...Constantin Eckner: 540 Tage Thomas Tuchel - Ein taktisches Zwischenfazit
schwatzgelb.de hatte die Gelegenheit, mit Constantin Eckner, einem der Autoren des Fußball-Taktik-Blogs Spielverlagerung.de, über die taktischen Probleme der aktuellen Saison, die von Tuchel vollzogenen Anpassungen und über mögliche Verstärkungen zu sprechen.
Im April dieses Jahres blickten wir bereits auf die bisherige Zeit unter Trainer Thomas Tuchel und seine taktischen Veränderungen nach Jürgen Klopp zurück. Am Ende der Saison konnte man festhalten: Die Mannschaft spielte die zweitbeste Saison der BVB-Historie, erreichte das DFB-Pokalfinale und schied gegen Liverpool auf dramatische Art und Weise in der Europa League im Viertelfinale aus. Im Sommer wurde dann (gezwungenermaßen) ein großer Umbruch vollzogen, da Mats Hummels, Ilkay Gündogan und Henrikh Mkhitaryan ihr Glück lieber bei anderen Vereinen suchten. Viele neue Spieler sind verpflichtet worden, die bisher noch keine richtige Konstanz in ihre Leistungen bekommen haben. Die Gründe dafür sind vielseitig. schwatzgelb.de hatte die Gelegenheit, erneut mit Constantin Eckner, einem der Autoren des Fußball-Taktik-Blogs Spielverlagerung.de, über die taktischen Probleme in dieser Saison, die vollzogenen Veränderungen, über die Zukunft des BVB und hilfreiche Spielertypen zu sprechen.
schwatzgelb.de: Im letzten Interview haben wir uns noch darüber unterhalten, dass es Tuchel geschafft hat, die Defizite der Mannschaft im Spiel gegen eher tiefstehende und aggressive Gegner abzustellen. Das Ballbesitzspiel wirkte in dieser Saison wiederum zu weiten Teilen, denkt man u. a. gegen die Spiele in Frankfurt und Köln, ziemlich ideenlos. Wo siehst du die Gründe und wie könnte der BVB die Probleme beseitigen?
Eckner: Die Versuche, einschneidende Abgänge während der Sommerpause zu kompensieren, haben bisher nicht gegriffen. Mit Julian Weigl verfügt Dortmund über einen talentierten Ankerpunkt vor der Abwehr, der aber auf sich allein gestellt nicht den kompletten Spielaufbau dirigieren kann. Er braucht einen Gündogan neben sich – also einen Spieler, der mit Dribblings in die gegnerische Formation eindringen und durch seine Präsenz die Aufmerksamkeit auf sich lenken kann. Betrachtet man den aktuellen Kader, so ist in meinen Augen sogar Mario Götze die beste Option für diese Rolle. Aber er wird ebenso auf der Zehnerposition benötigt.
Gonzalo Castro ist vor allem gegen offensiv ausgerichtete Mannschaften nützlich, da er Lauf- und Gegenpressingstärke in die Waagschale wirft. Und nicht zu vergessen: Der äußerst variable Raphael Guerreiro kann sich in der Rückrunde noch als wichtiges Ass im Ärmel erweisen. Zugegeben: Das aktuell praktizierte System arbeitet seltener mit gezielten Überladungen und asymmetrischen Verschiebungen auf dem Feld und ist deshalb von Grund auf schwächer als im vergangenen Jahr. Aber allein die passende personelle Besetzung auf der genannten Schlüsselposition – entweder durch interne Umstellungen oder Zukäufe – kann die Qualität des kompletten Teams signifikant erhöhen – und das in allen vier Phasen des Spiels.
schwatzgelb.de: Häufig hat man den Eindruck, dass die Mannschaft sich kopflos im Ballbesitzfußball verliert, speziell auch dann, wenn Druck auf die zentralen Aufbauspieler aufgebaut wird. Kann man das zu einem eigenen Vorteil nutzen?
Eckner: Mangelnde Pressingresistenz kann
eigentlich nie ein Vorteil sein. Selbst ausgesprochene Pressingteams wie RB
Leipzig haben pressingresistente Aufbauakteure à la Demme oder Keita. Denn selbst
bei der Vorbereitung von langen Schlägen, also der Abkehr vom geordneten
Spielaufbau, können die Passgeber unter Druck geraten und Fehler machen. Fehlen
einzelnen Spielern gewisse Mittel, um sich dem Druck zu entziehen und ist die
Aufbaustruktur nicht ausgereift, hat das auch negative Auswirkung auf hochklassige
Ballverteiler wie Weigl. Da zudem der BVB in der Regel auf massiert stehende
Defensivformationen trifft, wären auch gezielte Streupässe in ausgewählte
Korridore mit anschließendem Gegenpressing kein passendes Mittel.
schwatzgelb.de: Anschließend an die erste Frage: Was ging durch die Abgänge von Mats Hummels, Ilkay Gündogan und Henrikh Mkhitaryan an Struktur im Spiel des BVB verloren?
