Dortmund mit traurigem Sieg
Auf dem Papier stehen drei weitere Punkte für den BVB. Die wahren Sieger sind jedoch die BVB- und Mainz-Fans, die in der zweiten Hälfte mit einer bemerkenswerten Sensibilität und Geschlossenheit auf den tragischen Tod eines Zuschauers reagierten. Auch schwatzgelb.de möchte auf diesem Wege den Angehörigen der verstorbenen Person sein herzliches Beileid und tief empfundendes Mitgefühl aussprechen.
Man könnte sich glatt dran gewöhnen: Jedes Wochenende Tempel! Aufgrund der kuriosen Spielplanarithmetik durfte man jetzt schon das dritte Wochenende hintereinander zu einem Heimspiel des Ballspielvereins pilgern. An diesem Wochenende ging es gegen die Mainzer, denen bis zum Wechsel Christian Heidels nach Gelsenkirchen zweifellos eine gewisse Affinität zu unserem Verein zugesprochen werden konnte - und umgekehrt. An dieser Stelle sei den Kollegen diverser Sportmedien übrigens noch einmal mit auf den Weg gegeben, dass Thomas Tuchel nie Nachfolger von Jürgen Klopp in Mainz war. Für nähere Informationen steht Ihnen Jörn Andersen gerne zur Verfügung.
Heute hier, morgen dort
Apropos Tuchel: Inzwischen ist es ja fast schon zum Kult avanciert, den Kader des aktuellen Spiels zu prognostizieren. Zu überraschend sind die personellen Wechsel, die TT Woche für Woche vornimmt. Im einen Spiel noch gefeierter Held, findest du dich bei der nächsten Partie inmitten der Schönen und Reichen auf der Ehrentribüne wieder. Umgekehrt genauso: Wollte man sich gerade noch auf den nächsten Shopping-Trip vorbereiten, klingelt plötzlich das Telefon und du bist doch im erlauchten 18er-Kader dabei.
Die größte Faszination ergibt sich diesbezüglich aber aus der Tatsache, dass in den meisten Fällen kein signifikanter Bruch im Spiel festzustellen ist. Die dominanten Ballbesitzstrategien finden in jedem Spiel und bei jedem Gegner, sofern er nicht aus Bavaria kommt, ihren Niederschlag. Nur ein Großteil des BVB-Publikums scheint sich damit nicht recht anfreunden zu wollen, hört man doch immer noch recht lautes Murren, wenn es nicht à la Klopp im Vollgastempo nach vorne geht, sondern noch mal hintenrum gespielt wird und im Zweifel sogar Bürki an den Ball gelangt. Gerade letzterer Aspekt sorgt beim Dortmunder Publikum für den wohl größten Adrenalin-Kick in dieser Saison. Die Zeit wird zeigen, ob sich die BVB-Zuschauer auf das (fußball-)intellektuelle Abenteuer Tuchels zukünftig noch stärker einlassen werden.
Im Vergleich zum grandiosen Sieg gegen Tottenham rotierte Tuchel erwartungsgemäß Weidenfeller aus dem Tor. Zu ihm auf die Bank gesellten sich Piszczek und Weigl, während Sven Bender aufgrund einer Zerrung passen musste. Neu in der Startelf standen Bürki, der wiedergenesene Sokratis sowie Sahin und Kagawa. Der Gast aus Rheinland-Pfalz betrat das heilige Geläuf mehr oder weniger mit seiner Erfolgself der letzten Wochen (beliebte Floskel, wenn man keine Ahnung und keinen Bock hat, sich um den Gegner kümmern zu wollen!), die durch ihren Sieg in München das Meisterschaftsrennen kurzfristig noch einmal spannend machen konnte. Besonders gefährlich in den letzten Wochen war dabei der auch heute wieder aufgebotene Yunus Malli, der ja auch immer wieder mit unserem Verein in Verbindung gebracht wird.
