Von Abschieden, Freunden und der wichtigsten Nebensache der Welt
Es ist der Tag des Abschieds von Sebastian Kehl und Jürgen Klopp, es ist 15:20 Uhr und ich stehe nicht wie sonst bei jedem Heimspiel meiner Borussia schon seit mindestens 90 Minuten im Block 13 im Herzen der Südtribüne. Ich mache mich gerade erst auf den Weg ins Westfalenstadion. Pünktlich werde ich sicher nicht mehr dort ankommen. All die Rituale, die sich sonst wie selbstverständlich abspielen und mit denen ich mich auf ein Spiel vorbereite, hat es für mich heute nicht gegeben. Das Treffen mit den Jungs am Vinckeplatz, der gemeinsame Fußweg zum Stadion, das Glückspinkeln auf dieser einen ganz bestimmten Stadiontoilette, das Einnehmen unserer Plätze am Zaun zu Block 12, das Aufhängen der Trommeln, das Quatschen, Witze machen, gemeinsame Lachen während der quälend langen Minuten bis zum Anpfiff.
Die Verabschiedung von Sebastian Kehl werde ich auch verpassen. Dennoch, als ich um 15:20 die Wohnung verlasse, könnte mir nichts egaler sein, denn den viel schwierigeren Abschied habe ich heute schon hinter mir. Heute morgen wurde mein Opa beerdigt, nur acht Wochen nach meiner Oma.
Der Opa, auf dessen Schoß ich als kleiner Stöpsel gesessen und mit ihm die Sportschau geschaut habe. Dazu gab es immer Brötchen und Fleischwurst, wohl eines meiner ersten Rituale im Zusammenhang mit Fußball. Ich habe heute noch die jaulenden Presslufttröten im Ohr, die früher zu jeder Fußballübertragung gehört haben. Fan war Opa natürlich vom BVB. Irgendwann wolle er mal mit mir zu einem Spiel gegen die Blauen gehen, hat er bei einem dieser Sportschau-und-Fleischwurst-Abende gesagt. Mein Stöpsel-Ich hat damals geantwortet, dass das sicher toll, aber doch bestimmt viel zu gefährlich wäre, wir sollten das vielleicht lieber lassen. An dieser Stelle muss ich lächeln und mein Gegenwarts-Ich, das mitlerweile wohl an die 25 bis 30 Derbys im Stadion gesehen hat, tätschelt meinem naiven und ängstlichen Vergangenheits-Stöpsel-Ich in Gedanken den Kopf.
Bis zuletzt hat es kaum ein Telefongespräch und kaum einen Besuch bei Opa im Münsterland gegeben, bei dem nicht das letzte Spiel von Borussia besprochen oder sich leidenschaftlich über Funktionäre aufgeregt wurde (mit Vorliebe Rummenigge oder Sammer "Den fand ich schon immer falsch!"). Bei jeder Sky-Übertragung hat Opa nach unserer Fahne auf der Südtribüne Ausschau gehalten. Das Fanbuch "Unser ganzes Leben" lag auch meist griffbereit; mit Haftnotizen die Seiten markiert, auf denen Fotos abgedruckt sind, die ich zum Buch beisteuern durfte oder auf denen meine Schwester und ich zu sehen sind. Mein Opa hat einen riesengroßen Teil zu meiner Fußballbegeisterung beigetragen, nicht nur bei mir, sondern auch bei meiner großen Schwester, die es dann letztendlich gewesen ist, die mich zu meinem ersten Spiel ins Westfalenstadion mitgenommen hat.
Ganz davon abgesehen waren meine Großeltern unglaublich liebevolle Menschen. Große Vorbilder in Sachen Fürsorge und Hilfsbereitschaft und absolute Familienmenschen. Es gab wohl für die Beiden nichts Schöneres, als von allen Kindern, Enkeln und zuletzt auch dem ersten Urenkel umgeben zu sein. Dementsprechend könnte der Verlust kaum größer sein. Trotzdem mache ich mich nach der Beerdigung meines Opas auf den Weg ins Stadion. Warum weiß ich selbst nicht so ganz genau. Fakt ist: er hätte mit Sicherheit nichts dagegen gehabt und zuhause wüsste ich einfach nicht, wohin mit mir, und würde wohl nur den ganzen Tag wie eine Raubkatze im Zoo rastlos durch die Wohnung laufen.
15:30 Uhr, Anstoß im Westfalenstadion. Ich stehe in der U-Bahn-Station Reinoldikirche und muss noch einige Minuten auf die nächste Bahn warten. Auf Twitter sehe ich die ersten Bilder von der Klopp-Choreo und meine halbe Timeline scheint heulend im Stadion zu stehen. In diesem Moment bin ich froh, den Kehl-Abschied verpasst zu haben, emotional bin ich heute aus einer völlig anderen Richtung angeschlagen und mir ziemlich sicher, dass ich mir bei einem so emotionalen Moment im Stadion ziemlich fehl am Platz vorkommen würde. Klar, der Klopp-Abschied steht noch für nach dem Spiel auf dem Programm, aber da könnte ich dann ja schon längst das Stadion verlassen haben.
Es ist für mich einer dieser Tage, die einem bewusst machen, dass Fußball eben doch nur diese berühmte schönste Nebensache der Welt ist. Einer dieser Tage, an denen einem klar wird, dass es durchaus wichtigere Probleme gibt als Tabellenstand, vergebene Torchancen, Trainerabschiede, scheiß Anstoßzeiten und viel zu hohe Spielergehälter. Ich bin mir sicher, für den Fußball und seine banalen Probleme ist in meiner Gefühlswelt heute kein Platz.