Eckner: Mehr oder weniger alles. Der BVB verlor die drei Schlüsselspieler in Abwehr, Mittelfeldzentrum und offensivem Zwischenraum. Könnte ein Sommer voller Abgänge noch katastrophaler verlaufen? Der BVB hatte gewiss an dem einen oder anderen Spieler Interesse, der einen Eins-zu-eins-Ersatz dargestellt hätte – und insbesondere Marc Bartra hat Potenzial, in die Fußstapfen von Hummels hineinzuwachsen. Aber insgesamt arbeitet Thomas Tuchel nun mit entwicklungsfähigen und nicht mit ausgereiften Kickern. Gerade für die Struktur und vor allem die Konstanz des Spielaufbaus hat das oftmals negative Auswirkungen. Tuchel kann noch so ausgeklügelte Systeme entwickeln, seine Spieler müssen sie auch umsetzen. Und autonome Entscheidungen sind ebenso Teil des Spiels. Das braucht Zeit und kann von den Pulisics und Dembélés nicht im Drei-Tages-Rhythmus verlangt werden.
schwatzgelb.de: Thomas Tuchel löste die taktischen Probleme in der letzten Saison mit einem 4-3-3, bei dem die Außenverteidiger sehr hoch agierten. Im Lauf der Rückrunde wurde das Ganze aber wesentlich flexibler. Besteht die Möglichkeit, dass die Mannschaft schlicht etwas überfordert damit ist, sich zu finden und sich gleichzeitig an so viel Flexibilität zu gewöhnen?
Eckner: An sich sollte das kein Problem sein,
weil die Rollen für den einzelnen Spieler in den bisher eingesetzten Systemen
ähnlich sind. Sicherlich ändern sich Passwinkel und Raumaufteilungen sowie
Kettenmechanismen und Zuordnungen, aber diese Umstellungen sollten keinen
Akteur auf diesem Niveau überfordern, zumal Tuchel nicht planlos die Systeme
wechselt und zudem trotz des engen Spielkalenders jeweils ein paar Tage
Vorbereitungszeit hat.
schwatzgelb.de: Ein weiterer Kritikpunkt, der sehr häufig vorgetragen wird, ist die vom Trainerteam praktizierte Rotation, die nicht dabei hilft, dass eingeübte Abläufe entstehen. Wie gravierend ist im Spiel die Umstellung von 4-1-4-1 auf 5-4-1 (oder wie immer man unsere Systeme mit vier bzw. drei/fünf Abwehrspielern nennen will) wirklich? Verändern sich alle Mechanismen oder nur wenige?
Eckner: Die Kritik an der in den vergangenen Monaten praktizierten Rotation bezieht sich wohl eher darauf, dass keine Abstimmung zwischen den vermeintlichen Stammspielern entstehen kann. Gemischt wurde diese Kritik zuweilen mit abstrusen Thesen, wie etwa jener, wonach doch gerade ein muskulöser Spieler wie Felix Passlack auch zwei Partien innerhalb von drei Tagen absolvieren kann. Es wird natürlich in dieser ganzen Debatte eine Art Agenda Setting betrieben. Läuft es aktuell beim BVB nicht, liegt es entweder an der angeblichen Kälte des Trainers oder eben an der Rotation.
Keine Sorge, in ein paar Monaten werden auch andere Buzzwords
benutzt. Der BVB arbeitet mittlerweile sportwissenschaftlich auf hohem Niveau
und überprüft die Belastung der einzelnen Spieler sehr genau, um eine mögliche
Überlastung zu vermeiden. Natürlich bedeutet dies nicht, dass Verletzungen und
Ermüdungserscheinungen nicht trotzdem auftreten können. Aber der Betreuerstab
versucht bewusst, Risiken zu minimieren.
schwatzgelb.de:
Im Vergleich zur Vorsaison wirkt der BVB längst nicht mehr so stabil in
seinem Defensivverhalten und als Fan gewinnt man den Eindruck, es ist
sehr leicht, ein Tor gegen den BVB zu erzielen (19 Gegentreffer in der Hinrunde). Wo siehst du die Gründe für das schwache Defensivverhalten?
