-Fans Mehmet Kubasik zu Gast, der im Jahr 2006 von der NSU-Terrorzelle kaltblütig ermordet wurde. Lang anhaltener Beifall hieß die Familienmitglieder, die aufgrund des skandalösen Staatsversagens und der Blindheit der Behörden auf dem rechten Auge temporär selbst in die Rolle von Beschuldigten rückten, herzlich willkommen. Nachdem die Angehörigen von der Fanbetreuung durch das Stadion geführt worden waren, nahmen sie auf der Nordtribüne Platz und waren emotional sichtlich bewegt von der Durchsage und der anschließenden Solidaritätsbekundung der 80.000 Zuschauer.
Die BVB-Fans machten derweil mit einigen Transparenten an verschiedenen Standorten im Stadion sowie einem großen Spruchband vor der Südtribüne eindrucksvoll und nachhaltig auf den Hirnriss der anvisierten Montagsspiele aufmerksam. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Spuk uns nicht so brachial treffen wird, wie es die Zweitligavereine schon seit zwei Jahrzehnten erdulden müssen. Persönlich glaube ich, dass der professionelle Fußball mittel- bis langfristig so durchkommerzialisiert und pervertiert wird, dass Montagsspiele dabei eher noch das geringste Problem darstellen werden. Im Gästeblock wurden beim Einlauf die Bremer pyromanisch aktiv. Das grelle Grün wusste dabei durchaus zu gefallen, aber so Pyro-Shows sind ja aus sicherheitstechnischen wie ästhetischen Gesichtspunkten bekanntermaßen reine Geschmacksfragen.
Da sich in den ersten fünfzehn Minuten auf dem Rasen nicht allzu viel Sportliches ereignete, konnte der Blick auf die Ränge schweifen. Dort überraschte in der Anfangsviertelstunde besonders der Bremer Anhang, der teils sehr laut war und in dieser Anfangsphase zudem auch durch eine recht hohe Mitmachquote aufwarten konnte. Vom neutralen Bereich aus beobachtet, wurde die Gelbe Wand gesanglich doch sehr an selbige zurückgedrängt. Dieses Ungleichgewicht nivellierte sich im Laufe der ersten Hälfte jedoch, wenngleich die Bremer immer wieder sporadisch überzeugen konnten. Auf jeden Fall erfreulich, mal wieder einen vollen, lauten und aktiven Gästebereich erleben zu können. Hat man ja in der Bundesliga nicht mehr so oft...
Sportlich trat innerhalb von drei Minuten nach einer Viertelstunde vor allem Erik Durm in den Mittelpunkt. Zunächst nahm er in der Vorwärtsbewegung Garcia den Ball ab, doch konnte Aubameyang den daraus resultierenden Angriff nicht erfolgreich abschließen. Kurze Zeit später „rächte“ sich Garcia per eingesprunger Doppelgrätsche von vorne und sah folgerichtig die Gelbe Karte. Schließlich verhinderte einige Sekunden später Wiedwald mit einer superben Parade das mögliche Führungstor. Erneut war Durm maßgeblich beteiligt, doch musste er im Ex-Frankfurter seinen Meister erkennen.
An dieser Stelle mal ein kleiner taktischer Exkurs, der die Qualität und Wichtigkeit Roman Bürkis illustrieren soll. Sein von hinten aufbauendes Spiel sorgte heute mit für zwei brandgefährliche Offensivaktionen. Zunächst fing er in der 23. Minute einen hohen Ball ab, als die BVB-Abwehr auf Abseits spielte. Mit einem einfach gerollten Abwurf auf Castro wurden gleich vier Bremer überspielt und somit die erste Verteidigungslinie der Bremer ausgespielt. Mit seiner Passstärke war Castro dazu prädestiniert, den Angriff weiterzuleiten. So spielte er rechts raus auf Durm, der Robben-like in die Mitte zog und mit links übers Tor schoss. Eine ähnliche Situation wiederholte sich kurz vor dem Halbzeitpfiff, als Bürki eine Freistoßflanke abfing und Aubameyang wenige Sekunden später spektakulär fast per Fallrückzieher erfolgreich sein konnte. Trotz dieser und weiterer Schussversuche von Schmelzer und Castro blieb es also zum Pausentee beim torlosen Unentschieden.