Als ich gegen 15:40 an der Station Westfalenhallen aus der U-Bahn steige und mich auf die letzten paar hundert Meter Fußweg zum Stadion mache, bin ich vor allem neugierig, was während eines Spiels so rund um das Stadion los ist, wieviel Stimmung aus der riesigen Betonschüssel, randvoll gefüllt mit 80.000 Menschen, herausschwappt und wie sich das Spiel für mich später wohl anfühlen wird. Ich bin noch immer recht überzeugt davon, heute emotional von alldem entkoppelt zu sein.
Ich passiere die Westfalenhalle und das Stadion schiebt sich das erste Mal riesengroß in mein Blickfeld. Schon vorher habe ich es summen und brummen gehört. Die ersten Gesänge branden an meine Ohren, während ich durch die Rosenterassen laufe. Irgendwo tief in mir fängt es jetzt doch an zu kribbeln. Es ist erstaunlich wenig los. Einige versprengte Fans in Trikots und mit Schals kommen mir entgegen, alle waren wohl mit der Hoffnung gekommen vielleicht doch noch eine bezahlbare Karte für den letzten Spieltag zu bekommen. Jeder einzelne fragt mich, ob ich nicht vielleicht noch eine Karte übrig habe. Jedem einzelnen muss ich auch die letzte Hoffnung zerstören und bekomme fast ein schlechtes Gewissen. Ich laufe an der langen Schlange derer vorbei, die das Spiel im Strobels-Biergarten verfolgen wollen, der aber offensichtlich schon randvoll ist und die Gesänge aufnimmt, die aus dem Stadion schwappen. Als ich gerade an ein paar Fans vorbeilaufe, die am Zaun hinter der Nordtribüne stehen um durch die Mundlöcher den kleinen Ausschnitt der Süd sehen zu können, auf dem ich gleich meinen Platz einnehmen möchte, fällt das erste Tor für den Ballspielverein. Der Westfalenstadion-Roar erwischt mich eiskalt und walzt mich nieder. Ich beschleunige unwillkürlich meine Schritte, gehe durch das letzte geöffnete Tor, lasse mich vom Ordner halbherzig durchsuchen und mache mich auf den Weg Richtung Süden. Im Vorbeilaufen erhasche ich einen Blick auf den proppevollen Gästeblock. Ich sehe Bewegung und Klatschen, höre aber mittlerweile nichts als die Südtribüne, die vom Tor besoffen Vollgas gibt. Als ich unter der Osttribüne bin, macht Aubameyang das zweite Tor, das Stadion explodiert über mir. Die Südtribüne singt vom Europapokal und ich habe ein Lächeln auf dem Gesicht.
Ein paar Minuten später wühle ich mich durch die Menschenmassen in Block 13 zu meinen Freunden. Den Jungs und Mädels, die ich wahrscheinlich ohne den Fußball niemals kennen gelernt hätte, die meine Leidenschaft teilen, denen man nicht erklären muss, warum zum Teufel man durch die ganze Republik und halb Europa fährt, um 90 Minuten Fußball zu sehen, die einen nicht schräg ansehen, wenn man wegen scheinbaren Nichtigkeiten an die Stadiondecke geht und die auch abseits des Fußballs meine besten Freunde geworden sind.
Als das Gegentor fällt, als die Südtribüne trotzdem hüpft, als ich mich mit meinen Freunden zusammen freue und ärgere und als Kagawa einen unfassbaren Ball auf Mkhitaryan spielt, den der auf großartige Weise im Vollsprint leichtfüßig vom Himmel pflückt und wie selbstverständlich hinter Casteels ins Tor legt, ist alles fast wie immer. Der Schatten liegt weiterhin auf mir, erwischt mich in den ruhigeren Momenten, aber er verschwindet auch immer mal wieder minutenlang. Als Kehl unter tosendem Beifall den Rasen verlässt und mein Herz schneller schlägt, erscheint mir die Vorstellung, jemals von diesem Verein emotional entkoppelt sein zu können, ganz ganz weit weg. Das Stadion schon vor Klopps Abschied zu verlassen, ist längst keine Option mehr.
Keine Frage, der erste Abschied des Tages wird mich noch länger und intensiver beschäftigen, als die beiden darauf folgenden. Ich werde nicht abends im Bett liegen und ein paar Tränen verdrücken, weil Klopp irgendwo in England oder in Spanien Vollgasfußball spielen lässt, oder weil Sebastian Kehl keine Bälle mehr im Mittelkreis abgrätscht. Ich werde aber noch lange Tränen verdrücken, wenn die Dunkelheit der Nacht über mir zusammen bricht und mir klar wird, dass mein Opa nicht mehr da ist, dass er nicht mehr nach der Fahne Ausschau hält oder auf der Suche nach seinen Enkeln durch das Fanbuch blättert.
Fußball ist die schönste Nebensache der Welt heißt es. Fußball ist für mich auch eine der wichtigsten Nebensachen der Welt, denn der Fußball, meine Borussia, meine Freunde, ein Tag im Stadion, können mich aufsaugen wie nichts sonst. Können mich 90 Minuten lang fast alles vergessen lassen. Die Emotionen, die der Fußball mit sich bringt und die Emotionen, die das wahre Leben bedeuten schließen sich nicht aus, sie liegen auch nicht im Wettstreit. Beide Welten existieren nebeneinander. Es gibt Tage, an denen der Fußball mir nichts bedeutet, mir nichts bedeuten kann. Aber es gibt auch die Tage, an denen mich ein Tag im Stadion unter Freunden auffangen kann. Und sei es nur für 90 Minuten. Danke Fußball. Danke Borussia.
Danke Opa.
Tobi, 24.05.2015