Eckner: Die Defensivschwäche fängt eigentlich schon beim eigenen Aufbau an. Es gibt häufiger Ballverluste in Zonen, in denen ein Gegenpressingzugriff nur schwer möglich ist. Die Staffelungen in der Nähe des Spielgeräts sind in Gänze weniger kompakt, was die Gegenpressingstärke sowieso verringert. Und zum anderen fehlt es dem BVB an einer notwendigen konstanten Pressingintensität. Tuchels Spieler können für einen überschaubaren Zeitraum den Spielaufbau des Gegners brillant bekämpfen – so gesehen in der Anfangsphase gegen Bayern München. Über die vollen 90 Minuten ist dies jedoch im Moment nicht möglich. Diese genannten Faktoren führen in der Endkonsequenz dazu, dass Dortmunds Gegner leichter und in kürzeren Zeitabständen in die offensiven Räume vordringen können und die Defensivakteure des BVB vermehrt gefordert sind. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Fehler in der Endverteidigung gemacht werden.
Eckner: Guerreiro hat gute Ansätze auf
der Acht gezeigt. Aber der Hype in seiner Abwesenheit wirkte schon fast zu
groß. Er ist technisch begabt, spielintelligent und gedankenschnell. Das
prädestiniert ihn für diese Rolle. Trotzdem würde ich nicht alle meine Chips
allein auf Guerreiro setzen, sondern gleichzeitig noch nach einem
attackierenden Sechser Ausschau halten. Mahmoud Dahoud und Riechedly Bazoer
stehen beziehungsweise standen ja bereits im Blickfeld des Vereins. Naby Keita
erscheint als Transferoption komplett unrealistisch. Ebenso wie Mateo Kovacic.
Aber diese Spieler verkörpern das geforderte Profil im zentralen Mittelfeld.
schwatzgelb.de: Welche weiteren Spielertypen würden dem BVB gut zu Gesicht stehen und sind deiner Meinung nach erschwinglich?
Eckner: Die Finanzierbarkeit ist nicht
einmal ein Hauptproblem. Der BVB kann im Moment einen 30-Millionen-Euro-Kauf ohne
große Schwierigkeiten stemmen, sofern der Spieler dem finanziellen Gesamtpaket
entsprechend Fähigkeiten und Entwicklungspotenzial mitbringt. Die wirkliche
Frage ist doch: Welcher Topspieler könnte seinen Verein verlassen und möchte
seine Unterschrift unter ein Vertragspapier setzen? In meinen Augen sollte
Tuchel einen spielstarken Flügel-und-Mittelstürmer-Hybrid sowie einen
Halb-und-Außenverteidiger-Hybrid auf seinen Wunschzettel für Weihnachten
schreiben. Die Gerüchte um Fedor Smolov sind bisher vage, werden aber womöglich
noch konkreter. Und ein Joel Veltman ist sicherlich auch nicht außer
Reichweite.
schwatzgelb.de: Abschließend: Hältst du es für möglich, dass das gesamte Team durch das gemeinsame Training in der Winterpause einen weiteren Sprung nach vorne macht?
Eckner: Die Hinrunde hat gezeigt, dass hochkarätige Abgänge auch bei dem nun in der Ligaspitze etablierten BVB ein großes Loch hinterlassen. Das kann also die Klopp-Ära nicht exklusiv für sich beanspruchen. Zudem haben die vergangenen Monate verdeutlicht, dass Tuchel ebenso wie seine 17 Ligakollegen fehlbar ist. Aber deshalb brauchen die Fans im Stadion oder die Leser im Forum keineswegs Trübsal blasen. Der BVB gehört weiterhin zu den drei beste Mannschaften der Liga, selbst wenn die Tabelle im Moment diese These nicht untermauert.
Die Winterpause kann nützlich sein, um an Abläufen zu arbeiten oder auch, wie vor zwölf Monaten, neue Systeme einzustudieren. Zudem ergibt sich für Tuchel die Möglichkeit, bei seinen bis dato unter Welpenschutz stehenden Jungprofis ein wenig den Druck zu erhöhen. Das kann einer Bestandsaufnahme nur dienlich sein und den Verantwortlichen dabei helfen, wie man mit den Talenten umgeht. Vielleicht entscheidet man sich, Leihgeschäfte zu forcieren und den Markt nochmals nach potenziellen Neuzugängen zu durchforsten.
schwatzgelb.de: Wir bedanken uns für das Gespräch.
Zur Person: Constantin Eckner ist
Analyst beim Fußball-Taktik-Blog Spielverlagerung.de und leitender Redakteur
der englischen Version Spielverlagerung.com. Außerdem schreibt er als freier
Journalist über Taktik, Statistik und Trainingslehre für Sport1, n-tv.de, ZEIT
Online und andere.