Die zweite Halbzeit sollte dagegen für alles Bisherige komplett entschädigen. 53 Minuten waren absolviert, als Reus trotz eines ziemlich harten Einsteigens von Galvez den Ball zu Micky bringen konnte, der Aubameyang steil schickte und dieser in fast schon typischer Manier zur verdienten 1:0-Führung „einlupfen“ konnte. Salto inklusive. Ein gehöriges Lob gebührt an dieser Stelle ausnahmsweise auch mal dem Schiedsrichter, der heute insgesamt eine sehr gute Partie pfiff und vor allem bei der Vorteilsauslegung brillierte.
Zu diesem Zeitpunkt war allen Zuschauern klar, dass die Bremer im Grunde nur mit Glück und/oder nach Standards zu Torchancen kommen könnten. Blöd, wenn genau dies dann auch eintrifft. Der BVB konnte eine Ecke nicht klären und Rüpel Galvez schoss den Fuß von Castro so präzise an, dass das Leder von da ins Tor trudelte (69.). Nur wenige Minuten später konnte Bender Uwe Seeler-Enkel Öztunali auch per Foulspiel nicht stoppen, wieder ließ Welz (leider) gut Vorteil laufen und Junuzovic schoss den Pass zur völlig unverdienten, fast schon surrealen 2:1-Führung ein (75.). Nun war der komplette Gästeblock in völliger Ekstase, während auf schwatzgelber Seite die lähmende Lethargie der bisherigen Spielminuten endgülig passé war und sich eine „Jetzt erst recht“-Stimmung breitmachte.
Ein neuerlicher Geniestreich Castros sollte die Aufholjagd einleiten. Seinen Steilpass spielte Schmelzer klug in den Rückraum und der eingewechselte Kagawa ließ dem guten Wiedwald im Werder-Tor keine Abwehrchance (78.). Jetzt war das ganze Stadion endgültig wieder da und der BVB auf dem Rasen nutzte diese Funken von den Rängen. Denn plötzlich klappte es nicht mehr nur spielerisch, sondern auch ganz profan nach einer Ecke, die der ebenfalls eingewechselte Pulisic rausholen konnte und der gleichfalls eingewechselte Ramos nach Micky-Vorlage herrlich zum 3:2 einköpfen konnte (82.). Die Stimmung erinnerte nun ein wenig an das 4:3 von Perisic nach einer Ecke beim legendären Spiel gegen Stuttgart vor drei plus eins Jahren. Die bange Frage lautete an diesem Samstagabend jedoch, ob die Bremer etwa auch einen Christian Gentner dabei hatten, der mit einem Last-Minute-Treffer wieder Schweigen hervorrufen könnte...
Die Norddeutschen hatten Zlatko Junuzovic dazu auserkoren, den Gentner zu mimen. Einen Pass in der Nachspielzeit erreichte der Österreicher an der Strafraumgrenze mit der Fußspitze, doch von dort ging die Kugel glücklicherweise Zentimeter am Gestänge des Bürki-Tores vorbei. Wieder waren drei Punkte für den BVB in dieser grandiosen Saison im Sack. Die direkte CL-Qualifikation wurde damit also bereits am 28. Spieltag eingefahren, was die Hymne nach Abpfiff auch akustisch untermalen sollte. Mit Hinweisen auf den kommenden Derbysieg und die sonstigen Jubelarien endete mal wieder ein herrlich gelungener schwatzgelber Abend im Westfalenstadion.
Und dann war da noch...
… eine Sammelaktion unter der Südtribüne, die bei einigen Fans ob der Urheber und des Zwecks für Irritationen sorgte. Aufgrund vieler Anfragen, die Mitglieder von schwatzgelb.de während der Partie erreichten, wer denn da für was sammeln würde, können wir aufgrund der bis jetzt uns vorliegenden Informationen verlautbaren lassen, dass keine der drei bekannten Ultra-Gruppen im Zusammenhang mit dieser Sammlung steht.
Stimmen zum Spiel
Julian Weigl: Ich habe mich heute gut gefühlt und viele Räume gefunden. Das erste Gegentor war sehr ärgerlich, weil abgefälscht, aber das kann mal passieren. Nach dem zweiten Gegentreffer waren wir kurz unter Schock, aber haben direkt die Antwort gegeben. Wir hatten das Spiel jederzeit im Griff. Durch die vielen Siege haben wir das Selbstvertrauen und wissen, immer ein Tor machen zu können, zu Hause vielleicht sogar noch einfacher.
Viktor Skripnik: Das war eine sehr gute Leistung von uns. Es war alles da: Die Moral, die Ordnung, der Wille und der Glaube an uns selbst. Jetzt stehen wir da mit leeren Händen und schütteln den Kopf, weil wir ein Tor zu viel kassiert haben. Wir werden uns weiter ruhig vorbereiten, die nächsten sechs Spiele sind wichtig, vor allem die zwei direkt aufeinanderfolgenden Heimspiele. Von der Leistung heute werden wir profitieren.
