Lieber Marcel Reif,
Sie wurden in den vergangenen Tagen gleich zweimal von Fans in einer Weise angegangen, die ich nur als beschämend bezeichnen kann. Leider waren in beiden Fällen Fans des BVB beteiligt, was mir am allerwenigsten gefallen hat. Niemand ist stolz auf derartige Attacken, insbesondere wenn sie wie in Dresden aus dem sicheren Schutz eines abgesperrten Bereichs kamen und Sie diesen im Innenraum hilflos ausgeliefert waren. Ich hoffe, dass sich derartige Vorkommnisse nicht mehr ereignen werden – weder in Dortmund, noch an einem anderen Ort. Doch finden Sie nicht, dass Ihre zuletzt geäußerte Kritik auch ein gutes Stück über das Ziel hinausgeschossen ist?
Dank herausragender Leistungen von Kommentatoren wie Ihnen ist der Fußball rund um die Jahrtausendwende vom einstigen Proletensport zu einem Medienereignis gewachsen, das jedes Jahr neue Zuschauerrekorde erzielt. Wer von uns erinnert sich nicht mit einer Gänsehaut an den Torfall von Madrid oder das grandiose Scheitern des FC Bayern im Champions League Finale von Barcelona? Sie erhielten für Ihre Leistungen einen Grimmepreis, wurden zu TV-Shows eingeladen und selbst zu einem Star, dessen Worte für viele Menschen Gewicht hatten und bis heute haben. Dabei beschränkten sich Ihre Einlassungen nicht nur auf das Sportliche, sondern reichten weit in die gesellschaftspolitische Sphäre hinein – Ihre Äußerungen zum Antisemitismus, den Sie am eigenen Leib erfahren mussten und der Ihr Leben prägte, brachten das Thema vielen Menschen nahe und waren damit ein Gewinn für uns alle. Natürlich mussten Sie die Zahl Ihrer einstmals witzigen Spielereien („Jetzt holt er auch noch ein Maßband!“) reduzieren, weil Sie selbst ein wenig älter wurden und Ihnen das Publikum diese sympathische Improvisation zunehmend als unprofessionelles Verhalten ausgelegt hätte. Sie waren schließlich zu einem Vorbild geworden, mit allen angenehmen und unangenehmen Begleiterscheinungen.
Leider schienen Sie sich der großen Wucht Ihrer Worte aber nicht immer bewusst zu sein. Wenn Sie von „den unverbesserlichen Idioten“ sprachen, während die Kamera einen ganzen Fanblock in Großaufnahme zeigte, vergaßen Sie gerne einmal, dass jeder Fan des betroffenen Vereins am nächsten Tag eine schwere Zeit am Arbeitsplatz bekommen könnte. Über Jahre hinweg lernten TV-Zuschauer auch aus Ihren Kommentaren, dass etwa der Einsatz von Pyrotechnik bereits als Zeichen von Gewalt und Krawallen zu deuten sei. Auch wenn Sie es nie direkt aussprachen, entstand für TV-Zuschauer der – nachweislich sämtlicher Statistiken falsche – Eindruck, dass Bundesligastadien hochgefährliche Orte seien. Nicht umsonst befürworteten viele TV-Zuschauer, die nie ein Stadion betreten und dies auch nicht geplant hatten, extreme Verschärfungen der Sicherheitsvorkehrungen, die nicht einmal vor der Intimsphäre der Fans haltmachten. Ihre deutliche und undifferenzierte Art kam nicht überall gut an.
Im Sportschau Club und weiteren Interviews erklärten Sie nun, auf eine Anzeige gegen die eindeutig über TV-Bilder identifizierbaren Täter aus Dresden verzichten zu wollen, obwohl Sie beim Blick in die „hasserfüllten Fratzen“ „Angst um Leib und Leben“ hatten. Und weil Sie Ihre beiden Kinder nicht mehr sorgenfrei mit ins Stadion nehmen könnten, forderten Sie den BVB auf, besondere Maßnahmen zu Ihrem Schutz zu ergreifen. Mit anderen Worten: Sie hielten nichts von einer Strafverfolgung der verantwortlichen Täter, erweckten aber ohne mit der Wimper zu zucken den Eindruck, ein Stadionbesuch in Dortmund könne für Sie und Ihre Familie lebensgefährlich sein. Halten Sie das nicht für ein bisschen dick aufgetragen? Zumal sich Ihre eigene Darstellung vor wenigen Tagen noch ganz anders angehört hatte. So schrieb Die Welt, die am Sonntag über den Vorfall mit Ihrem Auto berichtete: „Er selbst gibt sich rückblickend gelassen, alles halb so wild, Business as usual. ‚Wenn die nicht rütteln, nicht auf das Auto schlagen, dann hätten wir eine neue Qualität‘, sagt er. (…) Die Szenen in Dortmund sind für ihn okay, alles im Rahmen. Er scherzt: ‚Weil beide Fanlager über uns hereinbrachen, können wir von einem überparteilichen und objektiven Akt sprechen.‘“
Nicht genug, dass Sie diese zu einer Einordnung der Vorfälle unverzichtbaren Aussagen im Sportschau Club außen vor ließen. Doch finden Sie es vor diesem Hintergrund nicht auch seltsam, eine mit Augenzwinkern versehene Bemerkung von Jürgen Klopp als Beitrag zur Eskalation zu brandmarken und vor einem Millionenpublikum in Zweifel zu ziehen, ob Klopp den Vorfall nicht doch habe mitbekommen und die Schwere des Vorfalls besser einschätzen können? Gerade von einem Medienschaffenden, der vor deutlichen Worten bislang selten zurückschreckte, hätte man an dieser Stelle ein weniger beleidigtes Verhalten erwarten können. Wer einem Zuschauer ein herrisches „Du säufst zu viel“ mit auf den Weg gibt und einem Kollegen „Schleich Dich, Arsch!“ zuruft, Begriffe wie „Wichstheater“ und „Geschwuchtel“ über offene Mikros jagt oder sich ins Reich der Schimpansenzüchtung verirrt, sollte einen persönlichen Spruch schon mal einstecken können. Und unter uns: „Deplatziert bis verantwortungslos“ waren nicht nur die humoristischen Einlassungen Klopps, sondern – wie oben gesehen – auch Ihre eigenen.
Die Vorkommnisse in Dortmund und Dresden lassen sich nicht rechtfertigen oder schönreden. Und doch haben Sie, Herr Reif, es nun in der Hand. Sorgen Sie dafür, dass diejenigen Fans zur Rechenschaft gezogen werden, die Sie in Dresden attackierten – oder lassen Sie es bleiben. Aber machen Sie nicht Jürgen Klopp, Borussia Dortmund oder die BVB-Fans in ihrer Gesamtheit dafür verantwortlich, dass eine Hand voll Fans ihre Grenzen überschritten hatte. Denn gerade diese Kommentare sind es, die den wirklich Wahnsinnigen eine Legitimation geben.
SSC, 05.03.2015