Das Geschehen vor dem Spiel war unspektakulär. Weder gab es spezielle Sprechchöre noch Spruchbänder. Allerdings kann man sich vortrefflich darüber streiten, ob es wirklich eine sinnvolle Neuerung darstellt, dass die Mannschaftsaufstellung beim Einlauf der Teams zelebriert wird. Immerhin ist diese Innovation deutlich weniger peinlich als die „Tribünenabfrage" Dickels kurz davor. Wenn irgendeinem BVB-Fan mal eine gute Fee mit drei Wünschen erscheinen sollte, möge er bitte einen davon für die Abschaffung dieses kollektiven Fremdschäm-Augenblicks nutzen. In der Folgezeit war zwischen Mannschaft und Fans ein Wechselspiel in puncto Routine zu beobachten. Nahtlos knüpfte die Süd an die eher durchschnittlichen Darbietungen der letzten Bundesliga-Heimspiele an. Mehr und mehr verfestigt sich der Eindruck, dass ein nicht unerheblicher Teil der Ränge nur noch bei den Pokalwettbewerben auflebt. Auf der Gegenseite war bis auf den „ultrigen" Teil der Mainzer ebenfalls keine große Aktivität zu beobachten.
Meister gegen Lehrling
Während diese Woche das asiatische Brettspiel Go und der Kampf zwischen Mensch und Maschine die Schlagzeilen beherrschte, erlebten die 81.000 Zuschauer an diesem Sonntagabend eine überlebensgroße Version des modernen Rasenschachs, wobei nicht Kasparow, Anand oder Carlsen brillierten, sondern das Duell zwischen Lehrmeister Tuchel und Azubi Schmidt im Mittelpunkt stand. Einst entdeckte Tuchel seinen Mainzer Gegenüber bei einem Jugendturnier, als der Schweizer noch für den FC Wil tätig war. Die freundschaftliche Beziehung zwischen den Trainern übertrug sich auch auf das Rasenviereck. Bis auf kleinere Gelegenheiten für Schmelzer (23.) und Bell (25.) spielte sich das Geschehen überwiegend zwischen Mittellinie und FSV-Strafraum ab.
So kam es, wie es im modernen Fußball des Öfteren zu beobachten ist: Eine Einzelaktion musste herhalten. Während dieser Umstand nicht wirklich überraschend kam, war eher bemerkenswert, dass diese Aktion nicht von einem Reus, Aubameyang oder Mkhitaryan ausging, sondern von dem weiterhin chronisch unterschätzten Castro. Er profitierte davon, dass das FSV-Mittelfeld auf ein taktisches Foul verzichtete, und spielte Reus wunderbar an, der wiederum vor Karius die Nerven behielt und zur Führung in die lange Ecke einschoss.
Ein ganzes Stadion trauert
Die bisherigen Absätze dürften verdeutlicht haben, wie sehr wir uns für die schönste Nebensache der Welt mit ihrem ganzen Drumherum begeistern können, wie wir uns aber auch über gewisse Auswüchse herrlich aufregen können. Dass all diese Aspekte aber in den Hintergrund rücken, wenn es um das Leben als Hauptsache geht, zeigte sich diese Saison nicht nur beim Heimspiel gegen Augsburg, wo die große BVB-Familie um Rüdiger Raguse und Arne Steding trauerte, sondern bewahrheitete sich auch beim heutigen Spiel. Zu Beginn der zweiten Halbzeit stellte Block Drölf jeglichen Support ein und auch die Gästeanhänger aus Mainz solidarisierten sich stante pede. Gespenstische Stille macht sich breit. Einzelne Anfeuerungsversuche einiger BVB-Anhänger, die offenbar noch nichts von den tragischen Ereignissen auf der Tribüne wussten, wurden konsequent niedergepfiffen. Eine zwar recht harsche, doch in diesem Moment einzig passende Möglichkeit, den Vorfall einigermaßen würdig zu begleiten.
Diese neue Situation sorgte auch für Irritationen auf dem Rasen. Marcel Schmelzer beispielsweise schaute immer wieder in Richtung Gelbe Wand. Der Mainzer Kapitän Julian Baumgartlinger musste sich nach Spielschluss am Zaun vorm Gästebereich erklären lassen, warum es auch von dort keinerlei Support mehr gab. An dieser Stelle sei auch ein riesiges Kompliment an die gesamte Mainzer Szene angebracht, die sich durch ihr solidarisches und sensibles Verhalten den gesamten Respekt der Dortmunder Fanszene verdient haben wird.
Aufgrund der Vorfälle außerhalb des Rasens bitten wir um Verständnis, dass das sportliche Geschehen heute möglicherweise etwas zu kurz kommt. Denn paradoxerweise zeigte der BVB trotz der allgemeinen Lethargie in der zweiten Halbzeit eine bärenstarke Leistung, die jedoch „nur" von einem weiteren Treffer Kagawas gekrönt wurde. Insbesondere Aubameyang vergab im Privatduell mit Mainz-Torwart Karius ein halbes Dutzend Chancen. Lewandowski wird ein halbes Rad der Torjäger-Kanone wohl nach Mainz schicken müssen.
Mit die emotionalsten Szene der letzten Zeit ereignete sich schließlich kurz vor dem Abpfiff, als wie aus dem Nichts die gelbe Wand ihre Schals zückte und YNWA intonierte. Das gesamte Stadion inklusive der Mainzer Sektion schloss sich dieser spontanen Reaktion an und bewies eindrucksvoll den großen Zusammenhalt der Fans innerhalb des Fußballs. Und auch nach dem Spiel verzichteten alle Beteiligten auf übertriebene Jubelarien. Anstatt der obligatorischen Freudensprünge und Gesänge nahm sich die Mannschaft in den Arm und lauschte erneut der Gelben Wand und deren emotionale a cappella-Version von YNWA. Abschließend sei noch der zweiten Person, die während des Spiels ebenfalls einen Herzinfarkt erlitten hat und sich im stabilen Zustand befinden soll, eine rasche Genesung und ein baldiges Comeback in unserem Stadion gewünscht.
Stimmen zum Tag
Reinhard Rauball: Das Spiel heute gerät deutlich in den Hintergrund. Die Reaktion der Zuschauer war hervorragend. Wie geschlossen sie ihre Trauer und ihren Respekt zeigten. Ich kann allen Fans nur ein tolles Kompliment machen. Hut ab auch vor den Mainzern, die sich ausnahmslos in diese Reihe eingeschlossen haben. Das nötigt mir unfassbaren Respekt ab! Wir haben es nicht immer einfach mit unseren Fans, wenn sie über die Stränge schlagen, aber heute zeigten sie, was Begriffe wie Ehre und Respekt bedeuten.
Martin Schmidt: Ich möchte mein herzliches Beileid aussprechen. Wir haben in der zweiten Hälfte gemerkt, wie ruhig das wurde und wie schnell 80.000 Menschen heute informiert werden können. Die Solidarität unter den Fangruppen war beeindruckend. Die Lethargie umfasste dann auch das Spiel meiner Mannschaft, sodass für uns sportlich dann heute auch nicht mehr möglich war.
Thomas Tuchel: Meine Mannschaft, der gesamte Staff und ich möchten den Angehörigen mein herzliches Beileid aussprechen. Es war eine sehr beklemmende Situation. In der zweiten Halbzeit wusste ich sehr lange nicht, was los war. Es gibt viel Wichtigeres als Fußball, doch entlässt uns dies nicht aus der Pflicht, in jedem Training und Spiel zu arbeiten bzw. dieses zu genießen. Es war eine schwierige Situation, doch entlässt uns diese nicht aus unseren Verpflichtungen. Insgesamt hat meine Mannschaft das heute und insgesamt in den letzten Wochen herausragend gemacht.
Auf Daten und die Einzelbewertungen wird heute verzichtet.
Malte D., 13.03.2016