Thomas Tuchel: Es war ein intensives Spiel mit ein paar Wendungen. Anfangs sah man, dass wir eine Pause hatten und Werder hat auch anders verteidigt als erwartet. Wir brauchten Zeit uns freizuspielen. Die letzten zwanzig Minuten der ersten Hälfte waren wir dann sehr dominant, haben uns in der Offensive aber zu viele technische Fehler geleistet. Trotzdem hatten wir einige Möglichkeiten in Führung zu gehen. In der zweiten Halbzeit gehen wir verdient in Führung und verpassen dann nachzulegen. Auf den plötzlichen Rückstand haben wir dann eine außergewöhnliche Reaktion gezeigt und sind ruhig geblieben, ohne langsam zu werden. Über viele Siege haben wir inzwischen das Selbstvertrauen, auch in Bezug auf unsere späten Tore. Heute war es eine außergewöhnliche Atmosphäre im Stadion und es war ein Genuss für jeden Trainer und Spieler. Ein dickes Kompliment an die Fans!
Zeugnistag
Roman Bürki: Bei den Gegentoren ohne Chance. Mit guter „Offensivleistung“. Note 3.
Sven Bender: Sah beim 1:2 nicht gut aus, ansonsten weitgehend sicher. Note 3,5.
Henrikh Mkhitaryan: Vorbereiter zweier Treffer und auch sonst präsentester Offensivakteur. Note 1,5.
Marco Reus: Beste Szene beim „gefoulten Pass“ vorm 1:0, sonst eher blass. Note 4.
P.-E. Aubameyang: In typischer Manier das 1:0 erzielt. Kam sonst diesmal aber nicht über gefährliche Ansätze hinaus. Note 2,5.
Lukasz Piszczek: Konnte sich gegen die eng massierte SVW-Defensive offensiv nicht entscheidend in Szene setzen. Hinten weitgehend beschäftigungslos. Note 3,5.
Gonzalo Castro: Weltklasse-Pass vor dem wichtigen 2:2. Weiter komplett unterschätzt im Erfolgsgefüge der BVB-Elf. Note 2,5.
Matthias Ginter: Defensiv solide, ohne darüber hinaus mehr fürs Spiel nach vorne zu probieren. Note 3.
Marcel Schmelzer: Blieb bis auf das herrlich durchdachte Zuspiel vor dem 2:2 eher unauffällig. Siehe ansonsten auch Piszczek. Note 3,5.
Julian Weigl: Dreh- und Angelpunkt im BVB-Aufbauspiel. Hohe Passsicherheit in alle Richtungen. Note 2.
Erik Durm: Vor allen in der ersten Halbzeit größter BVB-Aktivposten neben Mkhitaryan. Note 2.
Ramos, Pulisic und Kagawa erhalten trotz und gerade wegen ihrer offensiv wichtigen Aktionen keine einzelnen Noten. Stattdessen erhält ihr Trainer Tuchel für seine Einwechselkünste die Note 1!
Daten zum Spiel
BVB (4-2-3-1): Bürki – Piszczek, Ginter, Bender, Schmelzer (80. Ramos) – Weigl, Castro – Durm (74. Kagawa), Mkhitaryan, Reus (80. Pulisic) – Aubameyang
SVW (5-3-2): Wiedwald – Gebre Selassie, Galvez, Vestergaard, Garcia (65. Öztunali), Sternberg – Yatabaré (85. Lorenzen), Fritz, Grillitsch – Ujah (86. Fröde), Junuzovic
Tore: 1:0 Aubameyang (53., Rechtsschuss, Vorarbeit Mkhitaryan), 1:1 Galvez (69., Rechtsschuss, ohne Vorarbeit), 1:2 Junuzovic (74., Rechtsschuss, Öztunali), 2:2 Kagawa (77., Linksschuss, Schmelzer), 3:2 Ramos (82., Kopfball, Mkhitaryan)
SR: Welz (Wiesbaden, Assis: Foltyn, Schaal, 4. Mann: Schröder)
Zuschauer: 81.359 (ausverkauft)
Chancen: 9:3
Torschüsse: 23:9
Ecken: 11:2
Flanken: 16:7
Ballkontakte: 65% : 35%
gew. Zweikämpfe: 48% : 52%
Fouls: 13:6
Abseits: 1:4
Malte D., 03.04.2016
Die Spruchbänderaktion im Video: