Die Stunde null
Trainerwechsel gehören zum Profifußball dazu. So gewöhnlich wie ein Fanschal oder ein Torerfolg. Wenn man HSV-Fan ist, dann ist so eine Neubesetzung auf der Trainerbank sogar gewöhnlicher als ein geschossenes Tor. Aber es gibt Wechsel, die sind besonders. Weil sich dort nicht einfach ein zeitlich befristeter Angestellter von seinem Arbeitgeber trennt. Guy Roux in Auxerre, Sir Alex Ferguson in Manchester, Otto Rehhagel in Bremen, Ottmar Hitzfeld in seiner Dortmunder Zeit – oder eben Jürgen Klopp zum Saisonende. Natürlich, bis auf Ottmar waren alle länger als Kloppo bei ihren Vereinen, aber sie haben alle eins gemeinsam: sie waren in der DNA des Vereins verankert. Sie haben bei ihren Vereinen ein tiefes Loch hinterlassen, das nur schwerlich, manchmal gar nicht wieder verfüllt werden konnte. Die Stunde null für den Verein.
Die Herausforderung, vor der der BVB jetzt steht, könnte größer nicht sein. Seit 2008 hat sich Borussia nahezu bedingungslos auf Klopp eingelassen. Ohne Frage, der BVB hat davon enorm profitiert, so lange die Beziehung frei von Problemen und Sorgen war, aber immer mit dem Risiko, sein Schicksal eng mit dem des Trainers verwoben zu haben. Jürgen Klopp zu ersetzen wird eine echte Mammutaufgabe – und der sportliche Bereich ist dabei fast noch die kleinste Aufgabe, die es zu lösen gilt. Der Kreis der Kandidaten reduzierte sich von selbst auf Personen, die zumindest eine ähnliche Spielphilosophie wie Klopp haben. So war es nicht nur wegen des zeitlichen Ablaufs keine große Überraschung mehr, dass der BVB sehr schnell Thomas Tuchel als Nachfolger präsentierte.
Warum Thomas Tuchel?
Aus einem notwendigen Umbau zu Beginn von Klopps Tätigkeit in Dortmund ist im Laufe der Jahre ein hoher Grad von Spezialisierung auf eine Spielart geworden. Besonders drastisch in der Offensive, in der das Hauptaugenmerk auf Spielern gelegen hat, die laufstark sind, aber ansonsten im Umschaltspiel mit Tempo aus der Tiefe des Raumes kommen können. Dass man damit im Laufe der Zeit mehr und mehr in einer Sackgasse gelandet ist, zeigt diese Saison, die eben nicht nur aufgrund einer schlechten Vorbereitung, einer Weltmeisterschaft und wegen vieler Verletzungen deutlich unter den Erwartungen geblieben ist. Aber man wird den Schalter auch nicht einfach umlegen und mit einem neuen Übungsleiter das Spiel des BVB neu (er)finden können. Die Mannschaft, so wie sie aktuell zusammengestellt ist, ist nicht geeignet für Spielarten, die zum Beispiel auf Ballbesitz oder ein starkes Flügelspiel ausgerichtet sind.
Ein Umbau auf einem Niveau, der eine Rückkehr in die Champions League zumindest möglich macht, würde wirklich tiefgreifende Änderungen mit einigen Spielerver- und zukäufen bedeuten. Angesichts der Tatsache, dass in dieser Saison der Glanz des „Tafelsilbers“ deutlich matter geworden ist, mittlerweile auch die obere Mittelklasse preislich bei zehn Millionen anfängt und man nicht mehr mit der Aussicht, in der Beletage des europäischen Fußballs kicken zu können, für sich werben kann, dürfte das einen enormen finanziellen Kraftakt bedeuten, der vielleicht auch nicht mehr mit den noch freien Mitteln der Kapitalerhöhung zu stemmen sein könnte. Mit Sicherheit mit ein Grund, neben den unbestrittenen fachlichen Kompetenzen, warum man sich für Tuchel entschieden hat. Ihm wird man zutrauen, die Mannschaft mit überschaubaren personellen Änderungen und einer nur abgewandelten Spielanlage die Mannschaft wieder in die Erfoglsspur zu bringen.
Die Außendarstellung des BVB seit 2008
Fast noch schwerwiegender ist die Vertragsauflösung für die Außendarstellung des BVB. Erinnern wir uns an die Zeiten zwischen 2005 und 2007. Wofür stand der BVB? Welche Philosophie verfolgte er? Welches Image hat man mit dem BVB verbunden? Die Frage nach der Philosophie beantwortet sich am schnellsten dadurch, dass man bei der Trainersuche zwischen Felix Magath und Thomas Doll wählen wollte. Es gab schlichtweg keine Philosophie. Der arrivierte, bei den Bayern entlassene Magath und der junge, in Hamburg letztendlich erfolglose Doll – gegensätzlicher hätten die Kandidaten kaum sein können. Dafür hatten wir ein klar umrissenes Image im deutschen Fußball. Wir waren der gefallene Champions League-Sieger, die Geldvernichtungsmaschine und der Beinahebankrotteur.
Und dann kam Klopp. Es ist nur ein Gerücht, dass es in der Marketingabteilung von Borussia ein kleines Kämmerchen mit einem Altar gibt, vor dem jeder morgens ein kleines Dankgebet für diesen Tag gesprochen hat. Ein Trainer, der Sachen sagt wie „Wir sind alle ein bisschen verliebt in diesen Verein“. Der aus dem Stehgreif ein comedyreifes Interview mit Arnd Zeigler in die Kamera spricht. Ein Trainer, der einerseits wirklich simpelste Fußballweisheiten, die jeder Fan versteht, wie Leidenschaft, Füreinander da sein und Laufbereitschaft propagiert und andererseits seiner Mannschaft Fähigkeiten vermitteln kann, die sie innerhalb von drei Jahren von einem Anwärter auf die Europa League zum Meister, Pokalsieger und Europapokal-Finalisten macht. Jürgen Klopp war (und wird es bis in alle Ewigkeit bleiben) ein gigantischer Glücksfall für uns und der BVB hat bei dieser Chance beherzt zugegriffen.
Der BVB hatte auf einmal eine Philosophie. Er wollte für Authentizität stehen, für Leidenschaft, für das Unbekümmerte, für Bescheidenheit, aber mit einem etwas frechen Unterton. Für das Menschelnde im Profifußball. Passend dazu wandelte sich auch das Image radikal. Borussia Dortmund stand auf einmal für ehrliche Arbeit, gepaart mit hoher Emotionalität und Einsatzbereitschaft. Ein kleiner, romantischer Nachhall der „guten, alten Zeit“. Innerhalb kürzester Zeit hatte man an der Strobelallee eine Marketingstrategie, wie man sie sich besser nicht hätte wünschen können. Man mag Erhebungen über Sympathiewerte belächeln, aber nicht zuletzt die explodierenden Mitgliederzahlen des BVB in den letzten Jahren zeugen davon, dass man extrem erfolgreich war. Natürlich wird die Mehrzahl der Neumitglieder wegen besserer Chancen auf Eintrittskarten dem Verein beigetreten sein, aber sie sind da und wollen den BVB sehen.
Das Ganze hat nur ein Problem: es ist alles eng auf Jürgen Klopp als Repräsentanten zugeschnitten. Könnte sich jemand Thomas Tuchel, dessen letztes Jahr in Mainz auch eher unrühmlich verlief, als Vertreter von „Echte Liebe“ vorstellen? Lucien Favre mit einem „Adrenalin“-Energydrink in der Hand? Pep Guardiola, der nur von Spiel zu Spiel denkt, als wenn mit seinem Namen nicht ganz klare Titelanforderungen verknüpft wären? Klopp kann das alles. Er ist der Allrounder, während mit anderen Trainern, mögen sie fachlich noch so gut sein, eine derartige Strategie nicht umsetzbar gewesen wäre.
Aber mit dem 30.06. ist dieses Bindeglied weg und die Frage ist: Wofür steht der BVB dann? Schafft er es, sowohl Philosophie als auch die Außendarstellung den geänderten Bedingungen anzupassen oder gar deutlich zu ändern, nachdem das wichtigste Puzzlestück entfernt ist? Irgendwann wäre dieser Punkt zwangsläufig gekommen, aber die Vorstellung war wohl, dass man sich ein Jahr vor Vertragsende zusammensetzt und ihn entweder verlängert oder ganz geordnet auslaufen lässt. Man hätte Zeit gehabt und alles in andere Bahnen lenken können. Das jetzt eingetretene Szenario wird niemand wirklich auf dem Schirm gehabt haben und die Ratlosigkeit, wie man damit umgehen soll, wird entsprechend groß sein. Mögen Tuchel und Klopp bei der Auffassung von Fußball nah beieinander liegen, so sind sie gänzlich unterschiedliche Typen. Hier kann er Jürgen Klopp kaum eins zu eins ersetzen.
Chance und Risiko
Auch für Thomas Tuchel wird das eine gewaltige Herausforderung. Er wird sich zwangsläufig Vergleichen mit Jürgen Klopp stellen und mehr leisten müssen, als „nur“ ein guter Trainer zu sein. Wo man ansonsten bei Antritt eines neuen Jobs Orientierung durch den neuen Arbeitgeber erwartet, wird „der Neue“ auf einen BVB treffen, der selbst etwas orientierungslos und verunsichert ist und seinen neuen Weg sucht. Was er nicht haben darf, ist Angst vorm Scheitern. Das ist leider ein nicht unwahrscheinliches Szenario. Werder Bremen irrlichterte von Aad de Mos über Dixie Dörner hin zu Wolfgang Sidka, bis man sich gefangen hatte, in Manchester scheiterte Moyes ebenso krachend als Nachfolger von Ferguson wie in Dortmund Nevio Scala nach Ottmar Hitzfeld. Der AJ Auxerre dümpelt gar mittlerweile im Mittelfeld der Ligue 2. Das ist der Nachteil prägender Trainerfiguren, sie hinterlassen ein schweres Erbe.
Allerdings könnte gerade die sportliche Situation, die die Entwicklung in Gang gesetzt hat, auch den Übergang erleichtern. Anders als beispielsweise eben jener Nevio Scala übernimmt Tuchel keine Mannschaft voller „bester Spieler in Europa“, sondern eine, die eine absolut veritable Bruchlandung hingelegt hat. Gestartet mit dem Ziel, sich mindestens als Nummer zwei hinter den Bayern einzuzementieren mit leichtem Blick auf die Meisterschale bis hin zum zwischenzeitlichen Tabellenletzten. Absteigen wird der BVB nicht mehr, aber das wird nichts daran ändern, dass die Saison 2014/2015 das Prädikat „sportlich äußerst dürftig“ erhalten wird. Es gibt in der Mannschaft keine heiligen Kühe mehr. Keine Spieler, die der zukünftige Übungsleiter auf keinen Fall verkaufen darf. Er kann jetzt ihm notwendig erscheinende Korrekturen am Kader vornehmen und bei jedem Spielerverkauf mit sportlichen Gründen argumentieren. Eine echte Chance.
Egal wie es ausgehen wird, es wird enorm spannend, wie man beim BVB mit der unerwarteten Situation eines vorzeitigen Abgangs von Kloppo umgehen wird. Es gibt viele Fragezeichen, die die Herren Watzke, Tress, Zorc und Tuchel in kürzester Zeit zu lösen haben und keines davon wird leicht werden. Und auch die Fans stehen vor einer großen Aufgabe. So sehr man Jürgen Klopp auch ins Herz geschlossen hat, mit dem Saisonende muss realisiert werden, dass er nicht mehr unser Trainer ist. Ständige Vergleiche mit ihm und eine Erwartungshaltung, dass sein Nachfolger die einzigartige Erfolgsgeschichte wiederholt, sind eine Hypothek, die niemand stemmen kann und ein Scheitern wäre vorprogrammiert. Empfangen wir Tuchel freundlich und geben ihm eine faire Chance. Nur so kann die Uhr in Dortmund nach der Stunde null weiterticken.